Zwischen den Stühlen
Åsne Seierstads Dokuroman „Einer von uns“ ist eine Mischung aus spannendem Thriller, detaillierter journalistischer Rekonstruktion und Melodram
Von Sascha Seiler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDieser Tage haben gleich zwei Filme über den Massenmord Anders Breiviks auf der norwegischen Insel Utøya vom 22. Juli 2011 Premiere. Auf der einen Seite Erik Poppes experimenteller, mit bescheidenem Budget gedrehter Utøya 22.Juli, auf der anderen 22. July vom amerikanischen Regisseur Paul Greengrass, der sich vor vielen Jahren mit schon einmal einem nationalen Trauma, in diesem Fall der USA, widmete – den Anschlägen des 11. September. In Poppes Film, der von Kritikern als äußerst gelungen bezeichnet wird, ist Breivik kein einziges Mal zu sehen, der Fokus liegt allein auf einer der Jugendlichen, die von diesem gejagt wurden; ein beklemmendes Drama, bewusst ohne ordnende narrative Struktur. Ganz anders Greengrass‘ Film, der Breivik in den Mittelpunkt stellt und seine Geschichte erzählt. Dieser Film soll dem Ereignis nicht gerecht werden, zu sehr scheint er in Hollywood-Konventionen gefangen und setzt verstärkt auf Spannungsaufbau und narrative Stringenz. Zu letzterem schrieb Åsne Seierstad das Drehbuch, und von der renommierten norwegischen Journalistin stammt auch der internationale Bestseller Einer von uns; tatsächlich ist Greengrass‘ Film eine Art Adaption des dokumentarischen Romans.
Warum Seierstads Buch nicht nur so erfolgreich war, sondern auch von der Kritik – und Schriftstellerkollegen wie Landsmann Karl Ove Knausgård – gefeiert wurde, ist indes nicht zwingend nachzuvollziehen. Als Rekonstruktion von Breiviks Leben anhand von Akten, Dokumenten, zahlreichen Interviews mit allen nur auffindbaren Weggefährten (nur nicht mit dem Täter selbst, der ein mögliches Gespräch, so Seierstad am Ende ihres Buches, zur Selbstinszenierung habe nutzen wollen) ist Einer von uns durchaus gelungen. Als Ganzes jedoch ist das Buch in hohem Maße manipulativ und parteiergreifend, Letzteres angesichts der Grausamkeit des Verbrechens sicherlich mit einiger Berechtigung, und doch geht der wohl anvisierte dokumentarische Charakter Stück für Stück verloren, bis am Ende ein konstruiertes Melodram übrig bleibt. Das Problem dabei ist nicht die Grausamkeit der Beschreibungen, die hier und dort als voyeuristisch bezeichnet wurden, auch nicht die manchmal ebenso übersteigerte wie überakzentuierte Vorführung des Protagonisten als sozialen Verlierer, sondern der Versuch, aus einem realen Stoff ein narrativ stimmiges Konstrukt zu bauen.
Es mag auf den ersten Blick paradox klingen, doch leidet Einer von uns an dem Vorhaben der Autorin, den Leser nicht nur spannungstechnisch, sondern auch emotional bei der Stange zu halten. Beides gelingt ihr, das muss anerkennend konstatiert werden, hervorragend. Ob es die richtige Entscheidung war, auf Spannung und Emotion zu setzen, ist natürlich eine andere Frage. Dabei wirkt sich der zentrale, viel diskutierte Teil, der minutiös die Morde an dutzenden Jugendlichen rekonstruiert – man fühlt sich hier ein wenig an den vierten Teil von Roberto Bolanos Roman 2666 erinnert, in dem auch mit viel Liebe zum grausamen Detail über hundert Frauenmorde beschrieben werden – gar nicht mal so negativ aus, obwohl die Umsetzung auf dem Papier nicht allzu gut gelingt.
Problematisch ist eher, dass Seierstad den Leser dazu nötigt, ein emotionales Verhältnis mit einigen der Opfer aufzubauen, und dazu greift sie tief in die Trickkiste des Hollywood-Melodrams. Während sie nämlich Breiviks unselige Verwandlung vom jugendlichen Außenseiter zum Möchtegern-Selfmade-Millionär hin zum süchtigen Rollenspieler und schließlich zum fanatischen Rechtsextremen eindringlich schildert, erfährt man in parallel eingeschobenen Kapiteln über das Leben zweier seiner Opfer: dem Norweger Simon, der von einem Leben in der Politik träumt, um die Welt zum Besseren zu verändern, sowie dem aus dem Irak stammenden Flüchtlingskind Bano, die nichts lieber will, als sich in die norwegische Gesellschaft zu integrieren und dafür sogar so weit geht, sich ein Trachtenkleid zu kaufen (das sie dann aus Scham nicht trägt).
Seierstad hat das Leben dieser beiden Jugendlichen sowie ihrer Freunde und Geschwister, die teilweise auch auf Utøya waren, anhand von Gesprächen mit den Angehörigen und Protokollen rekonstruiert, und es besteht kein Grund zur Annahme, dass sie irgendetwas dazu erfunden hat, um die Ereignisse dramatischer zu gestalten. Jedoch ist es die literarisch durchaus geschickte Anordnung und Akzentuierung, die auf den Leser teilweise verstörend wirkt. So hat Simon in der Nacht vor seiner Abfahrt zu wenig geschlafen und kommt, ganz gegen seine Gewohnheiten, morgens nicht aus dem Bett. Seine Mutter, die ihn wecken will, legt sich zum ersten Mal seit vielen Jahren zu ihrem Sohn ins Bett und schläft ebenfalls ein; am Ende wird die Abfahrt fast verpasst.
Ebenso Bano: Das Mädchen ist vor der Abreise so stark erkältet, dass ihre Mutter ihr immer wieder ausreden will, zu fahren. Das Fieber werde sich schon senken lassen, so Bano, sie fahre auf jeden Fall. Der Leser erahnt natürlich zu diesem Zeitpunkt bereits das Schicksal der beiden, wodurch diese retrospektiv ‚falschen‘ Entscheidungen bewusst verstörend wirken sollen. In einem dokumentarischen Bericht ist ein solches Verfahren – wovon diese Episoden nur zwei Beispiele unter mehreren sind – wenig wünschenswert, weil es den Blick auf die Fakten versperrt und die Geschichte im Nachhinein durch den Aufbau emotionaler Bindungen verfremdet.
Dafür ist der letzte Teil des Buches – vielleicht weil es der nüchternste ist, der sich fast ausnahmslos auf die Gerichtsakten und die medial übermittelten Bilder stützt – der gelungenste und beklemmendste von allen: Breivik, der sich keiner Schuld bewusst im Gerichtssaal inszeniert und damit wiederholt die Angehörigen der Opfer verhöhnt. Vor allem aber ist dieser Teil Kritik und Lobpreisung des demokratischen Rechtsstaats zugleich. Einerseits lässt das liberale Justizsystem Entgleisungen wie die Breiviks erst zu, andererseits kommt man nur auf diesem Weg zu einem fairen Urteil, das auch die Würde des Gefangenen achtet – der Seitenhieb auf die zeitgleich grassierende Diskussion um das Terroristen-Gefängnis auf Guantanamo Bay ist mit Sicherheit beabsichtigt.
Insgesamt bedient Einer von uns natürlich unsere voyeuristischen Triebe, hinterfragt sie allerdings aufgrund der extremen Gewaltdarstellung im Hauptteil, lässt sie mit der moralisch vielleicht nicht ganz nachvollziehbaren emotionalen Bindung zu den schließlich realen Figuren letztlich sogar zu einem Anflug von Schuldgefühlen führen. Natürlich muss man sich bei diesem Buch, wie es auch im Fall von Paul Greengrass‘ Film gerade geschieht, fragen, ob die Ereignisse sich als Thriller-Stoff oder als Material für ein Sozialmelodram eignen, oder ob eine nüchternere Behandlung der Sachlage nicht einen größeren Effekt erzielt hätte. Andererseits: dann hätte das Buch wahrscheinlich kaum jemand gelesen.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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