Von der Unmöglichkeit, die Realität nicht zu beschreiben
Marko Martin im Gespräch mit Monika Wolting über „Das Haus in Habana“ und das politische Engagement des Autors
Von Monika Wolting
Monika Wolting: Du bist ein Reisender, der sich mit einer großen Leichtigkeit in verschiedenen Räumen der Welt bewegt. Wie wichtig ist für dich, dem Leser ein unmittelbares Bild von Orten zu geben?
Marko Martin: Derart wichtig, dass ich dem Leser nicht vorenthalten kann, wer da dieses Bild vermittelt. Reporter mögen sich den Anschein von Objektivität geben, dabei ist ja bereits die Auswahl des Gezeigten oder Beschriebenen das Resultat einer Voraus-Entscheidung, mitunter sogar einer unbewussten. Als Autor bin ich es mir und meinen Lesern schuldig, wenigstens in Ansätzen zu schraffieren, wie ich „ticke“, wie mein Referenz-System beschaffen ist oder wie es sich – bestenfalls – im Zuge von Reise-Erfahrungen verändert. Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Art Präferenzen mit in den Text hinein müssen, da sie gleichzeitig einen Blick erlauben auf die eigenen „blinden Flecke“. Das ist eine interessante Frage, weil sie mich zu einer Einsicht zwingt, zur Beschreibung einer Perspektive, die ich zuvor noch gar nicht in dieser Weise reflektiert hatte: Tatsächlich nämlich denke ich auf Reisen überhaupt nicht in Kategorien wie „Einheimischer versus Fremder“. Weshalb auch sollten mir Menschen in anderen Ländern fremder sein als – sagen wir – deutsche Links- oder Rechts-Ideologen, weshalb sollte ich mich in einem afrikanischen Überlandbus oder einer Dschungel-Bar unbehauster fühlen als in einem Dorf in Sachsen oder bei Treffen mit deutschen Autoren und ihrer permanenten Sorge, auch freundlich genug rezensiert zu werden? All das bedeutet im übrigen keine „Fremden-Schwärmerei“, im Gegenteil: Ich bin überzeugt, dass die vermeintlich „westlichen“ Werte etwa der Menschenrechte und der Geschlechtergleichheit universelle Bedeutung besitzen und Kulturrelativismus etwas absolut Reaktionäres darstellt. Ansonsten gilt in meiner Wahrnehmung das (rational nicht immer plausible) Prinzip von Sympathie und Antipathie, nicht zu vergessen jenes der erotischen Anziehungskraft.
Monika Wolting: Du nennst deinen neuesten Band Das Haus in Habana und im Untertitel Ein Rapport, dabei handelt es sich vielmehr um einen Bewusstseinsstrom. Die erzählende Figur nimmt dabei eine Perspektive ein, die du auch in anderen Texten verwendet hast. Ich fand erstaunlich, wie du bereits in Madiba Days. Eine südafrikanische Reise diese Du-Erzählperspektive eingehalten hast. Warum erneut dieser Erzählgriff?
Marko Martin: Aus oben erwähnten Gründen. Man kann keine Reise tun beziehungsweise sie literarisieren, ohne sich selbst partiell fremd zu werden. Damit die Thematisierung dieser Verwunderung-über-sich-selbst nicht zum Ego-Gebrabbel wird und die Distanz gewahrt bleibt, bietet sich die Du-Perspektive an. Das ist übrigens ein Erzählgriff, der sich seit jeher im Genre des literarischen Journals findet und zusätzlich den Vorzug besitzt, nicht hermetisch zu sein, sondern bereits im Text das Dialogische zu wagen.
Monika Wolting: In dem Text zeigt sich der Erzähler irritiert von den Bildern, die das kulturelle Gedächtnis speziell in Deutschland bezüglich Kuba gespeichert hat. Ist es deshalb für dich derart wichtig, an die anderen, verdrängten und vergessenen Bilder zu erinnern und Individuen zu Wort kommen zu lassen?
Marko Martin: Aber ja! Weil ich weder ein Lautsprecher von Fidel Castros Ideologie bin noch ein behagliches West-Milieu mit gediegener Revolutions-Nostalgie unterhalten möchte. Das hört sich jetzt etwas pathetisch und aus der Zeit gefallen an, aber es ist doch Tatsache, dass die vom Diktator geschaffenen Bilder noch immer in den hiesigen Köpfen herumwabern. Was ist jedoch mit Castros frühen Kampfgefährten wie etwa Huber Matos, der sein mutiges Insistieren auf freien Wahlen mit jahrzehntelanger Haft bezahlen musste? Was ist mit der Erfindung von Straf- und Umerziehungslagern für Homosexuelle, die auf das Konto des Gewaltnihilisten Che Guevara gehen, der hierzulande immer noch mit dem Nimbus des unangepassten Gerechtigkeitskämpfers versehen ist? Und was mit all den anderen, die sich noch heute – bis zum jetzigen Tag! – auf Kuba ducken, über die Schulter blicken, plötzlich zu zittern beginnen und Schweißperlen auf der Stirn bekommen, sobald sie der Zugereiste etwas „Politisches“ fragt, das auf der Insel nicht offen ausgesprochen werden darf? Unmöglich, solche Realität nicht zu beschreiben.
Monika Wolting: Du versuchst, mit deinem Schreiben „die Nischen der wahren Geschichten jenseits der großen Slogans auf den Aufmarschplätzen der Macht“ aufzuspüren, wie du es in Das Haus in Habana formulierst. Wie hast du dich auf das Schreiben des „Kubareports“ vorbereitet ?
Marko Martin: Bevor ich in ein Land reise, lese ich mich wochen-, ja monatelang in dessen Literatur ein, sammle Zeitungsausschnitte, lasse mich via Wikipedia von Querverweis zu Querverweis tragen, versuche zu überprüfen und zu gewichten. Danach weiß man wenigstens, was man alles noch nicht weiß. Dann beginnt die Reise, die Arbeit. Im Falle Kubas kommt hinzu, dass mich die Insel – wie wahrscheinlich viele Menschen auf der Welt – seit jeher interessiert und fasziniert hat. Schriftstellerfreunde wie Hans Christoph Buch, Jorge Edwards – der 1971 unter Salvador Allende Botschafter auf Kuba war, ehe Castro ihn wegen seiner Dissidenten-Kontakte zur persona non grata erklärte – oder Mario Vargas Llosa haben mir über die Jahre hinweg immer wieder von Kuba erzählt. In Berlin, Madrid und Miami traf ich ausgebürgerte Schriftsteller und Intellektuelle. Dann war es Zeit, selbst dahin zu reisen – natürlich nicht mit gezücktem Mikrofon. Was ich dort als Flaneur in La Habana und in den Städten Trinidad und Santiago de Cuba erlebte, steht in meinem Buch. Auf Anraten des Verlegers, der besser als seine Autoren weiß, dass im Zeitalter der Digitalisierung die Lesekonzentration abnimmt, wurde knapp ein Drittel des Textes gekürzt: Die in Cienfuegos, Camagüey und im kubanischen Teil von Guantánamo spielenden Passagen mussten deshalb vorerst leider raus.
Monika Wolting: Was interessiert dich in ästhetischer Hinsicht an diesem Land?
Marko Martin: Meine Erzählbände, aber auch die literarischen Reportagen wären undenkbar ohne das erotische Faszinosum. Und zwar nicht als schmachtendes Sehnen, Projizieren, Idealisieren oder gar als tristen, pekuinär geprägten Transaktionsakt, sondern als die reale Möglichkeit, Menschen zu erkennen, denn hier trifft das biblische Synonym durchaus zu: Nichts augenöffnender als entspannte, ehrliche, im noch weiteren Sinn enthüllende Gespräche. Nichts wüsste ich über Biografien, Schicksale und Gestimmtheiten gäbe es diese Erfahrungen nicht. Wobei auch hier wieder der großartige Witold Gombrowicz in seinen Tagebuchnotizen aus Buenos Aires den Sinn für das Eigentliche beweist: Eros und Sexualität auch als ästhetischer Widerstand gegen das Gängige, vermeintlich Seriöse, gegen das lächerlich Aseptische des Haltung-Annehmens, das sich beim Militär ebenso findet wie auf Chefetagen oder im Literaturbetrieb.
Monika Wolting: Also eine Art Minderheiten-Perspektive?
Marko Martin: Ich möchte keinen politisch korrekten Kult darum machen. Denn Minderheit an sich bedeutet ja zuerst einmal nur dies: Minderheit, das ist noch kein Ausweis „höheren Bewusstseins“. Allein jedoch die simple Tatsache, dass man – ob in Kuba oder anderswo – in eine Bar gehen kann oder auf der Straße angesprochen wird und sich kurz darauf in Sozialstrukturen wiederfinden kann, die dem auswärtigen Auge ansonsten verborgen bleiben, ist auch in literarischer Hinsicht ein solches Privileg, dass es mich auch nach Jahrzehnten noch immer verblüfft, ja dankbar macht.
Monika Wolting: Verstehst du das Erzählen von Menschen als gesellschaftliches, auf Kuba bezogen sogar politisches Engagement eines Autors?
Marko Martin: Meine Skepsis gegenüber dem ohnehin allzu wohlfeilen, risikolos und inflationär gebrauchten Begriff vom „politischen Engagement des Autors“ habe ich auch auf Kuba nicht verloren. Wenn schon „Engagement“, dann jenes des genauen und damit häufig auch ironischen Blicks!
Monika Wolting: Die 1962 von Theodor W. Adorno formulierte These lautet: Literatur, die sich als einseitig engagiert versteht, verkennt den Autonomiestatus künstlerischer Äußerung.
Marko Martin: Nicht allein das. Sie begibt sich damit auch ihrer Substanz, die sie von der rein politischen Meinung fundamental unterscheidet, nämlich ihrer einzigartigen Fähigkeit, Ambivalenz und Komplexität darstellen zu können.
Monika Wolting: Können wir uns auf die Formen des literarischen Engagements beispielsweise von Sartre noch beziehen?
Marko Martin: Gewiss – und zwar als abschreckendes Beispiel. Zu Beginn der Nazizeit war Sartre nach Berlin gereist und bekam von den dortigen Schrecken kaum etwas mit, so wie er ein paar Jahre später auch das Münchner Abkommen völlig falsch einschätzte. Sein ehemaliger Schulkamerad und lebenslanger liberaler Gegenspieler Raymond Aron aber sah schon damals viel klarer, ganz zu schweigen von einem so blitzgescheiten Essayisten wie Denis de Rougement. Es ist unendlich traurig, ja eigentlich ein Skandal, dass im heutigen kulturellen Gedächtnis nicht etwa diese Luziden weiterleben. Und was die „ausgebeuteten Arbeiter“ betrifft: Es waren Schriftsteller wie das französisch-algerische Plebejer-Kind Albert Camus und nicht die Bourgeois-Sprößlinge Sartre und Simone de Beauvoir, die hier Genauigkeit mit Empathie verbanden – aus der dann auch Camusʼ tapfere, einsam-kritische Haltung gegenüber dem kommunistischen Totalitarismus resultierte.
Monika Wolting: Was kann heute die Sprache leisten, um gegebener Ordnung zu entgehen?
Marko Martin: Zuerst einmal: Sprache ist nicht die Dienstmagd einer Ideologie, auch nicht die einer freiheitlichen. Ebenso macht es einen Unterschied, ob es sich um einen Essay, ein Gedicht oder einen Prosa-Text handelt. Mario Vargas Llosa, einer der wenigen Glücklichen, die intellektuell zu überzeugen und literarisch zu verzaubern vermögen, sagte mir einmal, dass im Politischen das Dionysische – und das heißt auch eine das Dionysische feiernde Sprache – nichts zu suchen habe. Gleichzeitig aber sei es im literarisch Fiktiven nicht wegzudenken, falls man denn etwas anderes schreiben möchte als korrekte Benimm-Texte.
Monika Wolting: Wir leben in einer Zeit, in der jeder Autor seine eigene Poetik verfolgt. Die Methode geht eher aus dem Schreibprozess selbst hervor als durch konkrete Überlegungen zum „Regelwerk der Dichtung“. Ist das für die Literatur förderlich?
Marko Martin: Auf jeden Fall! Die Entdeckung des Heterogenen, Arbiträren, des Vermischten hat Literatur noch immer interessant gemacht – und, obwohl vielleicht gar nicht in jedem Fall beabsichtigt, ein Subversions-Potential geschaffen, das sich nationalistisch verordneten Kollektiv-Erzählungen erfolgreich widersetzt. In diesem Sinne kann es gar nicht genug Globalisierung geben – Globalisierung hier wohl verstanden als nie zuvor da gewesene Zugriffsmöglichkeit auf die gesamte Fülle von Büchern und Traditionen. Das dabei „das Eigene“ untergeht, halte ich für Unsinn. Im Gegenteil: Es kann neu beleuchtet und wertgeschätzt werden. Ich glaube nämlich sehr wohl, dass Literatur Empathie für das geschundene Individuum schaffen kann, dass sie immer wieder den Skandal unserer Endlichkeit zu thematisieren vermag, was übrigens einen reflektierten Daseinsjubel nicht ausschließt. Womit wir – über diesen scheinbaren Umweg – wieder bei Leben und Œuvre solch wunderbarer Autoren wie Albert Camus und Czesław Miłosz angekommen wären.
Monika Wolting: Die Globalisierung wird durch die Entwicklung der Weltwirtschaft und des Weltfinanzsystems bestimmt und beide wiederum werden durch die Politik realisiert. Welche Rolle würdest du dabei der Kultur zuschreiben wollen?
Marko Martin: Schwierig zu sagen – wobei ich mir noch nicht einmal sicher bin, ob „Globalisierung“ und deren Auswirkungen allein auf das Politisch-Ökonomische zu reduzieren sind. Bei meinen Reisen, vor allem in Krisen- oder Armutsgebiete, spüre ich nämlich auch eine Globalisierung „von unten“, einen neuen Mut, sich mit angeblich „objektiven Geschichtsprozessen“ nicht abzufinden, die technisch-medialen Möglichkeiten des Aufbegehrens effizient zu nutzen und sich dabei auch mit anderen zu vernetzen. „Kultur“ ist für mich deshalb nicht der Kontrast zwischen angeblich „gewachsenen Kulturen“ und einer vermeintlich „gesichtslosen Moderne“ à la Banken und McDonaldʼs, sondern vor allem die immense Chance, Traditionen der Unterordnung und des Fatalismus zu unterlaufen. Das scheint mir sowohl ästhetisch wie auch ethisch angemessener, als auf Podien globalisierungskritische Plattitüden von sich zu geben oder die hundertste generalisierende Intellektuellen-Petition zu unterschreiben. In unserem PEN-Club arbeite ich seit Jahren im Komitee „Writers in Prison“, wo wir uns für verfolgte Kollegen einsetzen – und diese wurden gewiss nicht von „der“ Globalisierung eingesperrt, sondern von nationalen Machthabern und Despoten, die im übrigen ebenfalls konkret Namen und Adresse haben.
Monika Wolting: Anders als der Ethnograph ist der Reporter/Erzähler ja vielleicht mehr daran interessiert, unterschiedliche Sichtweisen auf ein Ereignis darzustellen. Ich frage das, weil du gerade in dem Band Madiba Days – Eine Südafrikanische Reise ein komplexes Bild der Wirklichkeit darstellst.
Marko Martin: Vielleicht ist mir deshalb Madiba Days das bis heute liebste meiner Bücher, dessen Schreiben mir auch das größte Vergnügen bereitet hat. Es ist ja nicht nur eine Hommage auf den wunderbaren Nelson Mandela, sondern auch auf unzählige Menschen, die ganz lebensweltlich die brutale Reduktion auf Herkunft und Hautfarbe verweigern. Und natürlich ist es auch eine Verbeugung vor der großartigen Nadine Gordimer, deren faszinierende Romane, wie mir scheint, vor allem in Deutschland noch immer in das seltsam vage Genre „engagierter Literatur“ eingesperrt werden.
Monika Wolting: Welche Möglichkeiten und Formen siehst du für Autoren, gesellschaftlich aktiv zu werden?
Marko Martin: Es gibt die menschenrechtliche Ebene, auf der Autoren – als engagierte Bürger – verfolgten Mitmenschen konkret helfen oder gesellschaftliche Entwicklungen wie etwa Nationalismus oder Fanatismus öffentlichkeitswirksam anklagen können. Das Andere hingegen sind die literarischen Texte, die dann tiefer bohren und im besten Fall – neben dem Erkenntnisvergnügen der Lektüre – beitragen zur individuellen Selbstermächtigung der Leser. Allerdings sollte und könnte dies das überraschende Resultat des Schreibens sein, nicht dessen moralistische Intention.
Monika Wolting: Das Internet bietet ebenso ein wichtiges Korrektiv zum Mainstream der Medien. Welche Funktion spielt heute das Internet für die Entwicklung der Literatur?
Marko Martin: Eine immense – wenn man es, wie in deiner Frage, tatsächlich als „Funktion“ begreift, als Instrument und Hilfsmittel. Daniel Kehlmann hat kürzlich bekannt, dass er dem Internet als Recherche-Hilfe unendlich dankbar ist und es nicht mehr missen will; viele Autoren erfahren das ähnlich. Was freilich eine Chance bietet, ist gleichzeitig auch eine Gefahr. Lass es mich so zuspitzen: Wer „analog“ sozialisiert wurde, verfügt über bessere Ausgangsbedingungen, sich im Virtuellen zurecht zu finden als jemand, der nur diese Welt kennt und noch kein Gespür entwickelt hat für notwendige Relevanz-Hierarchien, Quellenkritik, Kontext-Beobachtung und all das, was uns hilft, zu gewichten und zu werten. Und ganz unabhängig von all dem Müll, Geschwätz und der üblen Nachrede, die nun von traditionellen Toilettenwänden auf die Monitore und in unsere Wohnungen schwappt: Eine Generation, die mit Facebook, Twitter, Instagram und all diesen Sachen aufwächst, wird es schwerer haben, Zugang zur Literatur zu finden, die ja das Gegenteil offeriert: Die Entdeckung der Langsamkeit, Verzögerung, Vertiefung. Ich glaube, das sollte diskutiert und bedacht werden – ohne kulturpessimistisches Tremolo, aber auch ohne den opportunistischen Wahn, Literatur müsse nun „leichter und schneller“ werden, um die Aufmerksamkeit jüngerer potentieller Leser zu erhaschen. Das wäre eine selbstmörderische Sackgasse – und dazu ein Unterschätzen der ewigen menschlichen Sehnsucht nach dem Buch. Das ist jedenfalls meine Überzeugung, ohne die ich nicht schreiben könnte.
Monika Wolting: Die Forderung nach Universalismus scheint gegenüber kulturellen Traditionen blind zu sein. Inwiefern ist Universalismus, dem beispielsweise die Idee der Menschenrechte zugrunde liegt, mit kulturellen Differenzen, heterogener Weltgemeinschaft, Multikulturalismus zu vereinbaren?
Marko Martin: Was wir gegenwärtig erleben, ist der Siegeszug eines illiberalen Partikularismus, der den Menschen einredet, es gäbe keine gemeinsamen ethischen Werte, sondern lediglich „Kulturen“, die „respektiert“ werden müssten. Zu fragen wäre deshalb, wer denn da spricht und Definitionsmacht erheischt über diese „Kulturen“, die nicht zufällig vor allem homogen gedacht werden. In Mittel- und Osteuropa sind es die regierenden National-Autoritären, in Westeuropa jene Xenophoben, die erst zur Macht kommen möchten. In Russland dagegen vom Präsidenten abwärts ein ganzes Manipulationssystem, das mit dem Verweis auf das angeblich bedrohte „Eigene“ nahezu jede Idee von Austausch, Kommunikation und Verständnis kriminalisiert. Meiner Meinung nach wäre es jedoch zu einfach, das alles lediglich unter der Rubrik „Neue Rechte“ zu sehen. Denn es war ja nicht zuletzt die akademische Linke, die hier zuvor Steigbügelhalterfunktion hatte mit ihrem masochistischen Selbsthass und der Dauer-Delegitimierung illiberaler Gesellschaften, von denen sie gleichzeitig profitiert. Eine Saat, die nun – grausige Ironie der Geschichte – als Ernte eingebracht wird von den Rechten, die selbst ihren genuinen Rassismus noch zu tarnen wissen mit der unverfänglich klingenden Formel des „Ethnopluralismus“.
Monika Wolting: In der jüngsten Zeit wird die Forderung nach einer neuen engagierten Literatur laut. Schriftsteller wie Matthias Politycki oder Michael Schildhelm rufen zu einem „relevanten Realismus“ auf, und Juli Zeh betitelt ihren Essay „Wir trauen uns nicht“.
Marko Martin: Je mehr intellektuelle Debatten und Streit es gibt, umso besser. Es müsste dann jedoch mehr sein als allein der Austausch politisch korrekter Erwartbarkeiten. Hinzu kommt: Gute Bücher entstehen auch ohne „Debatte“. Für ihre Rezeption allerdings ist ein lebendiges Gesellschaftsklima von großem Nutzen. Um es zu bewahren und zu verteidigen, sollten wir deshalb nicht in Defensiv-Rhetorik verfallen, denn im Unterschied zum Großteil der Weltbevölkerung leben wir noch immer im geradezu Paradiesischen. Und nichts ist unangemessener als die Tendenz manch westlicher Intellektueller, sich als „Opfer“ zu stilisieren. Dieser Narzissmus bewirkt vor allem eines: Er zieht die Aufmerksamkeit ab von den wirklich Ohnmächtigen dieser Welt. Gerade wir Schriftsteller in unseren Breiten sollten uns das immer wieder bewusst machen.
Monika Wolting: Ich danke dir für das Gespräch.
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