Bibliotheksphantasmen

Alberto Manguels elegische Lesewelt

Von Adrian RobanusRSS-Newsfeed neuer Artikel von Adrian Robanus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alberto Manguel ist seit seiner Geschichte des Lesens (1996, deutsche Übersetzung 1998) einem großen Publikum als passionierter Leser und leidenschaftlicher Büchersammler vertraut. Seine aus diesem Buch bekannte riesige Bibliothek ist auch der eigentliche Protagonist von Die verborgene Bibliothek, allerdings in der elegischen Rückschau: Anlässlich von Manguels Umzug von Frankreich nach Kanada wurde die Bibliothek 2015 in Kisten verpackt und lebt seitdem in der Imagination des Autors weiter.

Inspiriert von Walter Benjamins kanonischem Text Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln ist dieses Fortleben Anlass für Manguels Reflexionen, die immer wieder um die Hauptthemen der Bibliothek, des Lesens und des Geheimnisses der Autorschaft kreisen. Ist die Einleitung explizit als „Elegie“ übertitelt, so kann der Ton der zehn folgenden „Abschweifungen“ ebenfalls elegisch genannt werden. Das Abschweifen ist gleichzeitig auch das Formprinzip des Textes: Im Modus der Leseerinnerungen präsentiert, wandert das erzählende Ich Manguels durch seine Bücherwelten und passiert prägnante Momente der (vor allem, aber nicht nur) abendländischen Bibliotheksgeschichte.

Manguel positioniert dabei sein eigenes Verhältnis zu den Büchern als Lust des Besitzes, deren Widerpart die Unlust des Zurückgebens bildet. Er charakterisiert sich als „gieriger Plünderer“, der eine erotisch-fetischisierende Beziehung zu seinen Büchern pflegt. Für den Sammler Benjamin ist „der Besitz das allertiefste Verhältnis […], das man zu Dingen überhaupt haben kann“. Es wird deutlich, dass Manguel sich hier in eine Tradition einschreibt, die versucht, die Lust am Bücherbesitz in Worte zu fassen. Mit Benjamin teilt Manguels Buch auch die messianischen Denkformen: Am deutlichsten, wenn er das Auspacken der Bücher als Geburtsakt und deren Einpacken als „Grablegung in Erwartung eines möglichen Jüngsten Gerichts“ metaphorisiert. Entsprechend einem wirklichen Begräbnis ist das Einpacken der Bibliothek für Manguel extrem affektiv besetzt. Charakteristisch ist dabei seine immer schon literarisch überformte Wirklichkeitswahrnehmung: Nicht die Emotionen selbst, sondern „erinnerte Zeilen über Rache, Wut und Verzweiflung“ durchfluten ihn am Tag des Zusammenpackens. Hier wird literarisch umgesetzt, was an anderer Stelle als Selbstbeobachtung formuliert ist: „Schon immer haben Bücher für mich gesprochen“.

Die elegischen Bibliothekserinnerungen werden mit einem weiten kulturgeschichtlichen Horizont verknüpft. In diesem haben der antike Arzt Galen, die Philosophin und Mathematikerin Hypathia, Christoph Kolumbus und Gershom Sholem ebenso ihren Platz wie Homer, Dante, Nathaniel Hawthorne, Lewis Carroll und Jorge Luis Borges. Diese Verknüpfungen machen den Status der Bibliothek zwischen manifest-materieller und imaginär-virtueller Ordnung deutlich. Manchmal scheint es allerdings, als ob sich der Autor beim Schreiben selbst im Sog des Alles-mit-Allem-Verbindens verloren hätte: Wenn etwa Aristoteles’ Diktum, dass alle Lebewesen außer dem Hahn nach dem Geschlechtsverkehr unglücklich seien, auf die Melancholie der Einsamkeit im modernen Cyberspace bezogen wird, so wirkt das doch sehr gewollt. Nicht alle Verbindungen im kulturellen Netzwerkdenken des Buches sind gleichermaßen gelungen, aber möglicherweise gehört es auch zur Poetologie der Abschweifungen, immer neue intertextuelle Deutungsangebote zu liefern, die nicht alle gleich evident erscheinen. Doch jenseits ihrer Integration in das Narrativ haben viele der Anekdoten des Buches auch schlicht großen Unterhaltungswert, etwa, wenn man erfährt, dass Kolumbus angesichts dreier Seekühe geglaubt habe, Meerjungfrauen zu erblicken – und wegen ihres etwas ernüchternden Aussehens enttäuscht gewesen sei.

Die genealogische Dramaturgie der verborgenen Bibliothek führt von der in Kisten begrabenen Bibliothek des Autors über deren virtuelle Auferstehung in einer Kunstinstallation Robert Lepages zu seiner Berufung als Direktor der argentinischen Nationalbibliothek, einer Position, die einst auch Borges innehatte. Die an diese Funktion anknüpfenden Ausführungen, in denen die Nationalbibliothek als integrierender Ort einer gesamtgesellschaftlichen Gemeinschaft und ihrer Zukunftsutopien beschworen wird, wirken allerdings abstrakt und phantasmatisch. Manguels Pathos der gemeinschaftsbildenden Ethik des Lesens verharrt in einem gewissen Widerspruch zu seiner elitären Leseauffassung, derzufolge „statistisch gesehen Leser – und besonders diejenigen Leser, die zu einer tiefen und kreativen Lektüre fähig sind – nur einen sehr kleinen Prozentsatz der Gesamtbevölkerung ausmachen.“ Dieser fundamentale Gegensatz bleibt unaufgelöst. Hier scheint im Hintergrund die virulente Frage nach der Zukunft der Bibliotheken und des Lesens in Zeiten des medialen Umbruchs auf. Wenn Benjamin bereits 1931 konstatierte, dass über den von ihm beschriebenen Typus des Sammlers die Nacht hereinbreche und er im Aussterben begriffen sei, so lässt sich Manguels Buch auch als Elegie auf eine untergehende Kultur der Bibliophilie und des Lesens verstehen. Der Reiz der Lektüre liegt aus dieser Perspektive bei Die verborgene Bibliothek gerade im nostalgischen – um noch einmal mit Benjamin zu sprechen – „Unzeitgemäßen dieser Passion“.

Titelbild

Alberto Manguel: Die verborgene Bibliothek. Eine Elegie und zehn Abschweifungen.
Mit einer Rede von Walter Benjamin.
Übersetzt aus dem Englischen von Achim Stanislawski.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
185 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783103973693

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