Verwirrung der Gefühle

Evelyn Schlags Roman „Yemen Café“ eröffnet ein Spannungsfeld zwischen Liebe, Moral und Verrat und situiert es im Kriegsgebiet von Sana’a

Von Johanna ItterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johanna Itter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Seit dem Eintritt der von Riad angeführten Militärkoalition in den Bürgerkrieg im Jahr 2015 wurden mehr als 8750 Menschen getötet und Zehntausende verletzt. Rund 8,4 Millionen Menschen sind nach UN-Angaben vom Hunger bedroht.“ Schlagzeilen wie diese schockieren noch immer, auch wenn sie keine Seltenheit sind und ein Überblick und ein genaues Verständnis der politischen Konflikte der Welt oft unmöglich scheinen. Die aus dem Jemen und anderen Krisengebieten fliehenden Menschen bringen das Thema zwar auch tiefer in unser Bewusstsein – trotzdem bleiben die 8750 Menschen eine anonyme Masse. Evelyn Schlag ändert den Blickwinkel. Sie gibt dem Terror in der Stadt Sana’a Namen und Gesichter.

Yemen Café beschreibt die Situation des Landes bereits im Jahr 2010. Es befindet sich seit Jahrzehnten im Bürgerkrieg, ein Krieg des Präsidenten Saleh gegen die schiitischen Rebellen, die Huthis, unter Beteiligung US-amerikanischer Drohnen und der saudi-arabischen Armee. Terror und Krieg sind allgegenwärtig und Dr. Jonathan Schmidt befindet sich mitten darin. Er ist Chefarzt der Chirurgie am Private Hospital Swiss House in Sana’a, ursprünglich aus Österreich und schon in mehreren Krisengebieten tätig gewesen. Das privilegierte Krankenhaus, welches fast ausschließlich Ausländer, Ministerialbeamte und Botschaftsangehörige behandelt, bildet für Jonathan eine politikfreie Zone, in der der Mensch im Vordergrund steht und in welcher er auf seinen medizinischen Eid plädieren kann. Es ist aber vor allem auch ein Ort, an dem die islamische Welt auf die Europäische trifft. Europäische Ärzte, jemenitische Pfleger, indische Krankenschwestern und die ständige Frage nach der Loyalität untereinander. In einer Stadt, in der sich Menschen tagtäglich radikalisieren und Friedensbeschlüsse der Regierung gebrochen werden, wem kann man da noch trauen?

Die 1952 in Österreich geborene Tochter eines Arztes, Evelyn Schlag, bedient sich in diesem Roman der medizinischen Fiktion. Sie hat bereits zahlreiche Romane veröffentlicht (u.a. Die große Freiheit des Ferenc Puskas (2011), verlangsamte raserei (2014)) und wurde erst 2015 mit dem Österreichischen Kunstpreis für Literatur ausgezeichnet. In dem von ihr genauestens beschriebenen Land, dem Jemen, war sie selbst nie und so beeindruckt das vielschichtige Panorama eines so fremden und deshalb so umfangreich recherchierten Landes und seiner Hauptstadt Sana’a umso mehr.

Vor allem die Nebenhandlungen konstruieren hier gut die Situation der jemenitischen Gesellschaft. Einzelschicksale, wie die des Pflegers Hassan, steigern die Spannung und die Eindrücke. Er hat sein Medizinstudium in Deutschland abgebrochen und wird jetzt, da sein Bruder vermisst wird, von einem ehemaligen, zu den Rebellen übergelaufenen Studienkollegen zur gemeinsamen Rache an der Regierung erpresst.

Die Frage nach der Moral muss sich auch Jonathan oft stellen. Er lässt den Kontakt zu seiner alten Geliebten wieder aufleben, welche an sein Gewissen appellieren muss, wenn er in einem Krankenhaus arbeitet, welches die jemenitische Regierung unterstützt. Er flirtet mit der Frau seines neuen, erst kürzlich nach Sana’a gezogenen Kollegen. Sie hat jedoch bereits eine Affäre mit einem Mann aus Deutschland. Dann trifft er auf die ehrgeizige Katie, welche für Human Rights Watch arbeitet und verliebt sich in sie. Sie weckt in ihm den Wunsch nach einer neuen, sicheren Zukunft. Das Yemen Café in Brooklyn, von dem ihm Freunde berichten und welches die in New York lebende Katie ebenfalls kennt, wird dabei der Projektionsort seines Wunsches, um der Einkesselung in Sana’a und dem ständigen Terror zu entkommen. Doch dann zweifelt Katie an ihrer Beziehung. Sie kann Politisches und Privates nicht trennen. Jonathans indirekte Unterstützung der jemenitischen Regierung durch seine medizinische Arbeit toleriert sie nicht und sieht sie als Verrat ihrer Arbeit und ihrer Überzeugungen.

Schlag verwendet präzise Beschreibungen der Umstände, eine direkte, anschauliche Sprache und ihr gelingt es, durch den gesamten Roman hinweg, die Spannung zu halten. Trotzdem erschweren die kaum gekennzeichnete direkte Rede und die assoziativ verbundenen Sätze die Lektüre, da den einzelnen Figuren keine individuelle Stimme gegeben wird, die sie erkennbar und trennbar von einander machen. Durch die politische Aktualität, also unserer unmittelbaren Betroffenheit durch die Auswirkungen solcher Bürgerkriege auf die Flüchtlingsströme und den Versuch der Integration in Europa, ist der Roman sehr zu empfehlen. Auch wenn eine Identifikation und ein vollständiges Begreifen des Lebens in akuter Terror- und Lebensgefahr durch den Roman nicht ermöglicht wird, bleibt zumindest die Frage nach den eigenen Moralvorstellungen nach der Lektüre hängen.

Wenn selbst ein Arzt, der tagtäglich Menschenleben rettet, zur politischen Positionierung und zur Infragestellung der Wirksamkeit seiner Arbeit gezwungen wird: Auf welcher Seite steht dann jeder Einzelne von uns? Und kann man seine Taten immer mit seiner Moral vereinbaren?

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2018 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2018 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Evelyn Schlag: Yemen Café. Roman.
Deuticke Verlag, Wien 2016.
366 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783552057982

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