Die Vermessung der Distanz

Drei Erzählungen von Nanae Aoyama

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nanae Aoyama (青山 七恵), Jahrgang 1983, ist eine japanische Autorin der 2000er Generation – eine repräsentative Vertreterin der Heisei-Literatur (Heisei bungaku), Trägerin des renommierten Akutagawa-Preises von 2006. Sie zeichnet sich wie einige andere, manchmal „Girlie-Autorinnen“ genannte Schriftstellerinnen, deren Arbeiten etwa zwei Dekaden nach dem Debut von Literaturgrößen wie Banana Yoshimoto und Yôko Ogawa ihren Weg in den japanischen Literaturmarkt fanden, durch ein sicheres Gespür für die poetische Textur ihrer Geschichten aus. Ebenso durch einen Sinn für das Enigmatische und eine Begabung für das Erfassen wesentlicher Momente eines Menschen. Der nun in deutscher Übersetzung erschienene Band Bruchstücke enthält drei kürzere Erzählungen Aoyamas, darunter den titelgebenden Text, im japanischen Original aus dem Jahr 2008 Kakera, sowie Farinas Zimmer und Wildkatzen, beide 2009.

Der vergessene Tadao Endo

Ein durchschnittlicher japanischer Vater hat keinen leichten Stand in seiner Familie. Als Angestellter gesellt er sich frühmorgens in die Reihen anderer Anzugträger, um seinen Pflichten in der Firma nachzukommen. Zu Hause ist er selten präsent. Wenn er nicht Schlaf nachholen muss, unternimmt man vielleicht etwas an den Wochenenden. Über die Jahre hinweg passt sich solch ein Vater an die Anforderungen des Arbeitsumfelds an, so dass er der Familie schließlich wie ein Fremder erscheint. Vor allem zu den Kindern wächst die Distanz. Bruchstücke handelt von der Protagonistin Kiriko Endo, einer jungen Frau, die guten Kontakt mit ihrer Mutter und dem Bruder Eiji pflegt. Mit allen Mitgliedern der Familie zusammen möchte sie eine Kurzreise antreten, doch am Ende findet sie sich allein mit dem Vater im Bus, eine Situation, die ihr wenig behagt. Sie betrachtet Tadao Endo mit kritischem Blick: „Das Poloshirt klebte ihm an der hageren Brust, und die Beine, die aus seiner kurzen Hose herausschauten, schienen so schwächlich, als brauchte man sie nur leicht anzustoßen, um sie zum Kippen zu bringen.“ Früher hatte sie ihren Erzeuger sogar als peinlich empfunden und seine Existenz beinahe völlig ignoriert.

Auf dem Ausflug zu einer Kirschplantage hält sie ihm vor: „Wenn du nicht mehr Kante zeigst, bliebst du nicht einmal uns in Erinnerung.“ Der Papa sei ein schwieriger Mensch, letztlich eben „substanzlos, so total ohne Format, ohne Elan“, berichtet Kiriko ihrem Bruder hinterher, obwohl sie dem Menschen Tadao Endo, der sich der Distanz zu seinen Kindern sehr wohl bewusst ist, während der Fahrt doch auch näherkam. Sie erkannte – etwa als der Vater mit den älteren Frauen der Reisegruppe in eine unerwartete Interaktion tritt –, dass er über reiche Erfahrungen verfügt und vieles weiß, auch wenn er es nicht direkt ausspricht. Kiriko redet zwar, aber ihre Kommentare zeugen nicht von Weltläufigkeit. Besonders aufschlussreich ist in dieser Hinsicht der Pilzdialog (Pilze sind im Übrigen ein relativ häufiges Thema zeitgenössischer Texte japanischer Autorinnen). Der Vater weist Kirikos Kritik an einer schmackhaften Pilzsuppe mit üppiger Einlage, die Suppe enthalte doch nur „komische Pilze“ zurück: „Pilze sind immer komisch.“ Kiriko wendet ein, sie seien „ganz normales Essen“, wird von den Älteren daraufhin aber nur mit mitleidigem Schweigen bedacht. Gewisse Andeutungen entgehen ihr offensichtlich, und insofern ergeben die Eindrücke, die sie im Laufe des Tages sammelt, kein ganzes, kein schlüssiges Bild ihres Gegenübers. Nur vage kann sie Erinnerungen an ihre Kinderzeit hervorholen, in denen die Familie viele harmonische Zeiten erlebt hat. Es sind Erinnerungen, die offenbar im Laufe der Pubertät mit ihren Abgrenzungsbestrebungen in Vergessenheit geraten sind. Vielleicht war der wortkarge Tadao vor vielen Jahren ein liebevoller Vater – und sogar ein anziehender Mann gewesen?

Auch den Leser lässt Aoyama raten: Ob der Ausflug zum Kirigamine-Berg in Nagano nicht von der Mutter gebucht wurde, weil sie dort in ihrer Jugend die erste Begegnung mit Tadao hatte – zumal bei der Exkursion von einer Fahrt auf der landschaftlich schönen „Venusline“ die Rede ist. Welche Bedeutung hat das blaue Haus mit dem großen Rosenspalier, von dem der Vater seiner Tochter berichtet? Ein Sehnsuchtsort, den Kiriko noch nicht wiederzufinden vermag. Und wohin geht der Blick des Vaters auf dem Foto, das Kiriko mit ihrer neuen Kamera unterwegs geschossen hat? Seine Augen richten sich auf einen blassen Stern im Osten: Vermutlich auf die Venus.

Unvergessen

Dem Protagonisten der zweiten Erzählung geht seine ehemalige Freundin Farina nicht aus dem Sinn, eine ungewöhnliche junge Frau mit gewissen Makeln. So hat sie einen eingerissenen Mundwinkel, als ihr Ryosuke zum ersten Mal während eines Kneipenbesuchs mit einer Gruppe von Arbeitskollegen begegnet. Dazu sind ihre Fingernägel zu kurz, vermutlich abgebissen, ihre Schultern wirken „grobknochig“, die Augen sind klein und rund, ihr sonnengebräuntes, nur leicht geschminktes Gesicht erinnert an einen „prallen Sack“, aus dem „an einer Stelle unentwegt Mehl rieselt“. Sofort fragt der Ingenieur sie nach ihrer Telefonnummer, und sie werden kurz darauf ein Paar. Die Beziehung hält allerdings nur zwei Jahre, seit längerem leben sie schon getrennt im selben Mietshaus. Der Mann, dem es vor allem wichtig ist, einen erwachsenen Eindruck zu machen, ist nun im Begriff, Hanako zu heiraten. Alles verläuft den Regeln nach, die Hochzeitsgeschenke sind ausgetauscht, die Zeremonie ist für das kommende Frühjahr geplant. Begeisterung stellt sich bei ihm angesichts dieser zukunftsträchtigen Entwicklungen jedoch kaum ein. Immer wieder wandern seine Gedanken zu der großgewachsenen Farina mit ihrem Arsenal an hochhackigen Schuhen. Die Zukunft hält keine Überraschungen mehr für ihn bereit, scheint allzu „greifbar und kläglich“. Aus seinen zwiespältigen Reflexionen über die Vergangenheit mit Farina lässt sich schließen, dass Ryosuke es versäumt hat, der Frau, die ihn nicht zuletzt aufgrund ihrer besonderen Körperlichkeit und eines eher herben Charakters fasziniert, entschlossener gegenüberzutreten und eben sein Anliegen „erwachsen“ vorzutragen. Farina durch die gefälligere Hanako zu ersetzen, war keine gute Idee.

Die Kunst der Epiphanie

Immer in Erinnerung bleiben wird dem frisch verheirateten Ehepaar Kogire aus Wildkatzen der Besuch der jungen Shiori, dem Kind einer in Okinawa lebenden Verwandten. Shiori, die kurz vor dem Schulabschluss steht, soll sich während des Sommers in Tôkyô ein paar Tage nach einer für sie geeigneten Universität umsehen. Der jungen Ehefrau Kyoko ist zunächst nicht ganz wohl bei dem Gedanken an die ihr mehr oder weniger fremde Cousine aus Iriomote. Kyokos Mann Akihito, Bibliothekar an einer Privatuniversität, ein sehr feiner und hilfsbereiter Charakter, hat nichts gegen den Besuch einzuwenden, zumal die Kogires über ein kleines Extrazimmer in ihrer Wohnung verfügen. Shioris Anwesenheit verunsichert Kyoko aus bestimmten Gründen, die ihr selbst eventuell nicht ganz bewusst sind. Sie wird reizbar. Akihito versucht die Spannung zwischen den beiden auszugleichen und kümmert sich um das Mädchen. Mit ihm an seiner Seite vermag Shiori, bei einem Ausflug auf den Tokyo Tower ihre Höhenangst zu überwinden. Auch sie, mittlerweile Studentin in der Metropole, vergisst die Tage mit den Kogires nicht.

Nanae Aoyama beschwört in der letzten Geschichte ebenfalls ein unbestimmtes Etwas, das sich hinter der Alltäglichkeit der geschilderten Szenen verbirgt. Ein Thema der Erzählungen, die gleichsam eine Wahrnehmungsschulung darstellen, sind Übergänge von einem Status in einen anderen. Meist bedeuten diese Wechselsituationen eine Reifungsforderung für die Protagonisten, wenn sie sie nicht zurücklassen in der monotonen Berechenbarkeit ihres Seins.

Titelbild

Aoyama Nanae: Bruchstücke. Drei Erzählungen.
Übersetzt aus dem Japanischen von Katja Busson und Frieder Lommatzsch.
Cass Verlag, Löhne 2018.
157 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783944751177

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