Eine Liebe in Zeiten der deutschen Teilung
In seinem Roman „Verwirrnis“ bleibt sich Christoph Hein treu und erzählt ein weiteres Kapitel deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit Verwirrnis hat Christoph Hein seinen neuen Roman überschrieben. Der Begriff findet sich nicht in der aktuellen Duden-Ausgabe, klingt aber so kurz vor dem Fontanejahr 2019 ein bisschen nach Irrungen, Wirrungen (1888). Und in der Tat weist Heins Buch – neben allen Unterschieden – eine nicht zu übersehene Parallele zu dem Werk seines berühmten Kollegen aus dem 19. Jahrhundert auf. Hier wie dort geht es um die Geschichte einer Liebe zwischen zwei Menschen, die scheitert und durch ein Provisorium ersetzt wird, das dem Einzelnen zu öffentlicher Reputation verhilft, ihn privat aber zum Leiden verurteilt.
Friedeward Ringeling heißt der Held des Romans. Am 1. September 1939 im eichsfeldischen Heiligenstadt als drittes Kind einer Krankenpflegerin und eines Gymnasiallehrers geboren, prägen seine Kindheit und Jugend die strengen Regeln des katholischen Elternhauses, zu denen auch die mit dem sogenannten Siebenstriemer vollzogene Prügelstrafe für Vergehen jedweder Art zählt, und die Flucht seines älteren Bruders aus der als Tyrannei empfundenen Abhängigkeit vom Vater. Friedeward selbst bringt diese Kraft nicht auf, zumal ihn seit der elften Klasse die Freundschaft zu seinem neuen Klassenkameraden Wolfgang Zernick hilft, einen anderen Weg ins Leben zu finden als den vom Vater für ihn vorgesehenen. Die beiden Jungen sind bald unzertrennlich. Man träumt von einer Zukunft als Künstler, liest dieselben Bücher, schwärmt für die gleichen Schriftsteller und versucht, sich auch äußerlich von den Klassenkameraden mehr und mehr abzuheben.
Außenseiter wie Friedeward und Wolfgang prägen Heins Werk von Anfang an. Es zieht sich eine gerade Linie von der Ärztin Claudia aus der Novelle Der fremde Freund (1982) über den Historiker und Museumsleiter Horn aus dem Roman Horns Ende (1985) und den Geschichtsdozenten Hans-Peter Dallow aus Der Tangospieler (1989) bis zu den Helden der ersten Nachwendebücher und in jüngster Zeit zu dem mit einem entscheidenden Makel behafteten Glückskind mit Vater (2016) Konstantin Boggosch und den Angehörigen der Familien Trutz und Gejm in Heins letztem Jahrhundertbuch Trutz (2017).
Sie alle haben es schwer, weil sie nicht mitschwimmen im Strom, aus den unterschiedlichsten Gründen anecken bei jenen, die gerade das Sagen haben, auf ihrer Individualität bestehen und sich nicht vorschreiben lassen wollen, wie sie die Welt zu sehen haben. Es sind Menschen, deren Tragik darin liegt, dass sie das Richtige tun wollen innerhalb einer gesellschaftlichen Ordnung, in der „das Richtige“ unabhängig von den Ansichten Einzelner von vornherein festgelegt ist und gegen jeden Widerstand durchgesetzt wird. Ein Richtiges, das sich für Heins Helden immer gerade als das Falsche herausstellt, als etwas, dem sie ihre Zustimmung verweigern müssen, um sich selbst noch in die Augen blicken zu können.
Friedeward Ringeling – ein Name, der onomatopoetisch den Nachkriegsfrieden einläutet –und Wolfgang Zernick gehören, nachdem sie sich bei einer gemeinsamen Ostseefahrt ihrer Homosexualität bewusst geworden sind, sogar im doppelten Sinne zu den Ausgegrenzten. Im katholischen Eichsfeld ist Homosexualität „eine krankhafte Verhaltensstörung, die behandelt werden muss“, wie es Friedewards Vater formuliert, der seinem Sohn die „Sodomie“ mit der siebenschwänzigen Peitsche austreiben will. In den beiden deutschen Staaten – im Osten Deutschlands bis 1957 – stellte sie in jener Zeit gar einen Straftatbestand dar, der mit Gefängnis geahndet werden konnte.
Also muss man sich schützen. Das geht am besten, wenn man seine gleichgeschlechtlichen Neigungen hinter einer der Öffentlichkeit als „normal“ geltenden Beziehung versteckt. Für Wolfgang ist das zunächst kein großes Problem. Seiner Cousine Helga ist er so gut wie versprochen. Die Wochenenden verbringt er gewöhnlich mit ihr im benachbarten Städtchen Leinefelde. Für Friedeward ergibt sich erst, als er seinen Studienplatz von Jena, wo ihn die Philosophieveranstaltungen mit ihrer marxistisch-leninistischen Grundierung langweilen, nach Leipzig zur Germanistik verlegt hat, eine Möglichkeit, seine Präferenzen wirkungsvoll zu tarnen.
Jaqueline heißt die Studentin der Theaterwissenschaften, die ihm – sie selbst ist mit einer ihrer Professorinnen liiert – den Vorschlag macht, durch das Eingehen einer Scheinehe jeglichen Verdacht für immer von sich abzulenken. Seine Heiligenstädter Familie sowie das kollegiale Umfeld in Leipzig, wo er nach herausragenden Studienleistungen eine Hochschulkarriere als Literaturwissenschaftler beginnt, kann er damit noch täuschen. Sich selbst, der er seiner gesamten Umwelt gegenüber nun eine Rolle spielen muss, nicht. Als sich nach dem 13. August 1961 zusätzlich noch die Mauer als unüberwindliches Hindernis zwischen den aufstrebenden Germanisten und den inzwischen in Westberlin bei dem Komponisten Ernst Pepping sein Studium der Musikwissenschaft fortsetzenden Freund schiebt, endet die Liebe zwischen den beiden. Später wird sich Friedeward mit einem Kellner aus dem berühmten Leipziger Coffe Baum zusammentun, obwohl der intellektuelle Graben zwischen ihnen mehr als groß ist. Wolfgang Zernicks Karriere als Kirchenmusiker endet fürs Erste, als seine Homosexualität ruchbar wird und er daraufhin gezwungen ist, sein Studium an der Westberliner Hochschule für Musik abzubrechen.
Hein hat in die knapp 300 Seiten seines Romans eine Menge hineingepackt. Vielleicht ist es diesmal sogar zu viel. Denn nach der Geschichte einer scheiternden Liebe zwischen zwei jungen Männern im geteilten Deutschland breitet er vor seinen Lesern im letzten Buchdrittel anhand des Schicksals der Leipziger Universität in den ersten Jahren nach der Wende auch noch einen exemplarischen Fall von jenen Fehlern aus, die bei der Wiedervereinigung gemacht wurden. Fehler, an deren Folgen das Bürger-Staat-Verhältnis im Osten Deutschlands teilweise bis heute leidet.
Erinnert der erste Romanteil ein wenig an die Jugenderinnerungen Heins, wie sie den 1997 erschienenen Prosaband Von Anfang an prägten, muss man beim Lesen des zweiten Teils, der die zwar schwierige, aber außerordentlich erfolgreiche Hochschulkarriere Friedeward Ringelings im letzten Jahrzehnt der DDR und den ersten Jahren nach der Wende in den Fokus rückt, ein wenig an das Schicksal einer anderen Figur Heins denken, jene des Kulturwissenschaftlers Rüdiger Stolzenburg aus dem 2012 mit dem Uwe-Johnson-Preis ausgezeichneten Roman Weisskerns Nachlass (2011).
Ganz großartig gelungen sind im Übrigen auch die beiden Porträts der das Geistesleben an der Leipziger Universität in den 1950er und frühen -60er Jahren entscheidend mitprägenden, charismatischen Hochschullehrer Hans Mayer, der die DDR 1963 verließ, und Ernst Bloch, der bereits zwei Jahre vorher, nach dem Bau der Mauer 1961, nicht wieder in das östliche Deutschland zurückkehrte. Beide tauchen bei Hein nicht namentlich auf. Der Literaturwissenschaftler Mayer wird von den Studenten „Goethe-höchstselbst“ genannt, der Philosoph Bloch „Hegel-auf-Erden“. Sie sind „die heimlichen, die eigentlichen Fürsten von Leipzig“, wie es an einer Stelle des Romans heißt.
Allein Friedeward Ringeling, so groß die Bedrängnis auch ist, der er sich immer wieder und von verschiedenen Seiten ausgesetzt sieht, will dem Beispiel dieser beiden nicht folgen, sondern das Leben an genau jenem Platz meistern, zu dem es ihn geführt hat. Dass das tragisch für ihn ausgehen wird, die Gespenster seiner Kindheit ihn bis zum Lebensende nicht loslassen, ist ihm früh bewusst. Zum Schluss lässt Hein zwei andere Menschen sich für den Weg entscheiden, den zu wählen sich sein Held nicht traute – auch eine Art „Prinzip Hoffnung“, mit dem der Berliner Autor seinen Roman beendet.
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