Schluchzlektüre für die empfindsame Mittelklasse

Fünf Erzählungen von Banana Yoshimoto

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einer Zeit, die vermutlich so arm an authentischen Emotionen ist, dass nicht oft genug medial kommuniziert werden kann, wie „emotional“ dieser oder jener Beitrag doch sei – so als ob eine Emotion zu haben ein Umstand sei, den man besonders hervorheben müsse und der unbedingt zu begrüßen wäre – kommt ein Band mit traurigen Geschichten von Banana Yoshimoto gerade recht. Die Autorin bekennt im Nachwort, dass sie bei dieser Erzählsammlung nicht in der Lage war, „die Druckfahnen durchzusehen, ohne weinen zu müssen“.

Ihre Gabe der Tränen an die Leser hat Yoshimoto im japanischen Original 2003 publiziert. Die erste Dekade des 21. Jahrhunderts brachte Japan unter Ministerpräsident Koizumi (2001-2006) neue Härten, die mit dem Stichwort risutora, Reform, einhergingen. Es war eine Zeit des Verlusts und des Bedauerns, dass die besten Jahre nun vorbei sind. In den vorliegenden Erzählungen spiegelt sich diese nationale Trübnis in der Stimmungslage der Protagonisten. Alle müssen sich bevorstehenden Veränderungen stellen. Für diejenigen, die noch das Leben in den besten Phasen der guten alten Shôwa-Ära kannten und die die 1960er und 1970er als Idealbild bewahrten, bedeutet das Shôwa-Kontinuum, betrachtet aus dem Blickwinkel der Heisei-Epoche (1989-2019) mit ihren frühen, tiefgreifenden Schicksalsschlägen (AUM Terroranschlag, Erdbeben von Kôbe), einen Sehnsuchtsort, oft portraitiert als altes Haus.

Reifungsanforderung und Refugium

Der Reigen der unter dem Motto „Erinnerungen aus der Sackgasse“ (japanisch Deddoendo no omoide) versammelten Erzählungen beginnt deshalb wohl auch in einer Retrokulisse, in einem „Geisterhaus“. In diesem bald dem Abriss überantworteten Gebäude nutzen die Ich-Erzählerin Setchan und ihr Bekannter Iwakura die dem Haus verbleibende Frist. Wie die jungen Protagonisten feststellen, hält sich dort auch ein altes Paar auf. Es handelt sich um bereits Verstorbene, die in trauter Zweisamkeit ihren alltäglichen Verrichtungen nachgehen. Nach einem solch idealen Zusammenleben sehnt sich die seelisch lädierte Setchan. Erst vor kurzem musste sie sich von einer großen Liebe trennen. Eine andere, ihre Hilfsbedürftigkeit gebührend zur Schau tragende Rivalin hatte den Geliebten mit Beschlag belegt und ihn schließlich geheiratet. Setchan blieb schwer enttäuscht zurück, einigermaßen skeptisch, was die Zukunft noch bringen würde. Iwakura ist ihr ein guter Kamerad und tröstet sie mit dem Hinweis, der Mann sei einem billigen Trick auf den Leim gegangen und daher ohnehin kein ebenbürtiger Partner. Wie sie entstammt Iwakura einer Familie, die sich der Speiseherstellung widmet und daher eine solide, pflichtbewusste Haltung kultiviert. Um eine Konditorei-Ausbildung zu machen, begibt sich der Freund nach Frankreich. Setchan überlässt sich im weiteren Verlauf der Erzählung dem „gigantischen Fluss des Lebens“, um sich ebenfalls beruflich und persönlich zu entwickeln. Nach einer Phase der Reifung findet sie am Ende ihr Refugium und ein perfektes Glück.

Curry-Attentat im Verlag

Verlagslektorin Matsuoka trifft eine folgenschwere Entscheidung, als sie, getrieben von starkem Hunger, in der Kantine Curry zum Mittagessen wählt. Das Reisgericht war vergiftet – von einem ehemaligen Mitarbeiter des Hauses. Besagter Attentäter war für die Nachwuchsautorinnen von den Frauenuniversitäten zuständig – bis ihn diese Tätigkeit an den Rand des Nervenzusammenbruchs geführt hatte. Er stalkte im Laufe dieser Krise die ihm zugeordnete junge Schriftstellerin, wurde entlassen, um dann die Firma mit der Behauptung zu verklagen, er sei Koautor eines Bestsellers der Autorin. Während Yoshimoto hier recht hintersinnig auf die aktuelle Gemengelage ihres Gewerbes verweist, steht auch in dieser Geschichte eine Trauma-Bewältigung im Mittelpunkt.

Matsuoka muss sich angesichts ihres geschwächten Gesundheitszustandes und daraus resultierenden nervlichen Attacken ihrer Vergangenheit stellen, das heißt ihrer Kindheit, in der sie früh den Vater verlor und möglicherweise von ihrer noch sehr jungen Mutter misshandelt wurde. Erst nachdem diese alte Vergiftung durch eine innerliche Versöhnung mit den Umständen aus ihren Zellen gewichen ist, macht ihre Genesung Fortschritte. Grund dafür ist auch eine Empfehlung eines ihrer Vorgesetzten im Verlag. In dem Zentrum für traditionelle chinesische Medizin, in dem alternative Methoden zur Entgiftung angewandt werden, hatte er sich seinerseits von einer Krankheit kurieren lassen und scheint seitdem „in einem viel größeren Strom zu leben“. Ihr Freund Yûchan trägt zudem entscheidend zur Wiederherstellung Matsuokas bei, da er ihr Sicherheit und das Gefühl von Geborgenheit, Wärme und „Licht“ gibt. Die Heldin ist nun in der Lage, sich selbst anzunehmen.

Mimi in der Kneipe

In der letzten, titelgebenden Geschichte des Bandes, geht es um eine durch eine unglückliche Liebesbeziehung verletzte junge Frau. Mimi nimmt sich eine Auszeit, die sie als Gast im Haus des Kneipenbetreibers und angehenden professionellen Barkeepers Nishiyama verbringt. Das alte Gebäude, das ihrem Onkel gehört, soll „schon bald abgerissen werden“. Für sie sieht momentan „alles traurig aus“. Grund dafür ist der Verrat ihres Verlobten Takanashi. Dieser nicht allzu ehrenwerte Charakter meldete sich immer seltener bei Mimi. Als die etwas unbedarfte Protagonistin dann doch nachforschte, musste sie erfahren, dass er bereits seit einiger Zeit mit einer anderen Frau zusammenlebt und diese bald zu heiraten beabsichtigt. Seine lahme Entschuldigung ließ Mimi gebrochen zurück. Sie offenbart dem Vertrauten, dass Takanashi ihr über sein schmähliches Gebaren hinaus noch Geld schulde. Nishiyama, ein weltgewandter, selbstbewusster Mensch mit Durchsetzungskraft, regelt das Problem. Die Zeit mit ihm „heilt“ Mimi und ermöglicht es der allzu naiven Tochter aus feinem Hause, die Dinge schärfer zu sehen. Ihren ehemaligen Verlobten nimmt sie nun nicht mehr als „idealen Mann“ wahr, sondern als „wildfremden Menschen“, der ganz anders denkt als sie. Beim Abschied von Nishiyama weiß sie, dass die Erinnerung an die Wochen mit ihm als wärmende, „strahlend helle“ Bilder in der „Schatztruhe ihres Herzens“ bleiben würden und sie weint gute Tränen, die „herzerweichend“ dahinfließen.

Doraemon und Nobita

Beeindruckend bei allen Geschichten ist die suggestive Kraft Yoshimotos, mit der sie ihr Thema „Trauma, Therapie und neuer Lebensmut“ entwickelt. Es sind sentimentale und bewusst in Selbstmitleid schwelgende Szenarien, die sie entwirft. Diese bieten einer bedrohten Mittelklasse, aus deren Perspektive die Autorin schreibt, die Möglichkeit, verlorenes Glück noch einmal auszukosten, um die bittere Lehre, die die Realität den Protagonisten erteilt, als wertvollen Reifungsprozess würdigen zu können. Nach der erfolgreichen Bewältigung dieser Aufgabe darf die Heldin dann doch die Erfüllung finden – Yoshimoto praktiziert wie immer Bibliotherapie und versorgt ihre Rezipienten mit „Heilung“ (iyashi).

Zum einen ist dieser Lehrgang von Esoterik und den Ansichten der neuen Religionen Japans geprägt, zum anderen vom freizügigen und humanistischen Denken der gebildeten Bürgerschicht der Shôwa-Ära, das auch den Comics von Fujiko F. Fujio innewohnte. Das Manga-Duo, dem Yoshimoto den Band widmete, schuf den bekannten himmelblauen Roboterkater Doraemon und dessen Schützling, den Jungen Nobita. In der „Sackgasse“ schreibt die Autorin: „Die Art ihrer Beziehung zueinander, dass alles in einer typischen japanischen Mittelschichtsfamilie spielt, aber auch dass Doraemon ein Schmarotzerdasein führt und so weiter – so sieht Glück aus für mich.“ Sich gemütlich einzurichten in zeitlosen Stunden eines behaglichen Alltags, der nie endet, stellt nach Yoshimoto die beste Vision vom menschlichen Leben dar.

Die Huldigung an eine ungestörte Existenz in der Normalität ist der Autorin gelungen. Humorvolle, bodenständige Passagen, zum Beispiel die Erklärung über die sexuelle Fixierung des Mannes, bieten eine gewisse Abwechslung inmitten der nostalgisch-innerlichen Stimmung. Rückgriffe auf Geschehnisse der Zeitgeschichte, wie auf das Curryattentat, das sich 1998 tatsächlich in der Provinz Wakayama ereignete, bedingen einen reizvollen Wiedererkennungswert für den, dem japanische Zeitungsmeldungen präsent sind. Einige der auftretenden Figuren entstammen zudem dem Literaturmilieu, so ist etwa die Protagonistin aus der dritten Erzählung Überhaupt nicht warm Romanschriftstellerin. Weniger vermögen die Passagen zu begeistern, in denen sich Yoshimoto förmlich zur Sprecherin neureligiöser Moralität macht. Sie beschwört ab und an eine stets um Vergebung bemühte Gutmenschengesinnung, mit der man auch der unangenehmsten Bekanntschaft noch positive Eigenschaften abgewinnt: „Aber ich bin mir sicher, irgendwo, in einer fernen, unergründlich tiefen Welt, wahrscheinlich an einem schönen Ufer, lächeln wir uns freundlich an, sind einfach nur gut zueinander und verbringen eine schöne Zeit zusammen, daran glaube ich ganz fest.“ Von so viel eigener Güte gerührt, vergießt die Heldin dann sicher wieder literweise Tränen.

Titelbild

Banana Yoshimoto: Erinnerungen aus der Sackgasse. Fünf Erzählungen.
Übersetzt aus dem Japanischen von Annelie Ortmanns.
Diogenes Verlag, Zürich 2018.
279 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783257300567

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