Metaphern der Maßlosigkeit

Henri-Charles Puech erhellt Piranesis „Kerker“

Von Sabine HauptRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Haupt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Splitter“ oder „Groschenhefte des Weltgeistes“ nennen sich die handlichen Broschüren, die der Berliner Kleinverlag „Blauwerke“ seit fünf Jahren herausgibt. Und diese beiden Bezeichnungen sind völlig zutreffend: Die schmalen Hefte, die mit einer Höhe von 14 Zentimetern und einem Umfang von 50 bis 100 Seiten spielend in jede Jackentasche passen, kosten tatsächlich nur ein bis zwei Euro und präsentieren Ausschnitte, kurze Essays oder Fragmente, also „Splitter“, aus dem riesigen Steinbruch der philosophischen Weltliteratur. Es gibt (zum Teil zweisprachige) Hefte mit Texten von Georges Bataille, T.E. Lawrence, dem legendären „Lawrence von Arabien“, Friedrich Nietzsche, Briefe des romantischen Naturphilosophen Johann Wilhelm Ritter, vor allem aber Essays und poetische Fragmente des heute fast vergessenen Expressionisten Hans Jürgen von der Wense, dessen postumes Werk in den 1980er und 90er Jahren bei Matthes & Seitz erschien.

Der neueste Splitter, den die Blauwerke dem Weltgeist entnahmen, ist ein kurzer kunsthistorischer Aufsatz des ebenso vergessenen und im deutschen Sprachraum ohnehin wenig bekannten Religionshistorikers Henri-Charles Puech (1902–1986) über Giovanni Battista Piranesis berühmte Kerker-Radierungen von 1750. Es ist bekannt, dass der Architekt und Kupferstecher Giovanni Battista Piranesi (1720–1778) mit seinen manieristisch-fantastischen Darstellungen der römischen Ruinen dem gräzistischen Antike-Ideal, wie es beispielsweise von Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) vertreten wurde, einen deutlichen ästhetischen und ideologischen Gegenentwurf entgegensetzen wollte. Dem gängigen Klassizismus mit seinen normativen Vorstellungen von Proportion, Symmetrie und Harmonie – man denke beispielsweise an die Winckelmannsche These, das griechische Schönheitsideal verbiete die Darstellung negativer Empfindungen wie Schmerz, Angst oder Ekel – begegnete Piranesi mit seiner ganz speziellen – so nennt Puech es in der kleinen kunstgeschichtlichen Studie – „mediterranen Logik“.

Puech publiziert seine Deutung der „Carceri“ 1930 in der Revue Documents, einer von Georges Bataille herausgegebenen und gegen die Vormachtstellung von André Breton gerichteten surrealistischen Zeitschrift. Der zentrale Punkt dieser von Puech postulierten römisch-mediterranen Stoßrichtung ist die Überwindung des klassischen Humanismus. Dem Ideal des Maßes und der Harmonie, der Verehrung „edler Einfalt und stiller Größe“ setzt Piranesi die Rückkehr zur „Magnificenza“ entgegen. In der Puechschen Interpretation bedeutet das den Skandal rauschhafter Maßlosigkeit, eines grenzenlosen, jenseits menschlicher Möglichkeiten liegenden Begehrens, bei dem sich das aus dem englischen Sensualismus stammende ambivalente Konzept der Erhabenheit, des „delightful horror“, mit den monumentalen, ja größenwahnsinnigen Dimensionen eines noch im Verfall nach Vollendung strebenden römischen Heroismus verbindet. Piranesi dichte, so Puech, „dieses übermenschliche Rom entschieden gegen jeden griechischen Einfluss ab“, um es sodann mit einer archäologisch älteren Schicht, dem chtonisch „Etruskischen“ zu verbinden, „das seiner Vorliebe für eine schwarze, von den Toten besessenen Welt am ehesten entspricht“.

Passagen wie diese zeigen ganz klar die ideengeschichtlichen Verbindungslinien von Piranesi zur französischen Romantik, zu Symbolismus und Dekadenzdichtung, bis hin zu Georges Bataille und damit auch zu Puech selbst. Die Labyrinthe der Cloaca Maxima, „das schiere Ausmaß von St. Peter, an dem alles sich jeder menschlichen Proportion entzieht“ sowie die alptraumhafte unterirdische Architektur der Kerker verweisen deutlich auf die Ästhetik der frühen Fantastik und des Fin de Siècle. Als Spezialist der Gnosis und des Manichäismus interessiert Puech sich für scharfe Kontraste, als Zeitgenosse avantgardistischer, anti-naturalistischer Strömungen für Piranesis „Universum reiner Artefakte“ und den sich in den Kerkerdarstellungen artikulierenden „Willen zur Grausamkeit“.

Dem nur wenige Seiten langen Aufsatz von Puech folgt ein dreimal so langer, überaus anregender und sehr gut informierter Textkommentar des Berliner Philosophen Sven Rücker. Dieser unterstreicht den von Puech analysierten Antagonismus zwischen Piranesis etruskisch-exzentrischem Rom und dem von Aristoteles Mesotes-Lehre geprägten ausgleichenden Humanismus der aufgeklärten Philhellenen à la Winckelmann und Goethe. Einige etwas an den Haaren herbeigezogene Parallelen zu Theorien der Postmoderne und zur Dekonstruktion fallen angesichts der ansonsten überzeugenden Auseinandersetzung mit dem antihumanistischen, antirationalistischen Gedankengut in Puechs Aufsatz kaum ins Gewicht. Assoziationen zur „Logik des Exzess“ des Marquis de Sade und zum modernen Posthumanismus zeigen, wie groß, auch unter kunst- und ideengeschichtlichen Aspekten, Piranesis „Echokammern“ tatsächlich sind. Im Nachwort der Herausgeber findet man zudem noch einige zusätzliche Informationen über den zeitgenössischen Kontext, insbesondere zu Puechs Beziehung zu Bataille und über den Bezug zu seinen religionsgeschichtlichen Arbeiten.

Stellenweise ist die deutsche Übersetzung des Puech-Essays etwas unbeholfen (um nur zwei Beispiele der ersten Seite zu nennen: „obsédant“ bedeutet etwas anderes als „unentrinnbar“, „s’accabler“ heißt nicht: „verschütt‘ gehen“), was bei einer zweisprachigen Ausgabe allerdings weder tragisch noch wirklich störend ist. Fazit: ein überaus spannender und lesenswerter Splitter aus dem Fundus des Weltgeists.

Titelbild

Henri-Charles Puech: Die Kerker des Giovanni Battista Piranesi.
Mit einem Essay von Sven Rücker.
Übersetzt aus dem Französischen von Valeska Bertoncini und Reiner Niehoff.
Blauwerke Verlag, Berlin 2018.
57 Seiten, 2,00 EUR.
ISBN-13: 9783945002155

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