Die deutsche Revolution

Kraftwerk gilt als einflussreichste deutsche Musikband aller Zeiten. Ein Sammelband beleuchtet Aspekte ihrer Arbeit und ihres Wirkens

Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer beschreiben will, wie Popmusik „Made in Germany“ klingt, kommt seit 50 Jahren an ihnen nicht vorbei. Im Ausland, vor allem in den USA, gelten Kraftwerk als „die elektronischen Beatles“ und werden für ihren Innovationsgeist, ihre Präzision und ihre musikalische Kühnheit verehrt. Der Guardian nannte sie einst „the most influential band“ – eine Aussage, die vor dem Hintergrund aktueller Musikhörgewohnheiten durchaus stimmig ist. Denn während Gitarrenmusik seit Jahren in der Krise steckt, ist elektronische Musik omnipräsent. New Wave, Rap und Techno würde es ohne Kraftwerk womöglich gar nicht geben. Internationale Künstler wie David Bowie, Depeche Mode, Jay-Z, Red Hot Chili Peppers, Moby, Daft Punk oder R.E.M. haben sich schon früh als Fans der Düsseldorfer geoutet. Acts wie Madonna, Afrika Bambaataa, Missy Elliot und Kanye West sampelten ihre Songs und machten sie zu eigenen Hits. Kraftwerk gehört felsenfest zum Kanon der Musikgeschichte. Ihren Roboter-Sound bastelte die Band um die beiden Musikstudenten Ralf Hütter und Florian Schneider mit zum Teil selbst gebastelten Synthesizern und Effektgeräten. Dabei verfolgten sie die Philosophie der Music Concrète, des italienischen Bruitismus und die Ideen Karl-Heinz Stockhausens weiter. Sie zeichneten industriellen Lärm und Naturgeräusche auf und bearbeiteten sie im Studio. Der Welt gaben sie so eine Antwort auf die Frage, wie die Bundesrepublik klingt.

Uwe Schütte, Kulturwissenschaftler und Musikjournalist, ist Herausgeber des Essaybandes Mensch Maschinen Musik. Das Gesamtwerk Kraftwerk, der sich ausführlich mit Werk und Wirkung dieser Band auseinandersetzt. In 22 Texten beleuchten diverse Autoren – darunter neben dem Herausgeber die Autoren und Wissenschaftler Ulrich Adelt, Alexander Harden, Ralf Hütter, Alexander Kluge, Pavel Kracík, Ingeborg Schober, Eckhard Schumacher, Axel Winne und Olaf Zimmermann – den Werdegang Kraftwerks. Die Beiträge setzen sich mit der Geschichte dieser Band auseinander, erklären den Mythos, geben Antworten und diskutieren Fragen.

Der Aufbau des Buches ist chronologisch. Im ersten Teil der Kraftwerk-Studien wird die Diskografie in der Reihenfolge ihrer Entstehung abgearbeitet. Der Leser erfährt zunächst von der Bandgründung im amerikanisierten Nachkriegsdeutschland. Interessant ist die Analyse des Frühwerks, das heute weitgehend ignoriert wird – auch von der Band selbst. Denn die Aufnahmen zwischen 1969 und 1973 stehen noch ganz im Zeichen des Krautrocks. Kraftwerk sei damals „eine von vielen deutschen Bands gewesen“ und war wie diese „bestrebt im Zuge der 68er-Bewegung und im Rückblick auf die Nazi-Vergangenheit ein verändertes deutsches Nationalbewusstsein auszudrücken“, wie es Ulrich Adelt formuliert. Über Autobahn, Radio-Aktivität, Trans Europa Express, Mensch-Maschine und Computerwelt arbeitet sich der Band schließlich ins Hier und Jetzt vor und erklärt die zunehmende Musealisierung.

Im zweiten Teil der Kraftwerk-Studien („Diskurse“) widmen sich die Autoren dann mit den Texten, der Sound-Topografie, der Authentizität des Posthumanen, der internationalen Wirkung und anderen Aspekten. Mehr noch als im ersten Teil des Buches wird hier die Begeisterung einiger Autoren offenbar. Die Texte stecken voller Anekdoten und Beobachtungen, ohne eine kritische Distanz vermissen zu lassen. Stilistisch unterscheiden sich die Texte sehr stark voneinander und verlangen dem Leser zum Teil auch einiges ab. Positiv zu bewerten sind daher die immer wieder eingeschobenen Auflockerungen. Beispielsweise werden etwa unveröffentlichte Interviews und Ausschnitte aus dem Drehbuch eines Kraftwerk-Films, der nie gedreht wurde, eingebaut. Es entsteht eine vielseitige und erfreulich kurzweilige Lektüre über eine Band, die zum Mythos geworden ist, die das Ansehen deutscher Popmusik wie keine andere gefördert hat und die auch heute noch mehr ist als ein Exponat im Museum der Musikgeschichte. Erfreulich ist auch, dass dieses Buch mehr als bloße Schwärmerei ist. So gibt es auch kritische Analysen zu einzelnen Werken und zum Hype um Kraftwerk. Der Leser erhält so verschiedene Blickwinkel auf Band und Werk. Mensch Maschine Musik ist somit nicht nur für Anhänger von Kraftwerk interessant.

Titelbild

Uwe Schütte (Hg.): Mensch – Maschinen – Musik. Das Gesamtkunstwerk Kraftwerk.
C. W. Leske, Düsseldorf 2018.
366 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783946595014

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