Haben Menschenrechte ein Geschlecht?

Ein von Carola Sachse und Roman Birke herausgegebener Sammelband widmet sich der Geschlechtergeschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Menschenrechte haben kein Geschlecht“, konstatierte die große Feministin Hedwig Dohm im 19. Jahrhundert. Das war damals sicherlich eine notwendige Feststellung. MenschenrechtsforscherInnen des 21. Jahrhunderts würden sie so allerdings wohl nicht mehr unterschreiben, wird doch seit dem 20. Jahrhundert die Frage diskutiert, ob es frauenspezifische Menschenrechtsverletzungen gibt. Zu denken wäre etwa an Gebärzwang für Schwangere gleichkommende Abtreibungsverbote.

Den menschenrechtspolitischen und -theoretischen Diskussion des 20. Jahrhunderts über Menschenrechte und Geschlecht widmen sich die „historischen Studien“ eines 2018 von Carola Sachse und Roman Birke herausgegebenen Sammelbandes. In ihrer Einleitung weisen die beiden HerausgeberInnen zunächst darauf hin, dass „Menschenrechtskataloge“ überhaupt erst seit dem 18. Jahrhundert erstellt werden. Die in ihnen erstmals zur Zeit der Aufklärung „deklarierten Gleichheitsrechte“ wurden zwar „unter Berufung auf ihre als selbstverständlich postulierte universelle Gültigkeit legitimiert“, der damit einhergehende „Anspruch auf Universalität war aber bereits zum jeweiligen Zeitpunkt seiner Formulierung zum Scheitern verurteilt“. Denn von Beginn an sah er sich mit Gesellschaften und sozialen Schichten konfrontiert, „deren Mitglieder keineswegs als gleich erachtet“ wurden. Vielmehr wurden sie etwa nach „Klassen oder Schichten“, nach „ethnischen, kulturellen und religiösen Zugehörigkeiten“ und nach Geschlecht unterschieden. Ebendarum besaß der menschenrechtliche Anspruch auf universelle Gültigkeit von jeher ein ausgesprochen „subversives Potential“.

Angehörige verschiedener dieser gesellschaftlichen Gruppen, insbesondere Frauen, haben immer wieder „menschenrechtliche Argumentationen genutzt“, „um ihre Forderungen nach besseren politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen zu begründen“. Dass „die Geschlechtergeschichte der Menschenrechte“ über die Jahrhunderte hinweg dennoch durch „nicht eingelöste Versprechen, unauflösliche Widersprüche, politische und kulturelle Rückschläge“ geprägt ist, kann wenig verwundern. Zumal „Versuche, Frauen als ein auf global ähnlichen Unrechts-, Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen basiertes Kollektiv zu konstruieren“, immer wieder scheiterten.

Die Studien des vorliegenden Bandes machen deutlich, dass Forderungen nach Geschlechtergleichheit besonders „geeignet sind, die widersprüchliche Komplexität von Menschenrechtsvorstellungen in der Geschichte auszuloten“. Allerdings müssen sie hierzu „sorgfältig historisiert“ werden. Zudem erweist sich Geschlecht als „produktive, Kategorie“, um Thesen der historischen Menschenrechtsforschung „zu überprüfen und gegebenenfalls zu erweitern“.

Bei den Beiträgen des Bandes handelt es sich zwar um „Einzelstudien“, die „nur einzelne Facetten eines allenfalls in seiner Gesamtheit zu erahnenden Bildes“ beleuchten, dennoch lassen sie aus historischer Perspektive ein „vierfaches Dilemma“ menschenrechtlicher Argumentationen für Frauenrechte hervortreten. Zum ersten wurden Frauen zunächst schlichtweg „aus der Kategorie Mensch ausgeschlossen“ oder es waren ausschließlich Männer gemeint, „wenn eigentlich von allen Menschen die Rede war“. Dass Frauen ihre qua Geschlecht „besonderen Rechts- und Schutzbedürfnisse als Menschenrechte einfordern“, steht zum zweiten nicht selten in einem mehr oder weniger starken Spannungsverhältnis zu dem ebenfalls von ihnen erhobenen „Gleichheitsanspruch“. Drittens erweist es sich als problematisch, dass Frauen „als Individuen einerseits und Angehörige von Familien(verbänden) und Religionen andererseits Subjekte und Objekte widerstrebender und zum Teil unvereinbarer Menschenrechte sind“. Seit der zweiten Welle der Frauenbewegung in den 1970er Jahren kommt als viertes Dilemma hinzu, dass die „Allgemeingültigkeit weiblicher Identität“ nicht zuletzt von Seiten der auch feministisch inspirierten Geschlechterforschung „zunehmend infrage gestellt“ wird.

Die neun Beiträge des Bandes sind in drei Gruppen aufgeteilt: „Frauenrechte und Menschenrechte im internationalen Kontext“, „Regionale Frauen- und Menschenrechtsdiskurse im Kalten Krieg“ sowie „Feministische Kritiken an Politik und Semantik der Menschenrechte“.

Irene Stoeher vergleicht etwa das Menschenrechtsverständnis zweier in der Bundesrepublik der 1950er Jahre aktiven Frauenorganisationen, dem seinerzeit vergleichsweise großen Dachverband Deutscher Frauenring (DFR) und der eher „randständigen“ Weltorganisation der Mütter aller Nationen (W.O.M.A.N.), während Celia Donert in ihrem bereits 2013 in englischer Sprache erstmals publizierten Beitrag den „osteuropäischen Frauenrechtsaktivismus zwischen 1945 und 1970“ untersucht. Karin Riegler blickt hingegen über den Atlantik und wendet sich der „Affirmative Action als Instrument zur Förderung der Gleichberechtigung im Erwerbsleben der Vereinigten Staaten“ zu. Franziska Martinsen geht Weiblichkeitsstereotypen in internationalen Menschenrechtsabkommen und UN-Deklarationen seit 1970 nach. Mitherausgeber Roman Birke befasst sich mit den „Menschenrechtsvorstellungen“ Eleanor Roosevelts, die in den ersten Jahren nach Gründung der Vereinten Nationen als eine „zentrale Repräsentationsfigur“ der Menschenrechtspolitik der UN gilt. Hierzu wertet er Roosevelts zwischen 1935 und 1962 unter dem Titel My Day verfassten Kolumnen systematisch aus.

Brigitta Bader-Zaar beantwortet die Frage, ob das „Frauenwahlrecht als Menschenrecht“ eingefordert werden kann und legt dar, warum es „noch heute ein Sonderfall unter den Menschenrechten“ ist. Hierzu zieht sie die Argumentation der Frauenrechtsbewegung um 1900 und aus den 1960er bis 1980er Jahren die beiden „Fallbeispiele“ Schweiz und Lichtenstein heran. Zwar wurde das Frauenwahlrecht nach dem Ersten Weltkrieg in verschiedenen Parlamentsdebatten als Menschenrecht bezeichnet, wie die Autorin zeigt, „hatten das Ideal der Gleichheit oder gar Menschenrechte“ jedoch „eine wesentlich geringere Bedeutung für die Realisierung politischer Partizipationsrechte von Frauen als Fragen der politischen Zweckmäßigkeit und Machtverhältnisse“.

Einem ganz anderen Thema wendet sich Regula Ludi zu. Anhand einer Eingabe, die 1934 bei der Rechtssektion des Völkerbundes einging, geht sie in ihrem sehr erhellenden Beitrag der „Bedeutung der Menschenrechtssprache im Völkerbund“ nach. Die Eingabe forderte, der Bund solle die „Stellung der Frau als internationales Problem anerkennen und auf die Tagesordnung der nächsten Vollversammlung setzen“. In der „etwas eigentümlich formulierten Einleitung“ der Eingabe wird zunächst kontrafaktisch behauptet, „that the League of Nations is an international organisation designed to defend human rights“, um sodann auf die Dringlichkeit hinzuweisen, „that the League take cognizance of the present widespread and alarming encroachment upon the rights and liberties of women“. Hiervon ausgehend stellt Regula Ludi einige instruktive „Überlegungen zur Bedeutung der Menschenrechtssprache im Völkerbund“ und zur „Frage nach der politischen Funktion der Menschenrechtssprache für Frauenorganisationen und zentrale Forderungen feministischer Aktivistinnen“ an. Die Autorin kommt zu dem überzeugenden Schluss, die Eingabe von 1934 habe dazu beigetragen, einen „neuen normativen Referenzrahmen auf[zuspannen], der Raum für die radikale Gleichheitsforderung bot und sie mit dem Anschein von Normalität versah“.

Ebenfalls sehr aufschlussreich ist  Anke Graneß’ Beitrag zu den außerhalb der einschlägigen Forschung wenig bekannten „Perspektiven auf den Menschenrechtsdiskurs“ afrikanischer Feministinnen. Zugleich verdeutlicht sie die Konsequenzen des „ethnologischen Blicks“. Zu Beginn ihres Aufsatzes weist die Autorin darauf hin, dass mit der universalistischen ‚westlichen‘ UN-Menschenrechtserklärung mindestens sechs weitere konkurrieren, die von ihr als „regionale Menschenrechtserklärungen“ bezeichnet werden. Die bekannteste von ihnen dürfte die 1990 formulierte Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam sein. Sie und die anderen fünf teilen eine grundsätzliche Gemeinsamkeit: „Im bewussten Gegensatz“ zu derjenigen der UN stellen sie „den Wert der Gemeinschaft über den des Individuums“ und betonen die gesellschaftlichen Pflichten letzterer mindestens ebenso sehr wie ihre durch „traditionelle und kulturelle Werte“ eingeschränkten Rechte. Damit, so ließe sich anmerken, stellt sich allerdings die Frage, mit welchem Recht sie überhaupt als Menschenrechtserklärungen und nicht als Pflichtenkataloge deklariert werden.

Im Zentrum des Beitrags von Graneß aber stehen die Menschenrechtsansätze der beiden „feministischen afrikanischen Theoretikerinnen“ Nkiru Nzegwu (Nigeria) und Fareda Banda (Simbabwe), bei deren kritischer Würdigung linguistische Fragen ebenso eine Rolle spielen wie „die Organisation der vorkolonialen Igbo-Gesellschaft“ in Nigeria und die ‚westliche‘ „Fehlinterpretation der historischen Rolle der afrikanischen Frau“. Abschließend legt Graneß dar, „warum eine Einschränkung individueller Rechte auf der Basis traditioneller kultureller Werte problematisch ist“. Die Lektüre von Graneß’ hochinformativem Aufsatz ist nicht nur all jenen wärmstens zu empfehlen, denen Afrika noch immer als ‚schwarzer Kontinent‘ gilt.

Problematisch hingegen ist der Beitrag von Sonja Dolinsek. Das gilt bereits für die im Titel ihres Aufsatzes aufgemachte Alternative „Haben Prostituierte Menschenrechte oder ist Prostitution eine Menschenrechtsverletzung?“, da er nicht in den Blick geraten lässt, dass Prostitution eine Menschenrechtsverletzung ist, die an Prostituierten als Trägerinnen von Menschenrechten begangen wird. Wie könnte Prostitution überhaupt eine Menschenrechtsverletzung sein, wenn Prostituierte keine Menschenrechte hätten? Allerdings weiß auch die Autorin, dass „es keine logische oder historische Notwendigkeit gibt, die Verurteilung der Prostitution mit der Zurückweisung von Rechten für Prostituierte zu verknüpfen“.

Dolinseks Interesse gilt ausschließlich dem Menschenrechtsdiskurs über Prostitution. Die Prostitutionswirklichkeit, anhand der die Frage, ob es sich bei Prostitution um eine Menschenrechtsverletzung handelt, allein beantwortet werden kann, bleibt hingegen außen vor. Dolinsek beschränkt sich darauf, „sich mit der Geschichte der Formulierung, Aushandlung und Differenzierung menschenrechtlicher Forderungen in Bezug auf Prostitution“ zu befassen. Dabei zeichnet sie den Diskurs nach, ohne die einander widerstreitenden Positionen zu werten. So scheint es jedenfalls zunächst. Der Subtext ihres Aufsatzes lässt allerdings überdeutlich hervortreten, dass sie sich an die Seite der ProstitutionsapologetInnen stellt.

Ins Auge sticht etwa, dass sie zwar die Positionen von Prostituierten-Vereinigungen vorstellt, diejenigen von Organisationen Prostitutionsüberlebender hingegen ausblendet. Das ist nicht unwichtig, weil es scheinen könnte, „selbstorganisierte Prostituierte“ und Vertreterinnen von „Graswurzel-Organisationen“, die Prostitution verteidigen, wüssten als Betroffene, wovon sie reden und besäßen somit eine höhere Autorität und eine größere ‚Sachkenntnis‘ als von außen argumentierende ProstitutionsgegnerInnen. Diese Schieflage hätte durch Überlebende-Organisationen wie etwa Sisters ausgeglichen werden können. Ganz abgesehen davon, dass zumindest hierzulande auch schon mal Bordellbetreiberinnen maßgebliche Funktionen in den sogenannten Prostituierten-Organisationen innehaben.

Dolinseks eigene Positionierung kommt des Weiteren darin zum Ausdruck, dass sie zwar Polemiken seitens der ProstitutionsgegnerInnen eingehend darstellt und beispielsweise dahingehend kritisiert, „dass die Positionen der Prostituiertenorganisationen“ von der ProstitutionskritikerInnen „mit dem Ausdruck pro-prostitution Lobby […] polemisch verzerrt“ würden. Ausführlich widmet sie sich in diesem Zusammenhang der Kritik von ProstitutionsgegnerInnen daran, dass Amnesty International „auf dem Recht von Prostituierten bestand, der Sexarbeit nachgehen zu können, ohne dafür kriminalisiert, stigmatisiert oder diskriminiert zu werden“. Die von den ProstitutionsgegnerInnen vorgebrachte Kritik hieran sei „konzeptionell verkürzt und polemisch“, moniert sie. Das mag in Teilen so sein. Verkürzt und polemisch aber ist auch die einseitige Darstellung Dolinseks, in der polemische Ausfälle von Seiten der ProstitutionsapologetInnen nicht im gleichen Maße dargestellt und moniert werden.

„In den sozialen Medien“, erklärt die Autorin stattdessen, „explodierte die Kritik mit Anfeindungen, dass Amnesty durch eine nicht weiter benennbare Zuhälter-Lobby oder pro-prostitution lobby bezahlt werde“. Derlei Unsinn ist in sozialen Medien sicherlich zu finden,  aber bekanntlich werden dort alle Arten von Falschmeldungen und Anfeindungen verbreitet – bis hin zu Vergewaltigungs- und Morddrohungen. Und zwar nicht selten gegenüber Feministinnen und Prostitutionsgegnerinnen. Doch Dolinsek beschränkt sich einseitig darauf, zu beklagen, dass Prostituierte, die „Forderungen nach der Anerkennung ihrer Menschenrechte [äußern], sich spätestens seit den frühen 1990 Jahren extremen Anfeindungen ausgesetzt“ sehen.

Im Übrigen ist die Prostitutions-Lobby entgegen der Behauptung der Autorin durchaus benennbar, sogar namentlich. Zwei Beispiele mögen genügen: Die von Alice Schwarzer herausgegebene Zeitschrift EMMA etwa bezeichnet im Heft sechs des Jahres 2014 die als Politikberaterin tätige Sprecherin des Berufsverbands erotische und sexuelle Dienstleistungen e.V.  Johanna Weber als „Frontfrau der LobbyistInnen der Prostitutionsbranche“. Weber selbst wiederum rühmt sich ihrer „sehr tiefen Einblicke in den Arbeitsalltag der Bundespolitiker“. Im gleichen EMMA-Heft wird außerdem der Sprecher des Unternehmerverbandes Erotik Gewerbe Deutschland e.V. Holger Rettig als „Bordell-Lobbyist“ porträtiert.

Schließlich behauptet Dolinsek gar, nach Auffassung von ProstitutionsgegnerInnen „können Frauen nur durch die Beendigung ihrer Tätigkeit als Prostituierte ihre Menschenrechte und Menschenwürde zurückerlangen, während sie als Prostituierte keine Menschenrechte haben“. Denn, wenn „bezahlte Sexualität per se als Rechte verletzend aufgefasst“ wird, „scheinen alle anderen menschenrechtlich begründeten Ansprüche der Prostituierten wie z. B. ein Recht auf Familie, Berufsfreiheit und Meinungsfreiheit wegzufallen, da diese als Rechtfertigung der als Menschenrechtsverletzung aufgefassten bezahlten Sexualität gedeutet werden“. Eine nähere Begründung für diesen angeblichen Zusammenhang sucht man vergeblich. Im Falle der Berufsfreiheit ließe sich vielleicht der Versuch einer solchen Begründung unternehmen. Doch nicht alles, womit ein Mensch seinen Lebensunterhalt bestreitet, ist Arbeit oder gar ein Beruf. Nicht von ungefähr spricht sie hier zudem vage von gekaufter Sexualität, ohne zwischen ‚Verkäuferin‘ und ‚Käufer‘ zu unterscheiden. Denn es ist letzterer und nur letzterer, der eine Menschenrechtsverletzung begeht. Die Behauptung, dass Prostituierten das Recht auf Familie abgesprochen werde, bezieht sich vermutlich auf den Vorwurf der Zuhälterei, der selbstverständlich auch dann zutrifft, wenn jemand seine Tochter, Ehefrau oder Geliebte auf den Strich schickt oder überhaupt seinen Lebensunterhalt durch deren Prostitution bestreitet.

Nicht alle Beiträge können also das größtenteils hohe Niveau des Bandes halten, der daher nur mit dem einen oder anderen Abstrich zu empfehlen ist.

Titelbild

Carola Sachse / Roman Birke (Hg.): Menschenrechte und Geschlecht im 20. Jahrhundert. Historische Studien.
Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
272 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835332461

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