Der Erregungstechniker

Michael Angele porträtiert den 2014 verstorbenen Publizisten und FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die wohl erstaunlichste Zahl in Michael Angeles Frank-Schirrmacher-Porträt lautet 72. So viele Personen durften sich vor vier Jahren in der FAZ an den Publizisten erinnern – nach dessen überraschendem Tod im Alter von 54 Jahren. Kein Helmuth Kohl, kein Stephen Hawking wurde mit solch einer Nachruf-Flut verabschiedet. Schirrmacher selbst hätte das wohl für ebenso angemessen gehalten wie die Gedenkfeier in der Frankfurter Paulskirche, immerhin hielt sich der Mitherausgeber der FAZ für den größten Publizisten seit Martin Luther.

Was zumindest nicht ganz so vermessen klingt, wenn man sich daran erinnert, dass dieser „Dirty Harry des Feuilletons“ praktisch alle wichtigen intellektuellen Debatten der letzten Jahrzehnte mitgeprägt hat. Meist war es sogar so, dass Schirrmachers Beiträge sie überhaupt erst ins Rollen brachten. Oder sie in eine ganz andere Umlaufbahn hoben. Wie beispielsweise die Diskussion um die Rechtschreibreform, bei der sich Schirrmacher erst spät einschaltete, dann aber gleich zu zivilem Ungehorsam à la Stauffenberg aufrief. Ein Beispiel dafür, wie Schirrmacher die Bedeutung seiner Themen mitunter bis zur Lächerlichkeit hochjazzte, so Michael Angele: „Worüber auch immer Schirrmacher […] schrieb, stets lautete der Begleittext: Groß ist die Sache, von der ich schreibe (sonst schreibe ich gar nicht).“

Kein Wunder, dass Schirrmacher schon früh zur literarischen Figur wurde, bei Eckhard Henscheid etwa oder Rainald Goetz. Wer aber war Schirrmacher wirklich? Und wie konnte dieser Beamtensohn aus Wiesbaden innerhalb weniger Jahre vom Literaturkritiker zum wohl einflussreichsten Journalisten der Bundesrepublik aufsteigen? Es sind Fragen wie diese, die im Zentrum von Angeles Buch stehen; die Themen von Schirrmachers Bestsellern dagegen – die Überalterung der Gesellschaft, die Schuldenkrise, die Folgen der Digitalisierung – kommen nur am Rande vor. Was wohl auch daran liegt, dass Angele mit dem apokalyptischen Ton des späten Schirrmacher nur wenig anfangen kann.

Angeles Schirrmacher-Porträt – „Biografie“ wäre in der Tat zu viel gesagt – tendiert zwar etwas zum Klatsch, man denke nur an die Aufzählung all der boshaften Spitznamen, die seinerzeit in der FAZ-Redaktion über den „Chef“ kursierten, von „Caligula“ bis „Karlsson vom Dach“. Auch nerven die reportagehaften Schnörkel, wie die Plauderei mit Zeitzeugen „bei einer Portion Semmelknödel“. Die Lektüre lohnt trotzdem, zeichnet der stellvertretende Chefredakteur der Wochenzeitung Freitag doch das luzide Psychogramm einer schillernden Persönlichkeit voller Widersprüche und Idiosynkrasien.

Schirrmacher sei weit mehr als nur ein „Machtmensch“ gewesen: ein „Rauschmensch“, ein „Erregungstechniker“. Durch gezielte Provokationen und Regelverstöße versetzte er das Publikum ein ums andere Mal in produktives Staunen. Mit seinen journalistischen Tabubrüchen ähnelte der Publizist, so Angele, einem Schelm, mit all der moralischen Ambivalenz, die dieser Figur zu eigen ist.

Allein sein kometenhafter Aufstieg bei der FAZ: mit 29 Jahren Nachfolger von Marcel Reich-Ranicki als Literaturchef, mit 34 Aufstieg in die Riege der Herausgeber. Möglich war das nur durch viel Chuzpe und Kniffe von geradezu Felix-Krull-haftem Charme. Schirrmachers journalistische Coups zeichnete dagegen vor allem ein Moment der „Überrumpelung“ aus, erklärt Angele, ob es sich um den offenen Brief an Martin Walser über sein noch gar nicht veröffentlichtes Buch Tod eines Kritikers handelte oder die von Schirrmacher mit betriebene Publikmachung des privaten Anrufes des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff bei Kai Diekmann.

Gerade das Beispiel Christian Wulff zeigt jedoch die Schattenseiten von Schirrmachers Wirken, immerhin wurde Wulff später von der Justiz von allen Vorwürfen freigesprochen. Zu Fall gekommen war er 2012 aber durch eine „konzertierte Aktion“, so Angele. Dabei hatten sich Schirrmacher, der von den Gerüchten um eine angebliche Rotlicht-Vergangenheit von Bettina Wulff geradezu besessen gewesen sein soll, und die damaligen Chefs von Spiegel und Bild, Stefan Aust und Kai Diekmann, gegenseitig die Bälle zugespielt. Man kann daher Angele nur recht geben: Das Beispiel der Kampagne gegen Wulff bestätigt viele Vorurteile über die Verfilzung im Medienbetrieb.

Titelbild

Michael Angele: Schirrmacher. Ein Porträt.
Aufbau Verlag, Berlin 2018.
222 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783351037000

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