Anschauliche Berichte über Streifzüge durch Deutschland vor 175 Jahren

Die deutschen Reisebriefe von Mary Shelley in einem Band

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die britische Schriftstellerin und Frankenstein-Autorin Mary Shelley (1797–1851) unternahm in Begleitung in den Jahren 1840, 1842 und 1843 zwei Reisen auf dem europäischen Kontinent, wobei das Hauptziel jedes Mal ihr „Sehnsuchtsland“ Italien war, wo sie viele Jahre gelebt hatte. Ihre Reiseeindrücke hielt sie in Briefen an einen fiktiven Adressaten fest. Sie erschienen 1844 zweibändig unter dem Titel Rambles in Germany and Italy in 1840, 1842 and 1843.

Auf den Hinreisen durchquerte Shelley Deutschland. Der vorliegende Band enthält nun – in deutscher Erstausgabe – ihre Deutschlandtexte, wobei die Reiseberichte aus dem Jahr 1842 die weit höhere Substanz und Aussagekraft besitzen und den Hauptteil der Neuerscheinung ausmachen. Trotzdem sind die Texte in chronologischer Reihenfolge angeordnet. In ihrem ersten Brief berichtet Shelley zunächst über ihr Vorhaben und die geplante Route. Im zweiten Bericht erreicht die kleine Reisegesellschaft, von Paris kommend, schließlich deutschen Boden, zunächst Trier, dann entlang der Mosel, wo sie sowohl die Ruinen herrschaftlicher Türme und Burgen bewundert, als auch die heruntergekommenen Dörfer, die armen Winzer-Hütten und die miserablen Hotels beklagt. Über Darmstadt, Heidelberg, Karlsruhe und Baden-Baden geht es nach Freiburg, das Shelley als „altertümlich, verwinkelt und pittoresk“ empfindet. Von hier aus kann sie jedoch schon einen Blick auf die entfernten Alpen erhaschen.

Ihre zweite Europareise beginnt 1842 in Antwerpen (und nicht in Amsterdam, wie in der Kapitelüberschrift angegeben), wo man natürlich Peter Paul Rubensʹ berühmtes Gemälde „Kreuzabnahme“ in der Liebfrauenkathedrale aufsucht. Nach Lüttich wird der Rheinabschnitt zwischen Köln und Koblenz in Augenschein genommen, wobei Shelley aber kaum über die Domstadt berichtet. Vielmehr widmet sie sich der „schönen Stadt Koblenz“ mit ihren „weiten, weißen, sauberen, ziemlich ungeordnet aussehenden Straßen“. Ausführlicher sind ihre Berichte auch über Bad Kissingen – wo sie sich für einen längeren Kuraufenthalt in der feinen Gesellschaft entscheidet. Allein in vier Briefen schildert sie hier ihre persönlichen Eindrücke – von ausgedehnten Abendspaziergängen oder vom Besuch des Königs von Bayern und der Königin von Württemberg in dem Badeort.

Von Kissingen führt die Reise nach Thüringen (Eisenach, Wartburg, Gotha, Erfurt und Weimar). In der Stadt an der Ilm besucht sie unter anderem die Wohnstätten von Christoph Martin Wieland, Friedrich Schiller und Johann Wolfgang Goethe, die sie aber nicht von Innen besichtigen kann. Goethe hat für sie auch nicht den „überragenden Status“, Schiller erscheint für sie der „bedeutendere Mann“ zu sein. Die Weiterfahrt nach Leipzig ist für Shelley ermüdend: Die abgeernteten Stoppelfelder hinterlassen bei ihr den Eindruck einer „stets gleichen einförmigen Landschaft“. Die nächsten Etappen werden überwiegend mit der Eisenbahn zurückgelegt. Im preußischen Berlin nimmt die Reisegesellschaft Unter den Linden Quartier. Neben den Sehenswürdigkeiten sind es vor allem die Museen der Stadt, die ihr Interesse in Anspruch nehmen. In den letzten Briefen schildert Shelley schließlich ihre Reiseeindrücke von Dresden (Besuch von verschiedenen Museen und Galerien) und der Sächsischen Schweiz. Per Kutsche geht es anschließend nach Prag.

Die anschaulichen Schilderungen (mit einigen historischen Illustrationen) sind auch nach 175 Jahren noch eine interessante und gleichzeitig vergnügliche Lektüre, vermitteln sie doch ein erhellendes Bild (über Landschaften, Orte, Geschichte, Literatur, Kunst und Sitten Deutschlands) in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Dabei kann man sogar manche aktuelle deutsche Merkwürdigkeit entdecken. Komplettiert wird die Ausgabe durch einige Anmerkungen zu den einzelnen Reisebriefen sowie ein Nachwort des Herausgebers und Übersetzers Michael Klein, das über Shelleys Biografie und die Hintergründe ihrer beiden Europareisen informiert. Daneben beleuchtet Klein die Entwicklung des Reisens, das sich damals durch Dampfschifffahrt und Eisenbahn deutlich verändert hatte. Auf den knapp 200 Seiten begegnet dem Leser jedenfalls immer wieder Shelleys Maxime: „Reisen ist gleichermaßen Bestätigung wie Unterhaltung“.

Titelbild

Mary Shelley: Streifzüge durch Deutschland. Reiseberichte.
Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Michael Klein.
Morio Verlag, Heidelberg 2018.
197 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783945424650

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