Die Symbiose von Mensch und Wald

Roger Deakin erkundet die Schnittstelle zwischen Natur und Kultur

Von Sabine MertenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Merten

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Autor braucht man eine große Leidenschaft, Dinge ändern zu wollen, statt nur darüber nachzudenken oder zu berichten. Ich möchte zeigen, wie bedeutsam und wichtig Bäume sind, indem ich zu ihrem Verständnis beitrage, damit wir nicht mehr nur allgemein von „Bäumen“ sprechen, sondern jeden einzelnen Baum und jede einzelne Art bedenken.

Das dem Buch nachgestellte Motto stellt die Zielrichtung von Roger Deakins episch angelegter Naturstudie vor, die etwas irreführend den Titel Wilde Wälder trägt. Tatsächlich geht es dem Autor aber weniger darum, die Wildheit der Natur zu beschreiben, sondern er will in einem weitaus höheren Maße die Bedeutung von Baum und Gehölz als grundlegenden Lebensraum für Tiere und Menschen und die untrennbare Verwobenheit von Natur und menschlicher Kultur zeigen.

Deakin ist einer der Gründungsväter des angloamerikanisch geprägten Nature Writing und hat schon in dem im Jahre 2014 erschienenen Vorläufertitel Logbuch eines Schwimmers (englisch Waterlog) ausgiebig die Wasserlandschaft Englands erkundet und damit auch das Schwimmen in wilden Gewässern zu einem Trend gemacht. Bei Wilde Wälder handelt es sich um ein umfassend recherchiertes und äußerst liebevoll geschriebenes Werk über Bäume, ihre Erscheinungsformen in der Natur und ihre kulturelle Bedeutung für den Menschen.

Literarisches Vorbild sind zum einen Walden von Henry David Thoreau, also die eindrucksvollen Aufzeichnungen dieses für alle Naturbewegten Maßstäbe setzenden Aufenthaltes am Waldensee in Massachusetts, zum anderen der Titel A Million Wild Acres des australischen Autors Les Murray. Deakin wie auch Murray begreifen die Beschreibung der Natur, insbesondere jene des Waldes, als ein fundamentales episches Unterfangen, das sich aus einem schier unerschöpflichen Reservoir an Beobachtungen speist. Die Studie Wilde Wälder ist daher Deakins ausführlichstes Werk und kurz vor seinem Tod entstanden. Der Leser betritt mit dem Buch einen dichten Wald aus Geschichten über Menschen und Natur, in dem schichtweise naturkundliche Details, Anekdoten und persönliche Impressionen übereinanderliegen. Bestrickend ist vor allem, dass sich der Blick des Autors auf große wie auch kleine Pflanzen und Tiere richtet und diese in ihrer feinen Gestalt wahrnimmt und liebevoll beschreibt. Der Wald erscheint als ein Reich von Namen, in dem statt wortlosem Staunen naturkundliche Sorgfalt herrscht, gepaart mit der fast exotischen Poetik botanischer Namen:

Aus meiner Kaninchenperspektive fiel mir auf, dass es auch beim Vogelsang verschiedene Schichten gibt. Unterhalb der harschen unablässigen Krähengesänge in den Eschenwipfeln erklang sanft der liebliche des Rotkehlchens und der Zilpzalpe aus den Hasel- und Holundersträuchern. Amseln schossen lautlos durch den Schatten. Durch das wallende Seegras aus Nesseln, Labkraut, Pechnelken, Glockenblumen, Gräsern und Farnen schwappte Nebel ins Dunkelgrün meiner Lichtung. Im Vordergrund Klette, Gundelrebe, Kleine Braunelle und Kriechender Günsel.

Auch ein Auwald ist ein Dickicht aus Bäumen und Sträuchern, die wohlklingende Namen tragen, wie etwa Esche, Erle, Hängesalweide, Steineiche, Erdbeerbaum, Ulmenschösslinge, Pfaffenhütchen, Hartriegel, Holunder und Silberpappel. Diese sind von einem Geflecht aus Clematis, Heckenrose, Brombeere, Echter Waldrebe und Weißer Zaunrübe umgeben.

Der erste Abschnitt „Wurzeln“ ist zunächst den Wäldern Großbritanniens gewidmet. Hier wird deutlich, in welch komplexes Ökosystem von Feldern, Sträuchern und Mooren diese eingebettet sind und welch faszinierenden Artenreichtum sie beherbergen. Natürlich beschwört Deakin eine Art Ideallandschaft, die in deutlichem Kontrast zu einem urbanen Setting steht. Dieses Idyll erinnert stellenweise fast an altenglische Landschaftsbeschreibungen wie sie aus J.R.R. Tolkiens Feder stammen könnten; nichtsdestotrotz wird deutlich, was es für Deakin bedeutet, in einer authentischen Landschaft verwurzelt zu sein und den Baum zum Symbol der eigenen Haltung zum Thema Heimat zu machen.

Das Kapitel „Splintholz“, also jenes Holz, das unter der Rinde aktiv ist und den Baum am Leben erhält, widmet sich dem System Wald nicht nur in ökologischer, sondern auch in kultureller Hinsicht. Es ist erstaunlich, wie viele Kulturtechniken und landschaftspflegerische Berufszweige sich auf den Wald und seinen Kulturraum beziehen und welche vielfältigen Tätigkeiten damit verknüpft sind, wie beispielsweise die des Korbflechtens aus den Zweigen der Ulmen, das Sammeln von Reisig und Treibholz, das Heckenlegen, das Tischlern von Gebrauchs- und Kunstmöbeln aus Eichen oder das Rutenschneiden aus Haselbäumen zum Decken der in England streckenweise typischen Landhausdächer. Deakin recherchiert detailreich die Geschichte der entsprechenden Berufe und dokumentiert das Leben ihrer leider nur noch spärlich vorhandenen zeitgenössischen Protagonisten.

Das Kapitel „Treibholz“ führt den Leser schließlich weit über die Grenzen Großbritanniens hinaus. Überall weiß Deakin in die Tiefe der Wälder einzutauchen und mit den Namen der Bäume auch kulturhistorisch relevante Erzählungen einzuflechten, sei es jene von den Partisanen in den Wäldern der Karpaten, jene über die reiche Tradition der Walnussholzkunst in Spanien oder auch die Geschichte der Kultivierung des Apfels, die vor Jahrtausenden in Kasachstan begonnen und sich dann in der ganzen Welt verbreitet hat. Auch der mediterrane Raum erscheint in seiner botanischen Pracht in Gestalt von Mittelmeerzypresse, Eukalyptus, Zeder, Korkeiche, Olive oder auch Platane, die nicht nur optisch beeindruckend sind, sondern jeweils auch eine reiche kulturhandwerkliche und landwirtschaftliche Tradition begründet haben. Die Eigenschaft der Wälder, Gedächtnisspeicher der Vergangenheit zu sein, wird wiederum anhand der australischen Wald- und Buschlandschaft und ihren Widerhall in der Kultur der australischen Aborigines gezeigt. Das Kapitel „Kernholz“ schließlich führt wieder nach Großbritannien zurück, zu jenem Leben in und mit der Natur, das eine echte Alternative zur Verstädterung und der damit einhergehenden Entfremdung von der Natur darstellen könnte.

Insgesamt ist Wilde Wälder ein äußerst ausführliches, zwischen groß angelegten Bildern und winzigen Details mäanderndes Plädoyer für den Erhalt der Bäume und des Waldes als Lebensraum, besonders aber für ein Leben in der Natur. Deakin reflektiert dabei nur bedingt, wo die Grenzen zwischen Natur und Kultur eigentlich zu finden sind und wie eine Rückkehr zur Natur tatsächlich aussehen sollte. Es wird deutlich, dass es durchaus schwierig ist, eine unberührte oder gar wilde Natur als solche konzeptuell zu definieren, ganz zu schweigen von der Schwierigkeit, eine solche tatsächlich vorzufinden. Die Wildnis entsteht im Blick des menschlichen Betrachters und sobald er sie betritt, ist sie keine Wildnis mehr. Auch steht der moderne Mensch mehr als zuvor vor der großen Herausforderung, eine Brücke zu schlagen zwischen hochtechnisierter Zivilisation und einem naturgemäßen Leben, zwischen vermeintlich progressivem Fortschritt und eher altertümlich anmutenden naturbewahrenden Lebensformen.

Titelbild

Roger Deakin: Wilde Wälder.
Übersetzt aus dem Englischen von Andreas Jandl und Frank Sievers.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018.
440 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783957575647

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