Sie zählte 1380 Sekunden

Bettina Wilpert gibt mit dem Roman „nichts, was uns passiert“ ihr schwermütiges und wichtiges Debüt

Von Michelle HegmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michelle Hegmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was im Herbst 2017 mit mehr als 100 Anklagen gegen einen amerikanischen Filmproduzenten begann, entwickelte sich prompt zu einer weltweiten Debatte über sexuelle Belästigung und Gewalt. In den sozialen Medien teilten innerhalb von 24 Stunden mehr als 4,7 Millionen Menschen ihre eigenen Erfahrungen unter dem Hashtag #MeToo. Ein Jahr später äußern sich nach wie vor insbesondere Frauen zu einem Thema, das die Gesellschaft gerne verschweigt. Betrachtet man die niedrige Zahl der jährlich angezeigten Vergewaltigungen in Deutschland, von denen es wiederum nur bei acht Prozent zu einem Prozess kommt, bleibt die Dunkelziffer der tatsächlichen Übergriffe nur zu erahnen.

Die Folgen einer Misshandlung für Opfer, Täter und das soziale Umfeld behandelt Bettina Wilpert in ihrem Debütroman, den der Verbrecher Verlag rechtzeitig zur #MeToo-Diskussion veröffentlicht. Darin widerspricht sie dem Vorurteil, Sexualstraftaten ereigneten sich durch Fremde in dunklen Gassen, und macht die Illusion zunichte, Vergewaltigungen würden immer nur anderen Menschen angetan und seien „nichts, was uns passiert.“

Leipzig, Sommer 2014: Während die deutsche Nationalelf für eine bundesweite Euphoriewelle sorgt, lernen sich bei einer Fußballübertragung die extrovertierte Anna und der stille Jonas kennen. Sie studiert Translationswissenschaften, Russisch und Spanisch, er promoviert über ukrainische Popliteratur. Ersten Gesprächen über ihr literarisches Interesse folgen zufällige Begegnungen auf dem Campus, abendliche Treffen im Clara-Zetkin-Park und schließlich eine unverbindliche Nacht miteinander. Nach einigen Wochen treffen sich die Beiden auf der Geburtstagsfeier des gemeinsamen Freundes Hannes wieder. Nach exzessivem Alkoholkonsum kann Anna bald ohne fremde Hilfe kaum noch stehen, weshalb die zwei Freunde sie in Jonasʼ WG-Zimmer bringen. Dort kommt es zur zweiten sexuellen Begegnung zwischen Anna und Jonas, die für beide fatale Folgen haben wird, denn: Sie sagt, sie wurde vergewaltigt. Er sagt, es war einvernehmlicher Geschlechtsverkehr.

Im Protokollstil setzt sich der Roman mit unterschiedlichen Wahrnehmungen und Urteilen der besagten Nacht und der darauffolgenden Monate auseinander, die abwechselnd von Familien, Freunden, Arbeitgebern, Ex-Partnern sowie Bekannten aus Annas und Jonasʼ Umfeld wiedergegeben werden. Sachlich, knapp und auf die wichtigsten Informationen konzentriert, beleuchtet das Protokoll verschiedene Standpunkte der Zeugen. Die Erzählerinstanz bleibt de facto anonym, es könnte sich gleichermaßen um eine Reporterin, einen Polizeibeamten oder Anwalt handeln, der Interviews führt und sich dabei konsequent neutral zeigt. Dieser gesichtslose Protokollant bietet damit durchgängig gegensätzliche Aussagen aller Beteiligten und überlässt den Rezipient*innen die Entscheidung, wem sie Glauben schenken. Doch wie verlässlich können Beobachtungen von Freunden sein, die zur Tatzeit von Alkohol und Marihuana berauscht waren? Wie glaubhaft ist die Beteuerung einer Mutter, ihr Sohn sei Feminist, demnach „einer von den Guten“, und zugleich die einer Schwester, die in Annas Depression den Beweis einer Vergewaltigung sieht? Kann die Behauptung einer konservativen Mitbewohnerin überzeugen, die häufigen One-Night-Stands seien eine Bestätigung, dass Anna freiwillig Sex mit Jonas hatte?

Über allem schwebt die zentrale Frage: Wie ist ein Urteil zu fällen, wenn das mutmaßliche Opfer schildert, es habe sich gewehrt, mehrfach nein gesagt und geweint, wohingegen der vermeintliche Täter angibt, er habe nichts gegen den Willen der Frau unternommen und ein Kondom benutzt?

Trotz des nüchternen Erzählstils gelingt Wilpert eine Intensität, die lange nachklingt und über die Lektüre hinaus weiter verunsichert. Wenngleich die Autorin auf einen typisch reißerischen Aussage-gegen-Aussage-Plot üblicher Spannungsliteratur verzichtet, spielt sie dennoch mit dem Unwissen und den ambivalenten Gefühlen der Rezipient*innen – mit Erfolg. Ergreift man nach der folgenschweren Nacht Partei für Anna, der als „Opfer“ ein höherer Schutz als dem „Täter“ zusteht, bleibt zunächst kein Zweifel an dieser Entscheidung, denn „wenn das Opfer es als Vergewaltigung empfand, war es eine.“ Sie beschreibt den eigentlichen Missbrauch auch am detailliertesten: Nach anfänglicher Gegenwehr begreift sie, dass Jonas stärker ist und gibt schließlich auf. Sie fängt an zu zählen und weiß seitdem, „dass 1380 Sekunden 23 Minuten sind.“ Die darauffolgende Isolation von Familie und Freunden, ihre Depression und Wut verstärken die Empathie zu ihr noch.

Doch nach kurzer Zeit gerät dieses vermeintlich zuverlässige Urteilsvermögen ins Wanken angesichts des Entsetzens und der Verzweiflung von Jonas, dem die ganze Situation völlig surreal erscheint. Zunächst vermutet er hinter der Vergewaltigungs-Anzeige einen großen Irrtum, war der Sex doch einvernehmlich und Anna danach noch stundenlang bei ihm gewesen. Dass sie erst nach zwei Monaten Anzeige erstattet und ihn zwischenzeitlich um ein weiteres Date gebeten hat, sieht er als weitere Beweise seiner Unschuld. Als ihm der Ernst der Lage jedoch bewusst wird, haben Gerüchte bereits weite Kreise gezogen, was sein Leben grundlegend verändert. Die Universität entlässt ihn als wissenschaftlichen Mitarbeiter, er erhält Hausverbot in seiner Stammkneipe „M16“ und viele Bekannte meiden ihn. Jonas fühlt sich verurteilt, stigmatisiert und muss feststellen: „Ein mutmaßlicher Sexualstraftäter hat es in dieser Gesellschaft nicht leicht.“

Somit taumeln die Leser*innen immerfort zwischen Mitgefühl für Anna und Verständnis für Jonas. Vermutlich bleiben sie nach allen Zeugenaussagen genauso ratlos zurück wie Hannes, der als Einziger mit beiden Betroffenen eng befreundet ist. Er kann sich in seiner ehrlichen Freundin Anna genauso wenig eine Lügnerin vorstellen wie einen Vergewaltiger in seinem Kumpel Jonas, der sich Frauen gegenüber niemals schlecht benommen hat. Der Zwiespalt in Hannes reflektiert die Unsicherheit der Leser*innen während und nach der eigenen Lektüre.

Sexuelle Belästigung und Vergewaltigung stellen ein theoretisches Problem dar, von dem man immer wieder hört und liest, aber für das es keinen Raum in der eigenen Realität gibt – bis es in den persönlichen Freundes- und Familienkreis einbricht. Diesem emotionalen Thema, an dem sich Schriftsteller auch heftig die Finger verbrennen können, nähert sich Wilpert auf sensible Weise, ohne das Ausmaß der psychischen Belastung beider Seiten zu verharmlosen. Sie widmet jeder ihrer Figuren die gleiche Aufmerksamkeit, erfasst jeden Blickwinkel, ohne dabei Partei zu ergreifen. Trotz einfacher Satzkonstruktionen und schmucklosen Ausdrucks schildert Wilpert glaubhaft und feinfühlig die psychologischen sowie juristischen Prozesse nach einer Vergewaltigung.

Dass Anna trotz ihres Mutes, Anzeige zu erstatten, von vielen Kommiliton*innen als Falschbeschuldigerin gebrandmarkt wird, lässt anklingen, weshalb sich etliche Frauen außer Stande sehen, in der Öffentlichkeit über ihren sexuellen Missbrauch zu reden. Die zunehmend hitzige Diskussion über Sexisten, Victim blaming und die Frage, ob Männer einer Frau überhaupt noch Komplimente machen dürfen, vermittelt mitunter den Eindruck, man habe aus dem Blick verloren, worum es bei sexualisierter Gewalt und ihren Auswirkungen tatsächlich geht. Hierzu trifft eine von Annas Aussagen mitten ins Herz der #MeToo-Debatte:

Dass sie sich nicht als Opfer fühlte. Sie mochte dieses Wort nicht. Es klang passiv. Trotzdem blieb sie an dem Begriff Opfer kleben, lutschte ihn, spuckte ihn wieder aus: Opfer kommt von opfern. Sie hat Jonas nichts geopfert. Er hat sich genommen, was er wollte. Hat ihren Willen, ihr Nein nicht akzeptiert. Das war vielleicht das Schlimmste: dass er sich über sie hinweggesetzt hat. Über ihren Körper, ihre Selbstbestimmung. Jetzt, wo alles schon länger her ist, sagte Anna, versteht sie allmählich die psychologischen Mechanismen und was eine Vergewaltigung so schlimm macht: nicht die Gewalt selbst. Sondern die Gewalt, die sich über die körperliche Selbstbestimmung hinwegsetzt. Vielleicht war sie doch ein Opfer.

Eben dies möchte die Autorin nicht vergessen lassen und verweist auf den psychischen Schmerz der Opfer, der über die körperliche Gewalt weit hinausgeht. Es ist dabei irrelevant, dass die Personen im Roman nicht real sind – denn sie könnten es sein und ihre Geschichte könnte sich genauso ereignet haben. Viel wichtiger ist, dass sich viele in ihnen wiedererkennen können und die Notwendigkeit sehen, über das zukünftige Miteinander von Männern und Frauen zu sprechen.

Schlussendlich wird klar, dass Wilpert ihren Leser*innen mit nichts, was uns passiert keineswegs ein Rätsel aufgeben möchte – denn ein Roman mit solch sensiblem Sujet kann keine Lösung bieten. Vielmehr thematisiert sie die juristischen, psychologischen und gesellschaftlichen Folgen einer Vergewaltigung, wenn ein Opfer die Kraft aufbringen kann, Anzeige zu erstatten. Auf 170 Seiten stellt die Autorin die richtigen Fragen und verarbeitet Vorurteile, Stereotypen und Mechanismen rund um sexuellen Missbrauch auf brillante Weise literarisch. Der 29-jährigen Bettina Wilpert steht damit gewiss eine vielversprechende Schriftsteller-Laufbahn bevor.

Der Roman ist trotz einfacher Sprache ein schwermütiges und gelungenes Debüt, das Anerkennung verdient. Es legt den Finger in eine schon immer dagewesene Wunde, die in Zeiten von Missbrauchsskandalen wie in Hollywood, Pennsylvania, Olympia-Teams und der katholischen Kirche immer aufs Neue aufreißt – und durch die #MeToo-Debatte vielleicht endlich zu heilen beginnen kann. Das öffentliche Gespräch ist ein erster Schritt zur Selbstbestimmung. Möglicherweise ist es sogar das Fundament für eine aufgeklärtere Gesellschaft, in der eines Tages Vergewaltigung tatsächlich nichts ist, was uns passiert.

Titelbild

Bettina Wilpert: nichts, was uns passiert. Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2018.
167 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783957323071

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