Verschwinden im eigenen Werk

Zu Gerhard Köpfs Roman „Außerfern“

Von Friedrich VoitRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friedrich Voit

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anlässlich des bevorstehenden 70. Geburtstags von Gerhard Köpf am 19. September veröffentlicht der Wiener Braumüller Verlag, in dem 2017 Köpfs Roman Das Dorf der 13 Dörfer erschienen ist, dessen Erstlingsroman Innerfern von 1983 und das neue Buch Außerfern. Beide Romane – die Titel deuten es an – sind bewusst aufeinander bezogen: Innerfern spielt in der gleichnamigen, auf keiner Landkarte verzeichneten Allgäuer Landschaft, an die der ganz reale Tiroler Bezirk Außerfern grenzt. Der neue Roman ist in der Nachbarschaft des imaginierten Thulsern angesiedelt, jener voralpinen Gemeinde, deren Menschen und Leben Köpf seit seinen Anfängen in den 1980er Jahren entworfen und zu einem Spiegel der Zeit weit über die Region hinaus gestaltet hat.

Mit seinen in rascher Folge in führenden Literaturverlagen vorgelegten Büchern gehört Köpf zu den repräsentativen Autoren seiner Generation. Er wurde mit einer Reihe wichtiger Preise ausgezeichnet und seine Bücher sind in mehrere Sprachen, vor allem ins amerikanische Englisch übersetzt. Nach der Jahrtausendwende aber kam es zu einem Bruch. Eine schwere, langjährige Erkrankung seiner Frau führte zur Aufgabe der germanistischen Professur an der Universität-Gesamthochschule Duisburg, die Folgen eines selbst erlittenen Unfalls brachte eine Hinwendung zur Medizin und Psychiatrie. Köpf hörte jedoch keineswegs auf zu schreiben. Neben literarische Arbeiten traten nun auch medizinisch-psychiatrische, so etwa 2006 das Kompendium ICD-10 literarisch. Ein Lesebuch für die Psychiatrie. Als einschneidender aber erwies sich wohl, dass Köpfs literarische Bücher wie die Sammlung  Die Vorzüge der Windhunde. Essays gegen das Vergessen (2004), die Novelle Ein alter Herr (2006) oder der selbstironische Roman Käuze in Pfeffer und Salz (2008) im neuen Jahrhundert in kleineren Verlagen herauskamen; schließlich veröffentlichte Köpf seine Essays, Feuilletons und Erzählungen sogar im Selbstverlag. Das führte dazu, dass Köpfs Arbeiten, nun weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit das Licht der Welt erblickten und kaum mehr von der Literaturkritik in meinungsprägenden Medien wahrgenommen wurden. Wer sich das Vergnügen leisten wollte, die neuen und keineswegs weniger anregenden Arbeiten wie etwa die wunderbare Erzählung um Eduard von Keyserling Als Gottes Atem leiser ging (2010) oder die Essays in M. Ein Fahrtenbuch (2015) zu lesen, um nur zwei Titel herauszugreifen, musste ihnen geradezu nachspüren. Dennoch setzte und entfaltete Köpf sein Schreiben fort. Vor diesem skizzierten Hintergrund bleibt zu hoffen und zu wünschen, dass die breitere Resonanz, die der Roman Das Dorf der 13 Dörfer im vergangenen Jahr fand, sich mit der Wiederveröffentlichung von Innerfern und der Neuerscheinung Außerfern fortsetzt und verstärkt; so könnte das vielseitige und von unverwechselbarer Sprachkraft geformte Werk des Erzählers und Lesers Köpf wieder sichtbarer gemacht und einem breiteren Lesepublikum näher gebracht werden.

Ein Schritt in diese Richtung ist die Neuausgabe von  Köpfs literarischem Debüt Innerfern, jener ebenso schönen wie ungewöhnlichen literarischen Hommage auf die Schriftstellerin und Fotografin Ilse Schneider-Lengyel, zu dem sich nun  Außerfern als neue Facette in Köpfs Œuvre fügt. Der jüngste Roman wird, wie so oft bei Köpf, als Geschichte aus gefundenen und erfundenen Geschichten und auf verschiedenen narrativen Ebenen erzählt. Im Mittelpunkt steht eine Schelmenfigur, die sich im Ausgang des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Crossdresser mit Schläue und Geschicklichkeit durchs Leben schlägt, während der auch für Tirol turbulenten und riskanten Jahren der Koalitionskriege, als Andreas Hofer mit seinen Gefährten  gegen Franzosen und Bayern rebellierte. Der „Ausgangspunkt“, der den Erzähler auf diese Geschichte stoßen ließ, ist ein seine Neugier erweckendes Angebot eines anonym erschienenen, in Menschenhaut gebundenen Buchs, auf das er vor einigen Jahren  in einem Katalog eines Luzerner Antiquariats gestoßen war. Köpf-Leser kennen dieses Buch bereits aus einer Erzählung und aus dem Roman Der Weg nach Eden von 1994. Die Suche nach diesem merkwürdigen Buch führte dort bis in eine Bibliothek im fernen Neuseeland. Neue Indizien zu einem möglichen Verfasser und ein Hinweis darauf, dass das Buch über verdeckte online-Verkäufe wieder nach Europa gelangt sei, werden in Außerfern  aufgegriffen, auf plausibel verschlungene Weise weitergeführt und mit der Lebensbeschreibung des Tiroler Diebs und Schelmen Marandjosef verknüpft. Schließlich wird die Suche zu einem überraschenden, ebenso phantastischen wie möglichen Abschluss gebracht. 

Von einem Amsterdamer Buchauktionator nämlich erfährt der Erzähler den Namen eines Tierpräparators, der angeblich der Verfasser des besagten Buches gewesen sei und dessen Lebensbeschreibung enthalte. Er habe bestimmt, dass diese nach seinem Tod in seine eigenen Haut gebunden werden sollte. Der Auktionator vermutet jedoch als Verfasser nicht einen letztlich wenig interessanten Präparator, sondern einen Tiroler Einsiedler, da man das Buch bei Ausgrabungen in der Ehrenberger Klause bei Reutte gefunden habe. Bei einem Besuch in Innsbruck dann lernt der Erzähler den eigenwilligen und auf vielen Gebieten beschlagenen Buchhändler Leander Gescheidt kennen (ein Geistesverwandter des Buchhändlers Hemingstein aus Papas Koffer, 1993), der in seiner Buchhandlung Publiziertes und Unpubliziertes hortet. In ihm, mit dem er seine Suche bespricht, findet der Erzähler einen kongenialen Gehilfen. Gemeinsam stöbern sie in Altfinstermünz im dortigen Außenlager des Buchhändlers tatsächlich einen Karton auf, der Aufzeichnungen und Dokumenten zu einer „Selberlebensbeschreibung“ des Eremiten von Ehrenberg enthält, doch nicht das gesuchte Buch. Bei dem Einsiedler handelt es sich, wie sich herausstellt, um keinen anderen als jenen 1785 in Vils geborenen Wirtssohn, der einst als Dieb Marandjosef in der Region notorische Berühmtheit und volkstümliches Ansehen besessen hatte. Gemeinsam machen sich der Erzähler und der Buchhändler nun daran, dessen abenteuerliche Lebensgeschichte anhand des aufgefundenen Materials zu imaginieren und nachzuerzählen.

Seinen Spitznamen verdankt der Marandjosef dem Ausruf der Mutter bei der Geburt des „Hänflings“. Physische Schwächlichkeit und mädchenhaftes Aussehen machen ihn schon früh zum Außenseiter, wobei ihm seine Cleverness und seine Vorliebe für Frauenkleider den Weg zur eigenen Lebensweise und zur Unabhängigkeit weisen. Für eine Existenz als Bauer oder Soldat ist Josef nämlich nicht kräftig genug, eine Existenz als Wirt erscheint ihm zu bürgerlich. Unter dem Namen Mara wird er zum Dieb in Frauenkleider. In Männerkleidung wechselnd, taucht er nach Diebstählen unter und wird, sofern man ihn erwischte, als Josef bestraft. Zeitweise verdingt sich Marandjosef als Magd oder Haushälterin, lernt Kochen und kommt so über die Jahre in ganz Tirol herum – den Fernpass „hinauf und hinunter“. Episoden aneinanderreihend entsteht, bereichert durch historische Exkurse und geografische Beschreibungen des Erzählers, ein lebendiges, dabei ganz unromantisches Zeitbild, das hier und da auch zur Gegenwart des Erzählers in Bezug gesetzt ist. Marandjosefs Diebskarriere kommt 1813 zu einem Ende, als er nach einem Kirchendiebstahl zu lebenslanger Haft auf der Festung Fernstein bei Nassereith verurteilt wird. Nach langer Haft – er ist inzwischen der einzige verbliebene Gefangene und dient dem Festungskommandanten als geschätzter Koch und Majordomus – wird er vom Kaiser begnadigt. Als Einsiedler bezieht er daraufhin die Klause in Ehrenberg, wo er „gottgefällig“ sein Leben beschließen möchte. Ein Zubrot verdient er sich, indem er bereitwillig, wo immer ein Ohr sich findet, seine Abenteuer und Taten erzählt. Gelegentlich zieht er sogar wieder Frauengewänder an. Seine zunehmende Popularität und Berühmtheit nutzend, engagiert man ihn schließlich als Touristenattraktion: als „Schmuckeremit“ – nach englischem Vorbild.

Wie es zum Auffinden des „Hautbuchs“ kommt – erneut belebt Köpf dabei eine Figur aus einem früheren Roman –, sei nicht verraten. Doch wie der Erzähler versichert, war die Suche nach dem Buch kein „blindes Motiv“. Das Buch enthalte „einerseits – ja, andererseits – nein“ durchaus die Lebensgeschichte des Tiroler Diebs Marandjosef, aufgehoben in der emblematischen Geschichte vom Künstler, der in seinem eigenen Werk verschwindet.

Geneigte Leserinnen und Leser, die bereit sind, sich auf solche vielgestaltige Lektüre und auf das variantenreiche narrative Spiel einzulassen, das wie immer bei Köpf auch hier mit ihnen getrieben wird, kommen bei dem neuen Roman wieder ganz auf ihre Kosten. Sie mögen sich sogar versucht fühlen, früher von Köpf Gelesenes erneut aus dem Regal zu greifen oder sich noch nicht Gelesenes zu besorgen. Es bleibt dabei: „Köpf ist der Konjunktiv von Kopf.“

Titelbild

Gerhard Köpf: Außerfern. Roman.
Braumüller Verlag, Wien 2018.
134 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783992002122

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch