Zwischen Kognition und Immersion

Alexandra Müller über Trauma und Intermedialität in zeitgenössischen Erzähltexten

Von Christina BischoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Bischoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frage nach dem Trauma gehört zu den Brennpunkten einer anthropologisch interessierten Literaturwissenschaft. Die Faszination, zugleich aber auch die besondere Schwierigkeit des Themas, liegt zweifellos in dessen besonderer Fähigkeit, den Leser in seinen Bann zu ziehen. Wo dieser, wie etwa Shoshana Felman es beschrieb, sich bis hin zur indirekten Traumatisierung von seinem Thema affizieren zu lassen vermag, da droht auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Trauma unter der Hand selbst zur Traumaverarbeitung zu geraten, womit polemische Auseinandersetzungen gewiss sind. Die literaturwissenschaftliche Traumaforschung treibt dabei insbesondere die Frage um, inwiefern das Trauma im Zeichen einer „poststrukturalistischen ‚Trauma-Philosophie’“ (Harald Weilnböck) als Paradigma des Undarstellbaren schlechthin, damit als kardinale Reflexionsfigur des Literarischen, konzeptualisiert werden soll und darf.

Als Gegenpol dieses gelegentlich als Banalisierung und Trivialisierung echten Leids gescholtenen Ansatzes hat sich eine stärker an klinisch-pyschologischen Zusammenhängen interessierte Forschung etabliert, die sich ihrerseits die Frage gefallen lassen muss, inwiefern ein literarischer Text in dieser Perspektive mehr sein kann als eine bloße Fallstudie zum Thema Trauma. Der Balanceakt zwischen beiden Positionen ist nicht leicht. Alexandra Müller ist er gelungen.

Auch Müller weist zu Beginn ihres Buchs Trauma und Intermedialität in zeitgenössischen Erzähltexten auf eine Diskrepanz von psychologischer und geisteswissenschaftlicher Lesart des Traumas hin und plädiert für eine Wahrnehmung des Traumas nicht lediglich als „epistemologische Aporie“, sondern als „vielschichtige[s] psychologische[s] Phänomen“, weshalb neben einem Überblick über den kulturwissenschaftlichen Traumadiskurs Erläuterungen zum medizinisch-psychologischen Traumabegriff umfangreich und differenziert Eingang in den Forschungsbericht ihrer Arbeit (Kap. 2-3) finden. Die Diskussion um das Trauma ist, wie Müller hier darlegt, durch divergierende Erkenntnisinteressen geprägt und demgemäß heterogen. Unaufgeregt referiert sie die verschiedenen Positionen, um sodann für einen quasi prototypischen Traumabegriff zu plädieren: Ein „differenzierter, pluralistischer Ansatz“ soll an die Stelle eines, wie man freilich anmerken möchte, ohnehin noch in weiter Ferne liegenden Kompromisses zwischen soziologisch, psychologischen und kulturwissenschaftlichen Traumatheorien treten.

Diese theoretische Vorentscheidung ist nicht frei von Tücken im Detail. Sie führt gelegentlich zur Eingliederung von Grenzgängern, deren Zugehörigkeit zur Traumaliteratur zweifelhaft ist. Mit Cet absent-là erwähnt Müller etwa ein Buch, von dem sie selbst anmerkt, dass es womöglich eher als Trauer- denn als Traumatext gelesen werden sollte. Auch bei immerhin zwei der drei zentralen im Buch besprochenen Texte, nämlich The Sea und Extremely Loud & Incredibly Close, scheint zweifelhaft, inwiefern diese überhaupt als Traumatexte angesprochen werden können. So differenziert Müller eingangs zwischen „survivor-Figuren“ und „Zeugen von etwas Traumatischem“. Diese letztere Kategorie bleibt vage: Handelt es sich bei den Zeugen um selbst Traumatisierte? Dann müsste man freilich von survivor-Figuren sprechen. Handelt es sich also um bloße Beobachter eines (für andere) traumatischen Ereignisses? Dann wäre allerdings fraglich, ob man im Zusammenhang mit deren Erleben überhaupt noch von einem Trauma sprechen kann. Zumindest zwei der drei Protagonisten, die Müller bespricht, sind Kandidaten für diese Kategorie. So zitiert die Charakterisierung von Oskar Schell, dem Protagonisten von Extremely Loud & Incredibly Close, fast wörtlich die Definition des Zeugen, um ihn alsbald doch wieder als Traumaopfer, also als survivor, zu profilieren. Die Unschärfe des medizinisch-psychologischen Diskurses überträgt sich hier auf die literaturwissenschaftliche Analyse. Dies ist vor dem Hintergrund des anvisierten pluralistischen Ansatzes an sich noch kein Problem; problematisch ist allerdings, dass die Arbeit, wenn sie die eigenen Prämissen konsequent umsetzte, Gefahr liefe, das Trauma – im übrigen gegen die Texte selbst, die die Erfahrungen ihrer Protagonisten unmissverständlich als traumatisch ausweisen – zu eben jener „negative[n] Erfahrung“ zu nivellieren, die doch gerade nicht Gegenstand der Studie sein soll.

Müllers Werkanalyse (John Banvilles The Sea; Jonathan Safran Foers Extremely Loud & Incredibly Close; Janice Williamsons Crybaby!,) bewährt sich insofern, als sie diesen Prämissen keinen allzu breiten Raum einräumt. Sie nimmt unausgesprochen eine konstruktivistische Perspektivierung vor, die nicht fragt, was das Trauma gemäß psychoanalytischer Modellbildung ist, sondern vielmehr fragt, was die jeweiligen Texte unter einem Trauma verstehen und wie sie es textuell konstruieren. Dabei ist die Arbeit weder durch Psychologeme überfrachtet noch erscheinen die Werke als bloße Zulieferer für den klinisch-psychologischen Diskurs. So fügen sich die Überlegungen zu abgerundeten Interpretationen, die nicht zuletzt auch gegenüber eben diesem Diskurs ihre Autonomie zu behaupten und kritische Fragen aufzuwerfen vermögen.

Das vierte Kapitel widmet sich John Banvilles The Sea (2005). Die Erinnerung des in seiner Jugend durch den Selbstmord einer Freundin traumatisierten Protagonisten ist, wie Müller detailliert darlegt, gebunden an und überformt durch Werke der bildenden Kunst; die solchermaßen entstehenden hybriden Erinnerungsbilder erweisen sich dem Spurensucher auf dem Weg in seine Vergangenheit als referentiell unhintergehbar. Intermedialität perspektiviert somit eine Weltentfremdung des Protagonisten, die Müller überzeugend als Symptom einer traumatischen Depersonalisierung und Derealisierung liest. Komplementär hierzu figurieren die Fotografien der kranken Ehefrau des Protagonisten eine autonome künstlerische Wirklichkeitskonstitution, die in der Ästhetisierung des ihr bevorstehenden Todes eine traumatische Erfahrung zu bewältigen sucht.

Eine zentrale Funktion für die Traumamodellierung in The Sea nimmt die verstorbene Jugendfreundin des Protagonisten ein, die dieser im Roman als „real“ anspricht und als Ursprung seines Selbstbewusstseins konzipiert. Dass in einer Welt der Simulakren just jener Figur Realität zugesprochen wird, die sterben wird und insofern auch als Figuration des Negativen gelesen werden kann, indiziert bereits eine Doppelbödigkeit des Romans, die über die „authentische Darstellung eines traumatisierten Menschen“ hinausgeht. Müller weist auf diese Doppelbödigkeit hin, bezieht sie aber explizit nicht in ihre Untersuchung ein: „Mir scheint“, so argumentiert sie, „dass der Roman […] mehr vermittelt als nur die Erkenntnisskepsis des modernen Menschen oder die generelle Unzuverlässigkeit von Erinnerungsprozessen“. Die theoretische Vorentscheidung, das Verhältnis von psychologischer und geisteswissenschaftlicher Traumaforschung als ‚harte’ Antithese zu profilieren und die psychologische und die epistemologische Dimension des Traumas als unvermittelbar zu setzen, führt hier indes zum Verzicht darauf, den Roman gerade als Versuch einer Vermittlung beider Positionen zu lesen. In Extremely Loud & Incredibly Close begegnet das Trauma in doppelter Gestalt: Einerseits muss sich der Protagonist mit dem Tod des Vaters beim Terrorangriff auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 auseinandersetzen, andererseits leben dessen Großeltern unter dem bleibenden Eindruck des Schreckens, den die Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg hinterlassen hat. Im Rahmen einer dem Trauma gewidmeten Studie würde man gerne mehr erfahren über die Funktion dieser Zusammenschau des Schreckens über die Zeiten hinweg. Differenziert und überzeugend indes nimmt sich die Deutung intermedialer Bezüge aus. Das Trauma, so Müller, findet sich gleichsam in den Zwischenräumen von Text und Bild. Letzteres ist hier durch eine Reihe von Fotos vertreten, die sich mal mehr, mal weniger eindeutig auf den Text beziehen lassen. Sie stellen eine „Rezeptionsirritierung“ dar, die Müller als Nachahmung traumatischer Strukturen auffasst, und  veranlassen den Leser zu einer unabschließbaren Deutungsarbeit, die das „durchgehende Thema des Romans“, die „Unsicherheit der Erkenntnis“ erfahrbar macht. Auch die künstlerische Gestaltung des Bildobjekts – Fokussierung, Kameraeinstellung, spezielle Bildtechniken et cetera – figuriert eine „traumatisierte Wahrnehmung“ und reflektiert die „Möglichkeit authentischer Repräsentation“. So gelingt dem Roman – dies eine der Pointen der Überlegungen Müllers – eine doppelte Lektüre, die das Trauma einerseits im Sinne eines working through distanziert und ihm im Zuge dessen einen Sinn zuweist, andererseits aber die Möglichkeit einer solchen Sinnzuweisung durch den als acting out begriffenen Umgang mit den Fotografien jeweils schon dementiert.

Nur lose in den Gesamtzusammenhang der Studie eingebunden und ungeachtet der Bezüge zum Folgekapitel letztlich nicht unabdingbar ist das sechste Kapitel zur „Visualität des Schweigens und des Unsichtbaren“. Das Kapitel präsentiert sich durchaus heterogen; zur Diskussion des (literarischen) Schweigens gesellt sich die freilich bereits eingangs erörterte Problematik, dass jegliche Thematisierung des Traumas die Gefahr einer Gewöhnung birgt, der Entstellung, Verharmlosung und Trivialisierung des Traumas entspringen können. An die Stelle der Werkinterpretation tritt die synoptische Darstellung nach diesen beiden Gesichtspunkten. Das führt gelegentlich zu Redundanzen: So wird Extremely Loud & Incredibly Close kursorisch erwähnt; Überlegungen zu Crybaby werden – leider ohne eigene Zwischenüberschrift, was die Auffindung erschwert – bereits vorweggenommen.

Das siebte Kapitel stellt mit Janice Williamsons Crybaby! die literarische Adaptation einer frühkindlichen Traumatisierung vor. Der autobiografisch inspirierte Text, den Müller dem „Genre de Scriptotherapy“ zuordnet, rekonstruiert den sexuellen Missbrauch, den die Autorin durch ihren Vater erfuhr. Die weitläufige Hinführung, die auf die Memory Wars der 1990er Jahre ausgreift, erweist sich als notwendig, da die Darstellungsstrategien des Textes auf eben diese Auseinandersetzung reagieren. Die Analyse des Textes selbst gerät demgegenüber eher kurz, vermag jedoch die Funktion intermedialer Bezüge überzeugend herauszustellen. Müller liest Crybaby! als écriture féminine im Sinne von Hélène Cixous: der Text erscheint dabei als Figuration des weiblichen Körpers. Strategien der Intermedialität wie das Einführen von Fotos oder eine ungewöhnliche mise en page figurierten indes ein „Aufbrechen“ eben dieses Körpers, mittels dessen die eigentlich unsichtbare Verwundung wahrnehmbar würde, und werden dadurch „zu Zeugen der Unverfügbarkeit der eigenen Geschichte“; letzteres in intellektualistischer Manier, sodass eine affektiv-identifizierende Lektüre, wie sie für die „sensational autobiography“ kennzeichnend sei, unterbunden würde. Von zentraler Bedeutung ist dabei das Schweigen als Reaktion auf die traumatische Erfahrung, das in Form von visuellen und auditiven Leerstellen in das Buch Eingang findet.

Angesichts der material- und ideenreichen Analysen wäre abschließend jener „detaillierte […] Ergebnisertrag“, auf den die Autorin zugunsten eines suggestiven Ausblicks auf intermediale Strategien im Kontext der Darstellung der Flüchtlingskrise und in postkolonialer Literatur verzichtet, durchaus interessant gewesen. Bereichernd wäre dieser einerseits, weil die Studie sich,wie Müller eingangs erläutert, zum Ziel setzt, Intermedialität erstmals als Verfahren der Traumadarstellung systematisch darzustellen: Dieser systematische Charakter kommt in Einzelanalysen naturgemäß weniger zur Geltung; und andererseits, weil sich als gemeinsamer Nenner der Traumadarstellung in den drei Romanen eben doch jene Krise der Repräsentation herausstellt, die Müller als allzu einseitige, die besondere Erfahrungsqualität des Traumas schmälernde Perspektivierung profiliert. Das hätte durchaus Anlass sein können für die Frage, wie denn nun diese Texte die Entgrenzung des Schreckens auf ein Universales konzipieren oder gar legitimieren.

Diese kritische Anmerkung soll das Verdienst der Dissertation von Alexandra Müller keineswegs schmälern. Ihre lesenswerte Studie bietet nach einer ausführlichen, kenntnisreichen Darstellung des Forschungsstandes ein facettenreiches Spektrum an überzeugenden Analysen zu Texten, die sich neben klassischen Traumathemen wie Krieg, Terrorismus oder sexueller Gewalt auch einigen Themen widmet, die womöglich weniger naheliegen – wie Selbstmord im Freundeskreis oder der Geburt eines toten Kindes. Gerade dieses zuletzt genannte Thema lässt deutlich werden, dass auch die kulturwissenschaftliche Traumaforschung entgegen der Selbsteinschätzung, durch übermäßige Anverwandlung des Themas der Entstellung und Trivialisierung des Traumas entgegenzuarbeiten, noch immer tote Winkel kennt. Es ist nicht zuletzt auch ein Verdienst dieser Arbeit, den Blick auf einen dieser toten Winkel zu lenken.

Titelbild

Alexandra Müller: Trauma und Intermedialität in zeitgenössischen Erzähltexten.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2017.
279 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783825367459

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