Die Logik der Sachen anstelle der Sache der Logik

Karlheinz Fingerhut lotet didaktische Zugänge zu den Texten Franz Kafkas auch jenseits des Kompetenzparadigmas aus

Von Carlo BruneRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carlo Brune

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt stolpern zu machen, als begangen zu werden.“ Auf diesen Aphorismus Franz Kafkas kommt Karlheinz Fingerhut gleich in seinem ersten der hier aus mehr als zwei Jahrzehnten versammelten, für den Band Kafka für Querdenker überarbeiteten und aktualisierten neun Beiträge zu dessen Literatur zu sprechen – und er gibt programmatisch den Modus vor, der die Lektüre der Erzählungen ebenso wie die Konturierung didaktischer Zugänge zu ihnen bestimmt. Es geht dem renommierten Kafka-Forscher Fingerhut eher um ein produktives Stolpern als ein sicheres Bewältigen der Textstrecke auf ausgetretenen Interpretationspfaden. Im Vordergrund aller Aufsätze stehen Formen eines ebenso vorsichtigen wie vorläufigen abtastenden Lesens. Sie zielen auf einen „abweichenden, „‚streunend darangehenden‘ (Ernst Bloch) Blick, der Neues, subjektiv Interessierendes im Geläufigen sucht und findet.“

Inhaltlich sind die Beiträge weit gestreut. Sie setzen sich mit zum engsten Schulkanon gehörenden Texten wie Die Verwandlung, Das Urteil oder Der Process auseinander und erproben hier Zugänge, die die Texte nicht in vorgefertigten Interpretationsrastern verschwinden lassen, richten den Blick aber auch auf weniger bekannte Erzählungen oder Erzählfragmente. Hierzu zählt etwa eine literarische Notiz im Konvolut 1920, die im Kontext der Olympischen Spiele in Antwerpen entstand und in der Kafka Gedanken eines fiktiven Olympiasiegers mit „Weltrekord im Schwimmen“, der von sich zugleich behauptet, er könne „eigentlich gar nicht schwimmen“, erzählerisch ausgestaltet. Fingerhut geht über den Namen des Siegers des nur einen Tag vor Abfassung des Fragments ausgetragenen Wettkampfs über 1500 Meter Freistil, Norman Ross, weiteren Spuren nach, die ihn zunächst zu Karl Roßmann, dem Protagonisten von Kafkas erstem Roman Der Verschollene, und sodann zu Analogien der Wortfelder schwimmen und schreiben auch in weiteren Texten Kafkas führen. Der hierüber eröffnete autoreferentielle Blick auf die Texte, der sie als Reflexionen über die Möglichkeiten und Begrenzungen jener Verwandlung von Leben in Schrift, die Kafkas Existenz prägte, lesbar werden lässt, und das methodische Vorgehen ist zugleich charakteristisch für viele der anderen Lektüren: Immer wieder werden Bezüge innerhalb Kafkas Œuvres nachgezeichnet, verschiedene Texte in einen Dialog gesetzt; weniger mit dem Ziel, sie sich so wechselseitig erklären zu lassen, sondern vielmehr auch um widersprüchliche und nicht eindeutig auflösbare Konstellationen zu ermitteln.

Diese andernorts als „spekulative Lektüre“ bezeichnete Verfahrensweise bewegt sich dabei keineswegs im freien Raum. Ihr Ziel ist es, das kaleidoskopische Spiel im Sinne einer „textgeleiteten Fantasie“ freizusetzen und so „textkontrolliert zu spekulieren“. Fingerhut ist zugleich aber zu sehr Didaktiker, als er nicht weiß, dass (nicht nur) SchülerInnen dies „entzücken, aber auch ermüden“ kann. Um letzteres zu verhindern, setzt er unter anderem auf zwei Lernarrangements: Zum einen auf Verbindungen von Lektüre- und Schreibprozessen, zum anderen auf Aufgabenstellungen, die in Form von Materialien bestimmte Kontexte respektive Fährten zu spezifischen Aspekten des Textes bereits offenlegen und SchülerInnen so gleichsam Gerüste zur eigenen Texterschließung bieten. Um zu verhindern, dass hierbei wiederum nur globale Textdeutungen in top-down geleiteten Verstehensprozessen reproduziert werden und das sprachliche Detail so umgehend in einer dann nicht mehr hinterfragten Gesamtinterpretation aufgeht, schlägt Fingerhut folgendes Verfahren vor: Einzelne Sätze werden separat einer eingehenden Lektüre unterzogen, mögliche Sinnzuschreibungen anschließend diskutiert und so überprüft, modifiziert oder revidiert.

Auf diese Weise verfährt er etwa mit dem ersten Satz aus Der Process – „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ – der zunächst auf Formulierungsvarianten überprüft wird, die sich in Kafkas Handschrift finden lassen und die es SchülerInnen ermöglichen, verworfene Schreibentscheidungen nachzuverfolgen. Auch hier arbeitet Fingerhut wieder mit Parallelstellen aus anderen Erzählungen, die bestimmten Wortfeldern („verhaftet“, „gefangen“) nachgehen und SchülerInnen Möglichkeiten weiterer Bedeutungszuschreibungen eröffnen.

Zugleich konfrontiert Fingerhut die SchülerInnen mit der Frage, „wer diesen Satz zu verantworten hat, ein Erzähler oder die Figur des Josef K.“. So kann einerseits die Zuverlässigkeit der gegebenen Information in Frage gestellt, andererseits auch ein Blick für unterschiedliche Lesehypothesen geschärft werden. An diesem Punkt werden Schreibaufgaben relevant, die es erleichtern, erste Leseeindrücke und Bedeutungszuschreibungen nicht nur zu entwickeln, sondern im weiteren Verlauf auch neu zu durchdenken. Bereits schlichtes Umformulieren oder erste im Schreiben entwickelte Hypothesen, wie dieser Satz zu verstehen sein könnte, bieten die Chance, eine Vielfalt verschiedener Deutungsmöglichkeiten abzurufen, die jenen kaleidoskopischen Blick auf die Texte befördern. Mithilfe produktionsorientierter Aufgaben kann weiterhin zu Perspektivwechseln angeregt werden: Andere hinzugezogene, motivähnliche Texte können SchülerInnen dazu dienen, einzelne Bausteine des Romans, wie etwa die Verhaftungsszene, „neu zu entwerfen“, ohne dabei in subjektive Beliebigkeit zu verfallen. An einigen Punkten lässt sich darüber diskutieren, ob diese Aufgabenstellungen selbst für den Oberstufenunterricht nicht zu voraussetzungsreich sind oder zumindest erheblicher Vorbereitung bedürfen, was Fingerhut auch konzediert – sie stellen aber einen immensen Fundus an unterrichtspraktischen Ideen für Lehrkräfte dar, die sich und ihren SchülerInnen Formen dieser spekulativen, „Empathie, Interesse, Vorstellungsbildung“ fördernden und dennoch immer textgeleiteten Lektüre zutrauen.

Darauf, dass dies in Zeiten der Kompetenzorientierung und standardisierten „Leistungsfeststellungstests“ nicht leicht ist, macht Fingerhut aufmerksam. Sein fachwissenschaftlich wie fachdidaktisch überzeugendes Buch und sein Verständnis von Literaturdidaktik, das sich zunächst gleichermaßen am Gegenstand, der Literatur respektive Literaturwissenschaft, als auch an den individualisierten Zugängen der einzelnen SchülerInnen ausrichtet, sollte aber Anlass geben, darüber nachzudenken, ob im Zuge einer Kodifizierung von Kompetenzen nicht „unbemerkt die Logik der Sachen (die praktischen Lese- und Interpretationshandlungen und die partielle Logik der Praktik, die sie hervorbringen) durch die Sache der Logik (den Code der Kompetenzmodelle) ersetzt zu werden“ droht.

Titelbild

Karlheinz Fingerhut: Kafka für Querdenker. Literaturdidaktische Lektüren.
(Beiträge zur Literatur- und Mediendidaktik).
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
248 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783631737132

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