Auf der Suche nach dem neuen Zauberwort

Matthias Politycki präsentiert seine „sämtlichen Gedichte“ in umgekehrter Reihenfolge ihres Entstehens

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sein literarisches Renommee hat sich Matthias Politycki als Prosaautor erworben. Mitte der 1990er Jahre haben sein Weiberroman und zehn Jahre später der dickleibige Roman Herr der Hörner viel Anerkennung (und natürlich ähnlich viel Kritik) erhalten. Den Ansporn für sein Schreiben ortet der Autor selbst trotz alledem aber anderswo. „Ich war von Anfang an und bin noch heute in allererster Linie Lyriker“, heißt es im 2017 erschienen Bändchen Reduktion & Tempo. Dies trifft nach eigenem Dafürhalten auch auf den Erzähler Politycki zu, denn Prosa und Lyrik überlagern sich in seinem Werk, „indem ich Prosasätze immer in ihrer metrischen Struktur höre. Umgekehrt versuche ich in den meisten meiner Gedichte etwas zu erzählen“.

Gerade deshalb freute sich Politycki, als ihm vor Jahren der Verleger Daniel Kampa eine Gesamtausgabe seiner lyrischen Arbeit aus über 40 Jahren vorschlug. So liegen sie nun vor, Polityckis Gesammelte Gedichte in einem schönen, dicken Band von 640 Seiten, in Leinen gefasst und mit zwei Lesebändchen versehen.

Sein lyrisches Debüt erschien 1988 unter dem Titel Im Schatten der Schrift hier, worin Matthias Politycki gleich eingangs mit der ersten Überschrift das Ende der Geniezeit verkündete:

Früher: entfernte Gebirge.
Jetzt: vorbeifliegende Hügel
Einstmals der Tag ein Leben.
Nunmehr das Leben ein Tag.

Nur zwei Gedichte weiter blies Eichendorff den „Blues von der prästabilierten Harmonie“. Dieser Auftakt gelang Politycki mit Pauken und Trompeten. Ohne falsche Bescheidenheit stellte er sich gegen die romantische Tradition, um diese insgeheim doch in seine Poesie einzulassen. Das Zauberwort mag heute anders klingen: „Bluesgirlanden Bebopblüten / Boogiehitze Mambomythen“ – die Welt steckt noch immer voller Poesie. „Neue Reime neue Verse / sie liegen ein einz’ges Gedicht bloß entfernt“, verheißt das letzte dieser 22 listigen, formbewussten Gedichte, in denen der Dichter formal gewieft sich selbst zwischen Tradition und Gegenwart verortet.

Der lustvolle Ingrimm, der diesen ersten Band rhetorisch prägte und der offenkundig noch im Schatten der frühen experimentellen Prosa stand, erhielt im weiteren Schaffen zunehmend subtilere, spielerische Züge und verriet, wie Wolfgang Frühwald im Nachwort zu den Gesammelten Gedichten schreibt, einen „auf ironisch-melancholische Weise heiteren Poeten“, der die Polemik nicht scheut, diese jedoch gut fundiert und vor allem mit Charme zu verkünden weiß.

Polityckis Lyrik zeichnet sich durch ein „alltagsinniges“ Verhältnis zur Realität aus, die sich im zweiten Gedichtband Jenseits von Wurst und Käse (1995) sowohl im nietzscheanisch angehauchten Titel wie in zwei Gedichten äußert, die programmatisch Anfang und Ende des Bandes bilden: „Bademeister, das Ende der Betriebszeit verkündend“ und „Klofrau, das Ende der Sanftmut verkündend“. Hier ist Schluss mit dem lyrischen Pathos, wie Politycki schon 1992 in der Vorrede zur Anthologie Hundert notwendige Gedichte. Und ein überflüssiges formulierte. Er proklamierte darin „Form ist Wollust“ und bekannte sich zu einem „Virtuosentum, das nicht sich erschöpft in handwerklicher Präzision – ‚Platenismus fürs Volk‘! – sondern eine bis zur Leichtigkeit, zur Selbstverständlichkeit, bis zum Spiel hinaufgereimte und -rhythmisierte Ernsthaftigkeit der Suche nach dem Zauberwort, dem Zaubersatz“.

Diese „Neue Äußerlichkeit“ äußert sich unter anderem darin, dass Politycki den Bademeister, die Klofrau, den Männerbeauftragten zu Protagonisten seiner Verse macht. Mit frecher Lust gesellt er ihnen Ein Gedicht übers Gedichte-Dichten zu, das nichts anderes sei „als Ausrede, als Eingeständnis dessen, / der keinen Mumm mehr hat, sein Maul voll zu nehmen / mit etwas anderem als heißer Luft“. Verpöntem „Reimgeklingel & Metaphernprunk“ setzt er frivole Verse oder ein piktogrammatisches Sonnett aus leeren bis vollen Biergläsern entgegen – dabei aber immer bekundend, dass er es mit der formalen Präzision gleichwohl ernst meint.

Enthielt der erste Gedichtband 22 Verse und der zweite 44, so folgten 66 Gedichte im Band Ratschlag zum Verzehr der Seidenraupe (2003): Logbücher von Reisen, in denen sich der Zauber der Entzauberung entfaltet. Politycki ist ein ausgesprochen umtriebiger Autor, der nicht nur gerne und ausgiebig rund um die Welt reist, sondern auch Marathon läuft. Entsprechend werden seine Prosa wie seine Lyrik durch ein Spiel mit der exotischen Distanz charakterisiert, die sprachlich und formal einen adäquaten Ausdruck finden. Immer wieder zeigen sich bei ihm Anleihen beispielsweise aus der japanischen Tanka-Lyrik.

Der vorliegende Band setzt diese frühe Lyrik ans Ende und beginnt entgegen der Chronologie mit seinen jüngsten Veröffentlichungen Dies irre Geglitzer in deinem Blick. 111 Gedichte (2015) und Die Sekunden danach. 88 Gedichte (2009). Indem Politycki die Elferreihe darin weiter ausbaut, bekundet er eine gesteigerte Kontinuität und lässt zugleich Raum für Veränderung. Was bleibt, sind die ausgedehnten Reiseerfahrungen, die in beiden Bänden ausgiebigen Niederschlag finden. Als Leser lernen wir durch seinen poetischen Filter die Wüste Sinai kennen, besuchen Angkor Wat: „kein Gott in all dem Glitterkram“ oder erkunden die Londoner Pubs auf dem „Ale-Trail“. Im mal kritischen, mal schelmischen Blick des weißen Europäers halten sich Distanz und Neugier die Balance. Außerdem bedichtet Politycki mit heiterem Respekt auch Alltagsfiguren wie die „Badeschlappenschönheit“ oder „Männer mit blutigen Schürzen“. „Aber was war denn so wichtig an denen?“, fragt er am Ende seines Metzger-Gedichts, ohne eine Antwort zu kennen. Vielleicht ist es ja einfach die Erinnerung an sie, wie „sie zügig über den Hof schreiten“ respektive geschritten sind, „früher, als ich noch ein Kind war“.

Die spielerischen Verstöße gegen lyrische Konventionen sind zwar auch weiterhin in den späteren Gedichten zu lesen, aber in ihnen schwingt eine spürbar tiefere, bedenklichere Note mit. Die Heiterkeit ist ernster geworden, das poetische Spiel tritt stärker hinter eine noch immer fein ironische, doch melancholische Grundstimmung zurück. In Themen und Motiven wie der Liebe, dem existentiellen und realen Schmerz oder dem spürbaren Altern demonstriert Politycki, dass er auch dieses Spektrum gleichermaßen munter wie innig zu bespielen versteht.

Zwei Spiegelgedichte –Politycki mag sie noch immer –  stimmen im jüngsten Band den Ton an. Beide Variationen tragen denselben Titel Geteilt haben.

die Sehnsucht nacheinander
die Lust aufeinander
den Kummer miteinander

dann gibt es nichts zu bereuen

Und neun Seiten später:

das Vertrauen ineinander
die Sorge umeinander
das Lachen übereinander

dann gibt es noch immer nichts zu bereuen

Aber, heißt es in der Mitte dazwischen:

Aber an unseren großen Tagen,
da strahlen wir wie eh und je –

Mit der Reihenfolge gegen die Zeit, die Politycki schon früher in zwei Essaybänden erprobt hat, dreht er in einer für ihn typischen Volte die Blickrichtung um. Ähnlich wie bei den Essays, die er jeweils einer nachträglichen kritischen Überprüfung unterzog, untersteht auch das Gedicht einer Entwicklung, der der Autor hier Rechnung trägt. Zwar ist jedes Gedicht zuallererst eine genuine Schöpfung, die einen konkreten Zeitraum des Entstehens kennt, den Politycki jeweils auch akribisch aufnotiert. Trotzdem hat er, wie er im Nachwort bemerkt, Korrekturen „jetzt für die Neupublikation vorgenommen“, getreu einem Statement von 1994 in seiner zweiten Münchner Poetik-Vorlesung Ich liebe dich, wonach jedes Gedichteiner mühseligen Feilarbeit unterliegt, die mit der Erstniederschrift nicht zu Ende geht, vielmehr danach eine „(oft jahre-, jahrzehntelange) Phase der Überarbeitung“  erfahren muss. Mit dieser Umkehrung der Chronologie werden von der „Glücksvorstellung eines letzten Schrittes“ zurück die poetologischen und biografischen Quellen sichtbar.

Ein Gedicht darf heiteren Unernst verbreiten, es darf aber auch unmittelbar anrühren. Es muss nicht verkompliziert wirken, soll aber vielschichtig sein. Politycki begreift sein Dichten, ohne Verleugnung des Poetischen, auch als „Dienst am Kunden“. Das „Unprogrammatische, Unideologische“ bildet dabei den Kern seines ästhetischen Programms, „der Abschied von der eignen Wichtigkeit“ auch „bei gleichzeitiger Hinwendung zu jeder Art von Ironie“.

Polityckis poetische Provokation mag nicht in allen Zeilen gelingen. Manchmal benötigen Form und Spiel keine zweite Lektüre. Wo das Spiel freilich ganz glückt (und das tut es oft), begegnen wir einem der virtuosesten und interessantesten Dichter der Gegenwart.

Matthias Politycki ist ein Lyriker, der das heiter Verspielte liebt, und dabei dennoch ernst und verbindlich bleibt. Das Ironische ist bei ihm nie reiner Selbstzweck. Wie Friedrich Nietzsche die Griechen (in der „Fröhlichen Wissenschaft“) versteht Politycki seine auf Form bedachte Lyrik „oberflächlich – aus Tiefe“. Und sich selbst, weiter mit Nietzsche: einen „Anbeter der Formen, der Töne, der Worte? Eben darum – Künstler?“ Dieser Band bezeugt es durch alle Werkschichten hindurch mit einem feinen Schmunzeln.

Titelbild

Matthias Politycki: Sämtliche Gedichte. 2017–1987.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2018.
637 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783455406238

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