Auf eleganten Ledersitzen durch eine grausame Zeit

Ilmar Taskas „Pobeda 1946“ ist ein empathisches Portrait aus dem besetzten Estland

Von Sandra HintRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Hint

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der estnische Szenarist und Produzent Ilmar Taska (geb. 1953) ist in Estland vor allem für seine Fernseharbeiten und für die Gründung des estnischen TV-Kanals „Kanal 2“ bekannt. Gleichzeitig wurden jedoch auch seine Kurzgeschichten in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt.

Vor zwei Jahren erschien Taskas erster Roman „Pobeda 1946“, dessen Vorlage, die Kurzgeschichte „Pobeda“, bereits im Jahr 2014 die in Estland renommierte Literaturprämie „Looming“ erhalten hat. Auf Anhieb erhielt der Erstling positive Rezensionen nicht nur in Estland: Taskas Roman erschien bereits im Folgejahr in englischer, dänischer und finnischer Übersetzung.

Beim Lesen fällt Taskas gekonnter Sprachgebrauch sofort auf: Sein Schreibstil ist flüssig und leicht. Er erzeugt trotz aller Kontinuität in einer vertrauten Welt Wellen einer Spannung mit überraschenden Elementen.

Wie bereits im Titel erkennbar, spielt im Roman das russische Automodell GAZ-M20 „Pobeda“ eine zentrale Rolle: Über das schicke Auto gewinnt ein KGB-Agent die Aufmerksamkeit eines sechsjährigen Jungen, den er für seine geheimdienstlichen Zwecke missbrauchen will. Eine Fahrt im Pobeda sichert ihm seine Freundschaft, und auf weiteren Fahrten wird eine vertrauliche Beziehung aufgebaut. Das Charisma des Agenten verhilft ihm dazu, sich in die Familie des Jungen einzunisten, um Informationen über seinen Vater zu erhalten, den der Agent festnehmen möchte.

Viel mehr an konkreten Details wird nicht verraten: Der Roman erzählt eine Geschichte, die in vielen Städten und vielen Familien auf ähnliche Weise stattgefunden haben kann. Denn die psychologischen Techniken, die die Staatsorgane der Sowjetunion verwendeten, um Kinder ihre Eltern ausspionieren zu lassen, sind aus der damaligen Wirklichkeit weitgehend bekannt. Einem in diesem Raum aufgewachsenen Leser kommen Phrasen und Verhaltensmuster so vertraut vor, dass die Geschichten der Eltern und Großeltern darin wieder lebendig werden. So heißt der Agent zwar „Agent“ und der Junge „Junge“ – die restlichen Informationen werden durch den Leser jedoch individuell vervollständigt und die Leseerlebnisse so durch schmerzvolle Erinnerungen ergänzt.

Der Roman wird größtenteils aus der Innenperspektive des Jungen erzählt, was den Schrecken beim Lesen wesentlich steigert: Vieles, was der Junge noch nicht verstehen kann, offenbart sich dem Leser relativ schnell. Der Junge hat noch keine Ahnung von dem bösen Plan des Agenten und sitzt vertrauensvoll in der Pobeda – während der Leser schon Angst um die Familie des Jungen haben muss.

Das Element des Tempos ist auf mehreren Ebenen von Bedeutung, denn gleichzeitig wird eine weitere typische Geschichte aus dem Jahre 1946 erzählt: eine Liebesgeschichte. Johanna, Solistin der Oper „Estonia“ in Tallinn, und Alan, Nachrichtenmoderator für BBC in London, die durch den eisernen Vorhang voneinander getrennt werden, riskieren alles für ein Wiedersehen in Moskau.

Zwei Erzählungen werden schließlich miteinander verbunden, und eher unerwartet kommt dann das nur teilweise pessimistische Ende der Erzählung. Jedoch würde ein Roman über eine grausame Zeit mit einem grausamen Ende den Spannungsrahmen sprengen und ein entsetztes Publikum hinterlassen. Dem beugt Taska mit einem weitgehend positiven Schluss vor.

So ist „Pobeda 1946“ in vielerlei Hinsicht ein ausgeglichenes, meisterhaft komponiertes Werk. Genauso gelungen ist die Übersetzung von Cornelius Hasselblatt, der die Gedanken und Gefühle der Figuren mit jeweils unterschiedlichen stilistischen Prägungen gekonnt nachvollziehbar macht. Die Übersetzung wird damit der intensiven Wirkung von Taskas Schreibstil gerecht: Die Furcht der erwachsenen Figuren um ihr Leben zeigt sich hier in jeder flüchtigen Begegnung mit anderen Menschen, denn Estland – so wie der Rest der besetzten osteuropäischen Staaten im Jahre 1946 – wird von einer allgemeinen Unsicherheit und ständigem Misstrauen geprägt.

Diese Emotionen werden dem absoluten Vertrauen eines Kindes zu einem Fremden, einem Feind, auf eine makabre Art und Weise gegenübergestellt, sodass für den Leser gleichzeitig die Naivität des Kindes und die Fatalität seiner Handlung sichtbar werden. In der pointierten Beschreibung dieser grausamen Zeit in Estland ist die Furcht der Erwachsenen, die eigenen Kinder an ein totalitäres Regime zu verlieren, ein Gefühl, das – auch im Kontext aktueller politischer Ereignisse – nie vollständig überwunden werden kann.

Anmerkung der Rezensentin: Eine kürzere Fassung dieser Rezension ist bereits am 8.11.2017 auf Estnisch im Rezensionsblog „Sada raamatut“ (Hundert Bücher) erschienen (https://100-raamatut.blogspot.com/2017/11/ilmar-taska-pobeda-1946-2016.html).

Titelbild

Ilmar Taska: Pobeda 1946.
Aus dem Estnischen von Cornelius Hasselblatt.
Kommode Verlag, Zürich 2017.
297 Seiten , 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783952462645

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