Sirenenhafte Warnfunktion

„Es war einmal“: Marina Warner legt eine konzise Einführung in die Welt der Märchen und Fairy Tales vor

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die englische Literaturwissenschaftlerin Marina Warner erforscht seit Jahrzehnten die „Fairy Tales“ und ist die denkbar beste Führerin durch den dunklen Märchenwald. Nun hat sie über das ehrwürdige Genre eine konzise Einführung vorgelegt. In neun Kapiteln deckt die 71-Jährige alles ab: von den wiederkehrenden Motiven (Spiegel, Schlüssel und so weiter) bis zur „Magie der Metamorphose“, von Scheherazade bis zu J. K. Rowling, von der mündlichen Erzähltradition bis zum Einfluss des Blaubart-Stoffes auf „mummy porn“ à la Fifty Shades of Grey.

Warners Buch Es war einmal. Die Magie der Märchen überzeugt aber nicht nur durch seinen eleganten, mit klugen Metaphern angereicherten Stil, sondern auch, weil es zur rechten Zeit das Augenmerk darauf lenkt, dass Märchen wie Der gestiefelte Kater oder Dornröschen seit jeher „notorische Wanderer und Grenzgänger“ sind, die sich um Sprachräume oder „Nationalkulturen“ nicht kümmern. Deshalb, betont Marina Warner, könne es sogar „einen fortwährenden Widerhall zwischen einer palästinensischen Erzählung und einer Erzählung der Inuit“ geben. Den Erstellern berühmter Märchensammlungen wie den Brüdern Grimm, die nach „unverfälschten Originalen“ suchten, habe die Migrationsfreudigkeit der Märchen erhebliches Kopfzerbrechen bereitet, erfährt der Leser.

Viel Raum gibt Marina Warner auch der Auseinandersetzung mit der feministischen Ideologiekritik am Genre, wonach Märchen bösartige Werkzeuge zur Gehirnwäsche gerade von Mädchen im Dienste von Patriarchat oder Schönheitsindustrie seien. Warner betont stattdessen gerade den Realismus der Märchen, die nicht nur existenzielle Erfahrungen wie Liebe, Tod, sexuelle Abweichungen oder Verrat vermittelten, sondern überhaupt ein „mit Geschichte vollgepacktes Archiv“ darstellten: „Der Zaubertopf mit Hirsebrei, der nie leer wird, spricht Bände über eine Welt, in der Hunger und Entbehrungen und schreckliche Plackerei das Los der meisten Menschen sind“.

Eine „sirenenhafte Warnfunktion“ komme Märchen auch im Hinblick auf Kindesmisshandlungen oder -missbrauch zu, man denke nur an die Eltern von Hänsel und Gretel, die ihre Kinder zum Sterben im Wald zurücklassen – und die womöglich Vorfahren jenes kalifornischen Elternpaares sind, die ihre Kinder jahrelang angekettet hungern ließen. Was die Geschlechterverhältnisse angeht, so haben gerade feministische Autorinnen wie Angela Carter das Genre inzwischen gehörig auf den Kopf gestellt, wenn zum Beispiel Rotkäppchen als selbstbewusste junge Frau dem Wolf nackt und herausfordernd entgegentritt. Eine Tendenz, die Hollywood längst genüsslich aufgegriffen hat: In Shrek zum Beispiel ist nicht nur der Held, der Oger Shrek, ein – liebenswertes – Monster, sondern am Ende auch die zuvor anmutige Prinzessin.

Titelbild

Marina Warner: Es war einmal. Die Magie der Märchen.
Mit Anmerkungen und übersetzt von Holger Hanowell.
Reclam Verlag, Stuttgart 2017.
240 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783150110447

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