Blendende Dunkelheit

In Ally Kleins experimentellem Debütroman „Carter“ gibt nicht nur die Titelheldin Rätsel auf

Von Christian PalmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Palm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der jährliche Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis und die ihn umrahmenden „Tage der deutschsprachigen Literatur“ sind seit jeher eine medial inszenierte Veranstaltung des Literaturbetriebs, die die Literaturwissenschaftlerin Doris Moser als Börse, Show, Event – so der Untertitel der 2004 erschienenen Dissertation – analysiert hat. Auch wenn dem Gewinner des Hauptpreises ein beträchtliches Preisgeld von 25.000 Euro winkt, geht es in Klagenfurt für die geladenen Autoren, vor allem aber auch für die Jurymitglieder laut Moser weniger um „ökonomisches“ als um „symbolisches Kapital“ (Pierre Bourdieu). Mit anderen Worten wollen die Akteure in erster Linie den eigenen Marktwert steigern.

Zu den Teilnehmern der diesjährigen Austragung gehörte die Berliner Nachwuchsautorin Ally Klein, die mit einem Auszug aus ihrem experimentellen Erstling Carter eine kontroverse Jurydiskussion auslöste, aber keinen der fünf Preise gewann. Ob die rezitierte Passage nun ein „Adoleszenztext“ ist, wie Michael Wiederstein behauptete, oder sich der Bedeutungssuche des Lesers gänzlich verweigert, wie Insa Wilke argumentierte, sei dahingestellt – die unterschiedlichen Meinungen zu den nur acht vorgetragenen Buchseiten veranschaulichen jedenfalls gut, wie schwierig die Frage nach der Semantik in Carter insgesamt ist. Dass der Romaninhalt dem Sprachrausch der Autorin an vielen Stellen zum Opfer fällt und äußerst vage bleibt, sorgt nämlich für Verwirrung beim Leser. Verstärkt wird das Unverständnis des Lesers noch dadurch, dass die Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum im Roman oftmals unscharf gehalten wird und die Erzählerfigur letztlich in der Psychiatrie landet, sich ihre Erzählung also als unzuverlässig erweist. Auch wenn sich die Erzählhaltung mit der Erkrankung des Erzähler-Ichs begründen lässt, fühlt sich der Leser von den vielen Andeutungen überfordert und kann die eigentliche Handlung zuweilen nur erahnen. Ob sich Kleins Fernsehauftritt in Klagenfurt dennoch positiv auf die Verkaufszahlen und – damit verbunden – ihre weitere Karriere als Autorin auswirken wird, bleibt abzuwarten.

In Carter – so viel wird bei der Lektüre trotzdem deutlich – erzählt ein Ich, dessen Name und Geschlecht bis zum Ende des Romans unbekannt bleiben, von seinen Erlebnissen mit der geheimnisvollen Titelheldin, die vor Erzählbeginn von einem Zug erfasst und getötet wurde, wie der Leser gleich auf den ersten Seiten in einer Art Prolog erfährt. Von Kapitel 1 an macht der Text eine Rückblende, in der berichtet wird, wie das Ich nach einem Studienabbruch und Umzug in eine neue Stadt Carter kennenlernt, die in einer abgelegenen Scheune lebt, sich alle paar Hundert Meter die Schuhe bindet und weder Schlaf noch Nahrung zu benötigen scheint. Vor allem aber übt Carter eine beinahe magische Anziehung auf andere Menschen aus, der sich auch die Erzählerfigur nicht entziehen kann. „Wie erschlagen“ ist das Ich, als es Carter in einem Nachtlokal erblickt:

Ich will Dinge sehen, wie sie es tut, dachte ich, ihre Worte mit meinem Mund nachsprechen, ob’s das Gleiche wäre, das gleiche Gewicht, selbstverständlich. Wonach ihr Mundinneres wohl schmeckt, wie ihre Kleidung riecht, wie grün ihr Grün ist und wie kalt ihr Kalt. Alles öffnen würde ich und alles sehen. Über sie schreibt man Bücher, dachte ich, man schreibt Bücher über sie, das Ü in Bücher zog ich lang, ich wollte ihr das sagen, ich wollte sagen: Über dich schreibt man Bücher, ja.

Nach dieser überwältigenden Begegnung wird das Ich am nächsten Abend „wie von selbst“ durch Dunkelheit und Dreck zu Carters Scheune und in ihr Leben geführt. Sogar an Carters Sexleben wird das Ich künftig zumindest passiv, nämlich beobachtend teilnehmen. „Ich liebte Carter mittendrinnen, anfangslos“, lautet seine sprachlich eigenartige Selbsterkenntnis gleich zu Beginn des ersten Gesprächs. Gemeinsam lassen sie sich in der Folgezeit in ein Klassikkonzert hineinschmuggeln, trinken Schnaps auf einer Dachterrasse, gehen in einen Discokeller und immer wieder ins „Bodo“, die Bar ihres ersten Zusammentreffens. Dass Carter dabei allerdings oft schweigt und mehr durch Gesten wie beispielsweise Kopfnicken kommuniziert, weist auf eine gewisse Distanz zwischen den beiden hin, die trotz des Nähebedürfnisses des Ichs nie ganz aufgehoben wird. „Mit mir warst du nie so geheimniskrämerisch“, bekommt Carter von ihrer Freundin Pé zu hören. Der Titelfigur am nächsten steht der Schriftsteller und „Selbstquäler“ Kaan, der aber mit seinem Radikalfasten à la Carter scheitert und daraufhin seine Aggressionen gegen das Ich und sich selbst richtet.

Erzählt wird dies alles in einer ästhetisierten Sprache, die Sinneswahrnehmungen, Gedanken, Gefühle und Assoziationen des Ichs detailversessen aneinanderreiht. So nimmt zum Beispiel die Beschreibung eines Lichtstrichs ganze zwei Seiten in Beschlag. Ähnlich verhält es sich an anderer Stelle mit dem Baden in der Wanne. Dort heißt es unter anderem, dass

die Stimme des Wassers, die immer tiefer, immer kontrollierter, in einem gemäßigten Ton aus dem verkalkten Auslass kam, zu einem dunklen, einem eintönigen Einprasseln wurde, einem gleichtönigen Rauschen, das alle anderen Geräusche schluckte, einem, das man sonst an Stellen, Plätzen, Orten fand, wo der Wasserfluss herabfiel, sich von dem Strom lossagte und einbrach, an Klammen, Wehren, Wasserfällen, wo er einen mit seinem Getöse bis zur Einfältigkeit klopfte, alles an Empfindung zur völligen Linearität zwang, wenn der gebrochene, der zerschlagene Wasserfluss alle Gedanken, die einem durch den Kopf gingen, einem Löschhut, einem Lichthut gleich erstickte, erdrosselte, oder noch besser, alles, was man in seinem Kopf hatte, entleerte, den Kopf leer fegte, wie jetzt, während ich im warmen Mantel des Wassers lag, unter der Einwirkung des Rauschens interesselos und stumpfsinnig geworden.

Dass sich solche mit Bildern überladene Zeilen durch den gesamten Text ziehen, stieß auch in Klagenfurt zum Teil auf Unmut. Während Insa Wilke viele Bilder als „falsch“ empfand, hielt es die Jurorin Hildegard E. Keller mit Mark Twain, der einem Schuljungen einst dazu riet, die gefundenen Adjektive zu „töten“, um den eigenen Text zu verbessern.

Kreativität und Schreibtalent kann man Ally Klein sicher nicht absprechen. Unter dem Strich lässt sich an ihrem Debütroman aber einiges bemängeln. Durch die „Dunkelheit“ des Textes fühlt sich der Leser häufig ähnlich „geblendet“ wie das Ich, als es Carters Scheune zum ersten Mal betritt. Zu einem guten Roman gehört eben mehr als die Erkenntnis, die das Ich – und mit ihm in gewisser Weise auch der Leser – gegenüber der rätselhaften Titelheldin gewinnt: „Du hattest so viel Bedeutung, so viel Bedeutung, aber ich hab dich nicht begriffen, und vielleicht geht’s ja genau darum, dich nicht zu begreifen“.

Titelbild

Ally Klein: Carter. Roman.
Literaturverlag Droschl, Graz 2018.
208 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783990590171

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