Zauberberg der Alternativkultur

Stefan Bollmann erzählt in „Monte Verità“, wie Öko-Anarchisten und Barfußapostel im Tessin der vorletzten Jahrhundertwende die Gegenkultur erfanden

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Monte Verità, der Berg der Wahrheit: Der Name ist ein Mythos. Und eine Anmaßung. Sogar eine doppelte. Denn von einem Berg kann natürlich keine Rede sein bei einer Höhe von gerade einmal 321 Metern. Und Wahrheit? Von ihr gibt es so viele, wie dieser legendäre Hügel bei Ascona Wahrheitssucher angezogen hat, nachdem er zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einer Handvoll Aussteiger besiedelt wurde, resümiert Stefan Bollmann. Und das waren, wie das kenntnisreiche Buch des Münchner Autors und Lektors aufführt, sehr viele, man denke nur an Hermann Hesse oder den Anarchisten Erich Mühsam, an den „wilden“ Psychoanalytiker Otto Gross, die Malerin Marianne von Werefkin, die Puppenmacherin Käthe Kruse oder an den Choreografen Rudolf von Laban und seine Schülerin Mary Wigman, die den modernen Ausdruckstanz begründeten. 

Natürlich ist die Geschichte des Monte Verità, der in den Jahren nach 1900 zum magischen Anziehungspunkt für zivilisationskritische Künstler, Literaten und Intellektuelle aus aller Welt wurde, inzwischen gut erforscht und Gegenstand zahlreicher Darstellungen. Stefan Bollmanns lebendig geschriebenes Buch überzeugt zum einen, weil es diese erste moderne Gegenkultur in ihre kulturhistorischen Kontexte einbettet und an Vorläufer wie die Brook Farm bei Boston, die erste sozialutopische Kommune Mitte des 19. Jahrhunderts, erinnert. Zum anderen und vor allem aber belegt Bollmann die vielfältige Wirkungsgeschichte und anhaltende Aktualität dieses „Zauberbergs der Alternativkultur“.

So lassen sich zahlreiche Verbindungen zwischen den Monteveritanern, die von ihren Zeitgenossen als „Kohlrabijünger“ und „Barfußapostel“ bezeichnet wurden, und den Achtundsechzigern finden: Für Stefan Bollmann waren die „Kinder von Sergeant Pepper und Mary Jane zugleich die Kindeskinder des Monte Verità und seiner Bohème“. Was vor über hundert Jahren auf diesem mythenumwobenen Hügel vorgelebt und erprobt wurde, habe jedoch ebenso viele unserer heutigen Versuche zu alternativen Lebensweisen vorweggenommen. Zum Beispiel den Trend zum Minimalismus als Reaktion auf die moderne Überflussgesellschaft, den Karl Gräser, einer der Gründerväter des Monte Verità, bis ins Extrem zelebrierte. Unter primitivsten Bedingungen hauste der entlaufene k.u.k.-Offizier und „Öko-Anarchist“ (Bollmann) mit seiner Frau auf dem Hügel und hatte dabei den Ehrgeiz, alles selbst herzustellen, von den Sandalen bis zu den Stühlen. Nicht nur den Einsatz von Maschinen lehnte Karl Gräser ab, sondern wie sein berühmter Bruder Gusto Gräser – der im Sommer 1902 „gleich das Original“ gewählt und auf dem Monte Verità stilecht eine Felsspalte bewohnt haben soll – auch das Geld, weshalb die Gräser-Brüder zu den Vordenkern der Idee einer „Sharing-Community“ gezählt werden können. Auch wenn Karl auf dem Wochenmarkt seinen Fruchtkäse verkaufte, und zwar „offenbar gegen Geld“, wie Bollmann mit feiner Ironie erinnert.

Aber auch die Ursprünge von Wellness, Körperkult und Schlankheitswahn lassen sich auf dem Hügel finden. „Balabiòtt“ lautete der Spottname der Einheimischen für die Monteveritaner, was so viel wie „nacktes Tanzen“ bedeutet, in Anspielung auf die auf dem Hügel beliebte Freikörperkultur. Wer sich von oben unbekleidet hinunter ins Dorf wagte, wurde mitunter von empörten Einheimischen mit Weidenruten vertrieben, doch wurde der Monte Verità so auch zu einer beliebten Touristenattraktion. Henri Oedenkoven und Ida Hofmann aus der Gründergeneration verkauften im Souvenirladen ihrer Naturheilanstalt sogar Postkarten mit Nacktfotos prominenter Gäste.

Dabei macht Bollmann auf die bislang wenig beachtete Verbindung zur veganen Ernährung aufmerksam, heute einer der Megatrends. Die Monteveritaner nannten den Verzicht auf tierische Produkte „Vegetabilismus“ und verbanden mit ihm mehr als nur die Hoffnung auf ein gesünderes Leben oder die Verringerung von Tier-Leid. Veggie-Pioniere wie Ida Hofmann oder Joseph Salomonson erhofften sich von der Absage an die traditionelle bürgerliche Fleischküche die Befreiung der Frau und das Ende der patriarchalischen Gesellschaft. Was zumindest insofern gelang, als der junge Erich Mühsam angesichts der unablässig zu kauenden Pflaumen und Apfelstücke seine Manneskräfte schwinden glaubte und sich bei erster Gelegenheit hinunter in eine Dorfgaststätte flüchtete.

Apropos Apfel: Dass die Firma Apple einen angebissenen Apfel als Logo hat, geht auch auf den Monte Verità zurück, erfährt der Leser. Denn zu den vielen Wahrheitssuchern, die auf den Berg der Wahrheit pilgerten, gehörte auch der Naturkundler Alfred Ehret, dessen Lehre von einer schleimfreien, auf Obst basierenden Ernährung in den USA der 60er Jahre reüssierte – unter anderem beim jungen Steve Jobs.

Titelbild

Stefan Bollmann: Monte Verità. 1900. Der Traum vom alternativen Leben beginnt.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2017.
315 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783421046857

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