Auch ohne Paradigmenwechsel lesenswert
Ein neuer Tagungsband nimmt mittelalterliche Mythenrezeption in den Blick
Von Johanna Kahlmeyer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Erforschung von Antikenrezeption im Mittelalter hat in der germanistischen Mediävistik, Kunst- und Geschichtswissenschaft seit Jahren Konjunktur. Spätestens mit der Bezeichnung des Mittelalters als Aetas Ovidiana durch Ludwig Traube Anfang des 20. Jahrhunderts, rückt insbesondere die römische und griechische Mythologie in den Mittelpunkt der Forschung. Ein Sammelband, der sich mit mittelalterlicher Mythenrezeption beschäftigt, steht entsprechend vor der Herausforderung, sich in eine lange Reihe von Forschungsbeträgen einzugliedern und gleichzeitig etwas Neues zu dem Forschungsfeld beizusteuern.
Der Tagungsband „Mittelalterliche Mythenrezeption“ unter der Herausgeberschaft von Ulrich Rehm betont sein Innovationspotential bereits im Untertitel „Paradigmen und Paradigmenwechsel“. Ziel des Bandes soll es demnach sein, mittelalterliche Bild- und Textzeugnisse antiker Mythologie nicht von vornherein einer allegorischen beziehungsweise christianisierten Lesart zu unterziehen, sondern sie als „eine direkte, absichtsvolle Auseinandersetzung mit der Kultur der Antike gelten zu lassen“, wie Rehm in der Einleitung schreibt. Damit führt der Sammelband die Ergebnisse der gleichlautenden Tagung aus dem Jahr 2016 in Bochum zusammen, die das DFG-Projekt „Bildliche Mythenrezeption im Mittelalter und der Epochendiskurs moderner Kunsthistoriographie“ veranstaltet hat.
Neben dem ausgewiesenen kunstwissenschaftlichen Schwerpunkt sind in dem Band auch einige literaturwissenschaftliche Beiträge vertreten, die sich mit Mythenrezeption in der höfischen Literatur auseinandersetzen. Doch obwohl die Einleitung eine deutliche Neuausrichtung verspricht, kann sie diese ebenso wie die Beiträge des Bandes nur schwer einlösen. Sowohl im Resümee der Einleitung als auch in den einzelnen Aufsätzen wird schnell deutlich, dass das Paradigma der allegorischen Auslegung nach wie vor das vorherrschende ist. Gleichwohl werfen die Autorinnen und Autoren ein Licht auf bislang eher randständig betrachtete Themengebiete antiker Mythenrezeption im Mittelalter wie beispielsweise die Transformation antiker Figuren in islamischen Kulturen (Beitrag von Katharina Meinecke) oder mythologische Darstellungen in der Astronomie und Astrologie (Beitrag Fabio Guidetti). Den Beitragenden gelingt es außerdem, wohlbekannte mythologische Figuren und Erzählmuster wie Arachnes Wettstreit mit Athene (Beitrag Stefan Trinks), die Vergewaltigung Philomelas durch Tereus (Beitrag Stephanie Wodianka) oder die tragische Liebesgeschichte um Pyramus und Thisbe (Beitrag Ronny F. Schulz) abseits ausgetretener Interpretationspfade neu in den Blick zu nehmen. Dabei steht allerdings zumeist die Aneignung und Transformation in einen christlichen oder zumindest höfisierten Kontext im Mittelpunkt.
Wenngleich einige der Autorinnen und Autoren versuchen, eine epochale Einordnung vorzunehmen, mit der ein Paradigmenwechsel einhergehen könnte, erweisen sich Epochengrenzen doch als wenig einheitlich und selten zielführend. So resümiert auch Ronny F. Schulz in seinem Beitrag „Modifikation und Neuschöpfung des Mythos in der deutschsprachigen Literatur an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert“ kritisch, dass sich der von Thomas S. Kuhn geprägte Begriff des Paradigmenwechsels auf literarische Diskurse des Hochmittelalters nur schwer anwenden ließe, da Forschende aufgrund des Mangels an literaturtheoretischen Werken nur auf literarische Texte zugreifen könnten, um einen Wandel zu konstatieren und zu interpretieren.
Am konsequentesten nähert sich Stefan Trinks in seinem Beitrag zum Parallelismus von Adam und Orestes, Eva und Arachne sowie Maria und Minerva der Direktive des Paradigmenwechsels an, indem er die christliche Mythenrezeption in drei (allerdings nicht unproblematische) Großräume einteilt. Er führt den Begriff des Mythenparallelismus ein, um darzulegen, dass sich die christliche Ikonographie ohne Sozialisierungs- und Missionierungsdruck parallel zu paganen mythologischen Darstellungen entwickelt hätte. Dieser Mythenparallelismus werde im Mittelalter fortgeführt. Letztendlich führen aber auch Begrifflichkeiten wie der Mythenparallelismus nicht zu einer klaren Herausbildung von Paradigmenwechseln für die Rezeption antiker Mythologie im Mittelalter. Die Bezugspunkte, Reichweite und Resonanz des Begriffes bleiben leider weitgehend unklar.
Dennoch ist der Tagungsband äußerst lesenswert, denn er bietet jenseits des Paradigmenwechsels nicht nur eine Vielzahl an abwechslungsreichen und innovativen Zugängen zu dem Thema mittelalterliche Mythenrezeption, sondern kommt zudem in einem ästhetisch ansprechenden und gut gesetzten Erscheinungsbild daher. Die Beiträge enthalten nicht nur schwarz-weiß Abbildungen, sondern der Band schließt mit einem farbigen Bildteil ab, der es erlaubt, den Ausführungen der Autorinnen und Autoren zu Handschriften, Reliefs und Gemälden im Detail zu folgen. Einen Abzug in der Nutzerfreundlichkeit gibt es allerdings für die Uneinheitlichkeit im Umgang mit Übersetzungen von Primärtextzitaten. Während Rebecca Müller, Susanne Moraw und Stephanie Wodianka den Leserinnen und Lesern eine deutsche Übersetzung im Fließtext und den Originaltext in den Fußnoten bieten, verfährt Ronny F. Schulz genau anders herum und Stefan Trinks sowie Irene Berti und Filippo Carlà-Uhink verzichten gänzlich auf Übersetzungen, was bei lateinischen Quellen noch annehmbar sein mag, spätestens aber das Verständnis altfranzösisch zitierter Textstellen doch erheblich erschwert. Bezieht man allerdings die Zielgruppe dieses Herausgeberbandes ein, die sich in erster Linie aus einem akademischen Fachpersonal speisen dürfte, wiegt diese Kritik nicht schwer.
Der Band verzichtet auch auf längere Einführungen zum Thema Mythenrezeption und überlässt die theoretische Schwerpunktsetzung weitgehend den einzelnen Autorinnen und Autoren, bei denen mit wenigen Ausnahmen die Fokussierung nicht so sehr auf einer theoretischen oder methodischen Fundierung als auf der Analyse von Text- und Bildwerken liegt.
Da die Beiträge aber ausnahmslos wissenschaftlich fundiert und zugleich verständlich geschrieben sind, bieten sie Forscherinnen und Forschern, die bereits tiefer in die Materie der Mythenrezeption eingestiegen sind, neue Impulse, während sie die Neugier von Neulingen auf dem Gebiet wecken und zum Weiterforschen anregen können. Die thematische und interdisziplinäre Vielfalt ist eine der größten Stärken des Tagungsbandes und führt auch ohne Paradigmenwechsel zu einer klaren Leseempfehlung.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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