Wahre Geschichten

Zersplittertes Bewusstsein, stillstehende Zeit, trügerisches Gedächtnis: Über Oliver Sacksʼ posthum erschienenes Buch „Der Strom des Bewusstseins“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das, was wir als Wirklichkeit erleben, erscheint uns wie ein Film. Und ebenso umgekehrt: Filme erscheinen uns wie die Wirklichkeit. Denn in beiden Fällen erleben wir das Wahrgenommene als eine kontinuierliche Abfolge von Bildern bzw. Sinnesqualitäten. Bei Filmen, weil bekanntlich Einzelbilder ab einer bestimmten Bildfrequenz (14 bis 16 Bilder pro Sekunde) Bewegt erscheinen. Erst wenn die Frequenz verlangsamt wird, bemerken wir die Illusion, zerfällt für uns der Film in eine Reihe einzelner, wie abgehackt wirkender Standbilder. Gibt es das analoge Phänomen auch im Fall der Wahrnehmung? Anders gefragt, gibt es ein diskontinuierliches Bewusstsein?

Die Leser von Oliver Sacks wissen die Antwort: Schon in seinem Bestseller Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte (1985) schrieb der Neurologe über einen amnestischen Patienten: „Er befindet sich gewissermaßen ständig in der Isolation eines einzigen Augenblicks, umgeben von einem tiefen Graben des Vergessens … Er ist ein Mann ohne Vergangenheit (oder Zukunft), der in einer sich fortwährend wandelnden, bedeutungslosen Gegenwart gefangen ist.“ Dem in seiner Gegenwart gefangenen Amnestiker kann man nun noch einmal wiederbegegnen, im wohl letzten Buch des weltberühmten Neurologen, das dem Rätsel des menschlichen Bewusstseins gewidmet ist: von der Zersplitterung der Wahrnehmung unter Drogeneinfluss oder bei bestimmten neurologischen Erkrankungen über das Erleben von Zeit („wenn man sich langweilt, ist einem möglicherweise nichts anderes bewusst als die Zeit“) bis hin zum Gedächtnis.

Letzteres sei mitunter so trügerisch, dass es uns unmöglich sei, echte von eingebildeten Erinnerungen zu unterscheiden, glaubt Sacks: „Es gibt offenbar keinen Mechanismus im Verstand oder im Gehirn, der die Echtheit, oder zumindest die wahrheitsgemäßen Eigenschaften, unserer Erinnerungen gewährleisten kann. Wir haben keinen direkten Zugang zu historischer Wahrheit […]. Unsere einzige Wahrheit ist die narrative Wahrheit, die Geschichten, die wir einander und uns selbst erzählen – die Geschichten, die wir beständig neu kategorisieren und verbessern.“ 

Der Strom des Bewusstseins ist eine Sammlung von zehn Aufsätzen, zum Teil bereits in The New York Review of Books erschienen, an der Oliver Sacks bis zu seinem Tod im Jahr 2015 im Alter von 82 Jahren gearbeitet hat. Wie sehr ihm das Schreiben in seiner letzten Lebensphase, nach seiner neuerlichen Krebserkrankung geholfen hat, erfährt man etwa in dem Kapitel „Ein gestörtes Gemeingefühl“. Darin erzählt der Neurologe mit der ihn auszeichnenden Faszination und Neugier, wie er in Folge einer speziellen Behandlung seiner Leber-Metastasen zuerst „unter einer nie dagewesenen Müdigkeit“ litt und bei der Korrektur der Fahnen seiner Autobiografie On the Move „manchmal mitten im Satz einschlief, den Kopf schwer auf dem Schreibtisch, die Hand den Federhalter umklammernd“ – und wie dann nach einigen Tagen die Wende eintrat und er plötzlich von physischer und kreativer Energie regelrecht erfüllt war.

Gerade der Aspekt Kreativität gehört zu den wiederkehrenden Themen dieser letzten Arbeiten des Neurologen. Sacks betont dabei, wie sehr Originalität und Genialität einerseits von Input, von vielfältigen äußeren Einflüssen und Anregungen abhängen – andererseits aber eben auch von gezieltem Vergessen und einer Art „Inkubationszeit“, einer Latenzphase, in der das Unbewusste aus dem vorhandenen Material etwas Neues entstehen lassen kann. Nicht zufällig gehört neben Charles Darwin (den man in diesem Buch dank Sacks als großen Botaniker kennenlernen kann) und William James mit seiner titelgebenden Metapher vom „stream of consciousness“ gerade Sigmund Freud zu Sacksʼ wiederkehrenden Gesprächspartnern.

Und dies natürlich nicht nur, weil der Psychoanalytiker als einer der ersten eine dynamische Auffassung von Psyche und Gedächtnis vertrat, sondern auch weil er ein Meister der medizinischen Fallgeschichte war. Ein Genre, das Oliver Sacks seit den 1970er Jahren wie kein zweiter wiederbelebt hat und an dessen Wert für die Forschung er im letzten Aufsatz des Buches mit dem Titel Blinde Flecke, Vergessen und Vernachlässigen in der Wissenschaft nachhaltig erinnert. Es ist ein Beitrag über die – manchmal tragischen – Umwege, die der wissenschaftliche Fortschritt mitunter im Zeichen eines veralteten Paradigmas einschlägt. Ob es um Sacks‘ Forschungen zur Migräne, zum Tourette-Syndrom oder zu den Phantomgliedern ging, stets wusste die zeitgenössische, „moderne“ Medizin dazu wenig zu sagen, aber umso mehr jene Fallgeschichten aus dem 18., 19. und auch noch frühen 20. Jahrhundert, die Oliver Sacks in medizinischen Bibliotheken wiederentdeckte:

Wenn man sich die Krankenberichte der Patienten ansieht, die in den 1920er und 1930er Jahren in staatlichen Krankenhäusern und Heimen stationär behandelt wurden, findet man außerordentlich detaillierte klinische und phänomenologisch Beobachtungen, die oft in Erzählungen von fast romanhafter Vielfalt und Dichte eingebettet sind (…). Mit der Einführung der strengen diagnostischen Kriterien und Handbücher (die Diagnostic and Statistical Manuals oder DSMs) sind Vielfalt, Liebe zum Detail und phänomenologische Offenheit verschwunden. Stattdessen findet man spärliche Anmerkungen, die kein wirkliches Bild des Patienten oder seiner Welt vermitteln und seine Krankheit auf eine Liste von ‚größeren‘ oder ‚kleineren‘ diagnostischen Kriterien reduzieren. Heute haben die Krankenberichte in psychiatrischen Krankenhäusern die Informationstiefe und -dichte ältere Berichte fast ganz verloren und werden uns kaum dabei helfen, jene Synthese aus Neurowissenschaft und Psychiatrie zustande zu bringen, die wir dringend brauchen. Aber die ‚alten‘ Fallgeschichten und Krankenberichte werden auch weiterhin unentbehrlich sein.

Das stimmt – auch und vor allem für Oliver Sacksʼ  eigene Fallgeschichten.

Titelbild

Oliver Sacks: Der Strom des Bewusstseins. Über Kreativität und Gehirn.
Übersetzt aus dem Englischen von Hainer Kober.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017.
353 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783498064341

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