Ein Leben in achtundneunzig Sätzen

Silke Stamms „Besser wird es nicht – Achtundneunzig Arten, eine Antwort zu erhalten“ ist formal unkonventionell, sprachlich verdichtet und äußerst gelungen

Von Leon F. HuffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Leon F. Huff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie erzählt man von einem ganzen Leben? Von Kindheit und Elternschaft, Freund- und Liebschaften, Frust, Verlust, Verzweiflung und dem kleinen und großen Glück? Man kann damit hunderte, tausende Seiten füllen, ohne sich einer überzeugenden, ganzheitlichen Darstellung auch nur anzunähern. Man kann es aber auch so angehen wie die Hamburger Autorin Silke Stamm. In Besser wird es nicht – Achtundneunzig Arten, eine Antwort zu erhalten führt sie durch das Leben ihrer Protagonistin in knapp einhundert hochkomprimierten Kurztexten. Die sind mal wenige Zeilen, mal mehr als drei Seiten lang und in ihrer Form kaum präzise zu benennen. Der Verlag bezeichnet sie als „Ein-Satz-Kompositionen“, was nach Unabhängigkeit klingt, aber auch als „Kapitel“ und „Episoden“, was den inneren Zusammenhang betont. Letztendlich ist es genau diese Nicht-Zuordnung, mit der Stamm ein Kunstgriff gelingt – in ihrem Buch kann jeder Text für sich alleine stehen und es ergibt sich doch ein ebenso komplexer wie in sich stimmiger literarischer Kosmos.

Die Texte folgen, meist chronologisch angeordnet, dem Leben der Protagonistin von Kindheitstragödien, Jugendfreundschaften, langen Reisen und nahezu endlosen Beziehungswirren bis hin zum Leben mit den eigenen Kindern. Stellenweise wird die Chronologie auch durchbrochen; dann werden etwa einzelne Reisen über mehrere Kapitel ausgebreitet und zwischendurch von Episoden unterbrochen, die zu anderen Zeitpunkten spielen, oder man kehrt im fünfzigsten Kapitel noch einmal ins Kinderzimmer zurück, nachdem man im dritten schon an der Uni war. Die Anordnung wirkt dabei keineswegs willkürlich. Sie zeigt beispielswiese, dass einen manche Themen nicht loslassen – wie die Familienkonflikte der Kindheit, die noch im Erwachsenenleben präsent sind. Insgesamt ist hier selten entscheidend, was genau geschieht. Von Bedeutung ist vielmehr, wie es erlebt wird, welche Fragen verhandelt werden und welche Motive sich häufen. Auch deswegen macht die Autorin mit diesem fein ausbalancierten Gleichgewicht zwischen Chronologie und Zeitsprüngen alles richtig.

So geschickt wie beim Aufbau des gesamten Buchs geht Stamm auch bei der Konstruktion der Einzeltexte vor. In wenigen Worten gelingt es ihr, lebendige Situationen zu erschaffen und ganze Handlungsbögen in einzelnen Sätzen unterzubringen. Immer wieder wird man dabei von einer erschreckenden Wende überrumpelt, zum Beispiel im ersten Kapitel:

„An einem sehr heißen Urlaubstag mit den beiden jüngeren Brüdern und dem Vater im Kanu den trägen Inn flussabwärts zu treiben, während die Mutter die Verwandtschaft in Bad Tölz besucht; sich gegenseitig nasszuspritzen, bis der Jüngste sich zum Wasserschöpfen auf den Bootsrand setzt, hineinfällt und mit einem Jauchzen untergeht, vom anderen Ufer Rufe und Gelächter der Badenden zu hören, das auch nach drei und auch nach fünf Minuten nicht endet, in denen nur der Vater wieder auftaucht, prustet und erneut abtaucht; mit einem Bruder und dem Vater zur Mutter zurückzukehren, die von da an nicht mehr spricht.“

Die ungewöhnliche grammatische Struktur, die sich hier zeigt, haben alle achtundneunzig Texte des Buches gemeinsam. Stamms Ein-Satz-Kompositionen sind eigentlich nur Reihungen von Infinitivsätzen, also Nebensätze ohne Hauptsatz. Die Protagonistin tritt dadurch nicht explizit hervor, wie sie es bei klassischer Ich-Erzählweise („Ich treibe an einem sehr heißen Urlaubstag den Inn flussabwärts…“) täte. Das ist eine kluge Strategie, denn sie verleiht dem Buch nicht nur einen ganz eigenen Stil, sondern unterstreicht auch den impliziten Anspruch der Texte, von mehr zu erzählen als dem Leben einer Einzelperson. Noch deutlicher wird das an anderer Stelle: „Eine mutige Nachricht zu verschicken, nach zwei Wochen dann eine vergrätzte, nach weiteren fünf Wochen eine betont unverbindliche, und ein paar Tage später seine Antwort zu erhalten: schön, von dir zu hören.“ Stamms Zeilen haftet etwas Allgemeingültiges an und – durch das Fehlen von Verben, die das Tempus festlegen – auch etwas Zeitloses. Immer schwingen allseits bekannte Grundkonflikte und damit verbundene übergeordnete Fragen mit. Es wird nicht nur von einem Leben erzählt, sondern immer auch ein bisschen von dem Leben (oder zumindest von vielen Leben, wenn einem das zu hoch gegriffen ist).

Durch den unkonventionellen Satzbau verliert man manchmal den Überblick, wenn die Sätze länger und verschachtelter werden. Doch das ist gut, denn es zwingt zur Aufmerksamkeit, und dieses Buch sollte man unbedingt mit wachem Kopf lesen. Stamms Sprache ist enorm verdichtet; jedes Wort, jeder Halbsatz kann hier eine eigene Geschichte erzählen oder die entscheidende Information beinhalten, die einem nicht entgehen darf. Jeder Satz hat einen eigenen Spannungsbogen, bei dem man nicht durchatmen kann, bis das letzte Wort gelesen ist, und anschließend erst einmal innehalten muss.

Was bleibt dabei inhaltlich hängen? Und wie ist der Titel zu verstehen, dieses doppeldeutige Besser wird es nicht, das je nach Lesart eine Botschaft des höchsten Glücks oder der Resignation sein kann? Dieses Buch lässt einen, wenngleich die Mehrdeutigkeit zweifelsohne gewollt ist, oft zur desillusionierten Version tendieren. Als der Satz Besser wird es nicht im letzten Kapitel im positiven Sinne fällt und die Protagonistin zustimmt, weiß man nicht so recht, ob man ihr glauben soll. Denn es sind selten die reinen Glücksmomente, die in diesem Buch beschrieben werden. Eine bedrückende Fülle verpasster Chancen und zwischenmenschlichen Scheiterns sorgt dafür, dass kaum eine der auftretenden Personen in einem positiven Licht erscheint. Muss es denn wirklich noch eine gescheiterte Nur-fast-Beziehung und noch eine Geschichte über Untreue sein, möchte man Stamm phasenweise zurufen. Wahrscheinlich lautet die Antwort aber: Ja. Besser wird es nicht, auch wenn man das zunächst nicht wahrhaben will. Mit Resignation hat das allerdings nichts zu tun, höchstens mit Akzeptanz. Für Resignation ist die Lesefreude bei diesem Buch viel zu groß. Silke Stamm zeichnet in besonderer, konsequenter Form mit beeindruckendem Geschick ein vielschichtiges Bild des Lebens ihrer Protagonistin, in das es sich definitiv einzutauchen lohnt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Silke Stamm: Besser wird es nicht. Achtundneunzig Arten, eine Antwort zu erhalten.
PUNKTUM Bücher!, Hamburg 2017.
148 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783981713190

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