Menschen im Hostel

Mit „Helligkeit fällt vom Himmel“ liegt auch James Tiptree jr. zweiter großer Science-Fiction-Roman vor

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Science Fiction, schrieb Ruth Klüger in ihrem berühmten Aufsatz Frauen lesen anders, sei „eine literarische Gattung, die nicht unbedingt trivial sein muß und die auch Frauen lesen und schreiben, aber dann meistens als Utopien und Dystopien, also Bücher, die von gelungenem oder mißlichem menschlichem Zusammenleben handeln“.

Obgleich ihre SF-Geschichten nur höchst selten gut ausgehen, schrieb James Tiptree jr. zwar nicht unbedingt Dystopien – und Utopien schrieb sie schon gar nicht. Wohl aber schrieb sie Science Fiction, die vom Zusammenleben zwischen Menschen, und auch von demjenigen zwischen Menschen und Aliens, handelt. Um beides geht es in Helligkeit fällt vom Himmel, dem letzten von nur zwei Romanen der auf SF-Kurzgeschichten spezialisierten Autorin.

Ein zufällig zusammengewürfelter TouristInnentrupp, ausnahmslos Menschen, mietet sich in dem Hostel des ebenso abgelegenen wie idyllischen Planeten Damien ein, um ein einmaliges, spektakuläres Himmelsphänomen zu beobachten. Unter ihnen befindet sich ein fast noch kindlicher Thronfolger des Planeten Pavo, ein Künstler und Lichtbildner sowie ein emeritierter Neokypernetiker. Einige der Ankömmlinge haben allerdings kein rein touristisches Interesse. Da ist etwa eine aus vier jugendlichen SchauspielerInnen bestehende Gruppe vom Planeten Gridworld mit ihrem Regisseur, der zugleich sein eigener Kameramann ist. Sie wollen vor der schönen Kulisse einen Pornofilm drehen. Lady Pardie wiederum ist gekommen, weil sie sich von dem einzigartigen Himmelsphänomen Heilung für ihre komatöse Zwillingsschwester verspricht. Zwei der Reisenden, ein Wasserwelten erforschender Student und ein Vertreter der Vereinigung der Aqualeute, wollten eigentlich gar nicht nach Damien, sondern sind vor der Landung versehentlich aus dem Kälteschlaf aufgeweckt worden und mussten daher notgedrungen auf dem Planeten bleiben. Auch die Logistikoffizierin des Raumschiffes ist zurückgeblieben, als es wieder abhob. Wie sich herausstellt, sind nicht alle, was sie vorgeben zu sein, nicht alle führen Gutes im Schilde und nicht alle werden überleben.

Dabei wurde den TouristInnen die Reise erst nach umfangreichen Sicherheitschecks erlaubt. Denn auf dem Planeten wurden vor einigen Generationen unvorstellbare Gräuel begangen. Sie waren von Menschen zu verantworten und sind als „Sternentränen-Tragödie“ in die Geschichtsbücher eingegangen. Damals verübten ebenso profitgierige wie gewissenlose menschliche Verbrecherbanden über einen langen Zeitraum hinweg um des Profites willen unbeschreibliche Grausamkeiten an den Dameii, „eine der anmutigsten humanoiden Rassen, auch wenn sie tatsächlich von pseudoinsektoiden Formen abstammen“. Vor etwa drei Generationen wurde dem Grauen von wiederum menschlicher Seite ein Ende gesetzt. Seither leben nur noch drei Menschen auf dem Planeten, um ihn zu bewachen und die Dameii zu beschützen, indem sie jederzeit einen Notruf an die Menschenflotte absetzen können. Zwei von ihnen sind die miteinander liierten Förderationsadministratorin Cory und ihr Stellvertreter Kip. Bei ihnen lebt der Arzt und Xenopathologe Bram. Über ihre eigentliche Aufgabe hinaus versuchen die drei einen freundlichen Kontakt zu den verständlicherweise sehr ängstlich und zurückhalten auf die Menschen reagierenden Dameii aufzubauen. Und tatsächlich hat sich eine einheimische Familie in einem Baum des nahegelegenen Wäldchens angesiedelt. Für die erwarteten zehn TouristInnen, aus denen nun dreizehn wurden, haben die drei WächterInnen ihr Heim zu einem kleinen Hostel erweitert.

Die Autorin konzentriert ihre Phantasie einmal mehr auf die menschlichen wie nicht menschlichen Figuren und ihre Beziehungen zueinander. Anders als sonst so oft bei Tiptree steht Sexualität diesmal allerdings nicht im Mittelpunkt. Doch Tiptree wäre nicht Tiptree, wenn sie sich für die Dameii nicht eine originelle Variante der Fortpflanzung hätte einfallen lassen. Und sie wäre auch nicht Tiptree, wenn das zerstörerische Böse nicht mit Macht in das Geschehen eingreifen würde.

Für technischen Schnickschnack interessiert sich die Autorin hingegen wenig. Die Technik hat sich – abgesehen davon, dass es interstellare Raumfahrt gibt – in vielerlei Hinsicht seit der Entstehungszeit des Romans in den frühen 1980er Jahren nicht wesentlich weiterentwickelt.

Tiptree erzählt multiperspektivisch, ohne jedoch allen Individuen des umfangreichen Figurenkabinetts in die Seele zu blicken. So verrät sie nicht zu viel vor der Zeit. Die zweite Hälfte des Romans ist ganz überwiegend aus der Sicht nur einer einzigen Person geschrieben. Überhaupt wird ausschließlich aus den Perspektiven verschiedener Menschen erzählt, nicht aber aus denjenigen von Aliens. Dabei ist eine ihnen, Nyil, die aufgeweckte kleine Tochter des nahe der Menschen wohnenden Dameii-Paares die große Sympathieträgerin.

Der Aufbau des Romans lehnt sich in verschiedener Hinsicht an die aristotelische Tragödientheorie an. So werden die Einheit von Zeit, Ort und Handlung gewahrt. Letztere umfasst etwa nur wenig mehr als zwanzig Stunden rund um das erwartete Himmelsereignis und danach. Fein säuberlich in der Mitte, nicht der Handlungszeit, aber des Romans, ereignet sich zudem die überraschende Peripetie und ein „Chaos aus Angst und Schmerz“ bricht in die eben noch friedliche Welt ein. Dass Tiptree all dies im Präsenz statt im Preteritum erzählt, ist etwas gewöhnungsbedürftig. Womöglich hat sich die Autorin gesagt: Wenn die Geschichte schon in der Zukunft handelt, wieso soll sie dann nicht in der Gegenwart erzählt sein?

Ausnahmsweise ist Tiptree die eine oder andere Nachlässigkeit unterlaufen. So reagieren die Dameii derart empfindlich auf Rauch, dass sie schon „in Ohnmacht fallen können, wenn sie in einem Zimmer sind, in dem einige Tage zuvor jemand geraucht hat“. An anderer Stelle wird hingegen gesagt, sie könnten überhaupt nicht in Ohnmacht fallen. Zwar ist die Behauptung, dass Dameii derart rauchempfindlich seien, einer der Figuren in den Mund gelegt, und vielleicht sagt sie nicht ganz die Wahrheit. Vielleicht ist dieser Widerspruch der Autorin aber auch einfach nicht aufgefallen.

Tiptrees letztes großes Alterswerk ist Science Fiction, in der große ethische Fragen behandelt werden, erzeugt den berühmten sense of wonder, bietet ein bisschen Zeitreise und meist nebenbei einige Anklänge an Krimis in Agatha-Christie-Manier mit entsprechendem Spannungsbogen, ohne dass der Roman mit diesem endet. Es treten denkbar üble Verbrecher auf, aber auch Menschen voller Bereitschaft, sich für andere zu opfern. Und für den Sex sorgt nicht zuletzt die Porno-Truppe. Darum zu sagen, es sei für alle etwas dabei und jeder werde nach seinem Geschmack bedient, wäre nicht falsch, würde es nicht so despektierlich nach Ramschladen und Flohmarkt klingen. Mit dem dort üblichen Secondhand-Angebot hat der Roman wirklich gar nichts gemein.

Titelbild

James Tiptree Jr.: Helligkeit fällt vom Himmel. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Andrea Stumpf.
Septime Verlag, Wien 2018.
511 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783902711472

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