Schlecht denken über die Welt

Geoffroy de Lagasnerie über „Denken in einer schlechten Welt“

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der bemerkenswerte Erfolg, den Didier Eribon und Édouard Louis seit einiger Zeit hierzulande feiern, ist nicht zuletzt den Selbstversicherungsversuchen einer verunsicherten Linken zu danken. Eribons autobiografisch grundierte Rückkehr nach Reims wurde, Jahre nach ihrem Erscheinen in Frankreich, in Deutschland zu einem Bestseller. Louis’ Romane Das Ende von Eddy und Im Herzen der Gewalt wurden von der Kritik nicht nur aufgrund ihrer literarischen Qualitäten gefeiert, sondern auch als Ausdruck eines kritischen Diskurses um das Verhältnis von Identitäts- und Klassenpolitik aufgenommen. Seitdem bereichern diese französischen Autoren nicht nur die Diskussionspodien unserer Republik, von wo aus sie das durch Brexit, Donald Trump und AfD irritierte linksliberale Bürgertum therapieren, sondern eben auch die Verlagsprogramme. Gewissermaßen im Kielwasser ihres Erfolgs ist dort inzwischen auch der Philosoph und Soziologe Geoffroy de Lagasnerie aufgetaucht. 1981 geboren, lehrt er an der École nationale supérieure d’arts in Cergy im Großraum Paris und bildet gemeinsam mit Eribon und Louis eine Art Intellektuellentrio, das sich unter anderem durch wechselseitige Buchwidmungen verbunden ist (Louis’ erster Roman war Eribon, sein zweiter Lagasnerie gewidmet) und, auf der Höhe der Zeit, via Instagram inszeniert. In Deutschland liegen inzwischen mehrere Publikationen Lagasneries in Übersetzung vor, darunter nun auch das schmale Büchlein Denken in einer schlechten Welt (Penser dans un monde mauvais). Felix Kurz hat es ins Deutsche übersetzt.

Dass die Welt schlecht sei, das dürfen wir geneigten Leserinnen und Leser ja bereits dem Titel entnehmen. Darum bedarf es wohl auch keiner weiteren Begründung, warum sie denn eigentlich schlecht ist – oder vielmehr: warum sie denn eigentlich so schlecht ist: Rassistisch und xenophob, homophob und misogyn ist diese „Welt“ hier der Inbegriff eines ungerechten, auf Ausbeutung beruhenden Machtzusammenhangs. Das allerdings ist in Lagasneries Augen kein existenzielles oder metaphysisches Missgeschick, sondern wohl doch veränderlich – wenngleich uns Näheres zum Wie und Wo solcher Veränderung leider nicht mitgeteilt wird. Eben dazu bedürfe es einer aktivistischen, widerständigen Haltung, auch und gerade im Bereich von Kunst und Literatur und insbesondere in der Wissenschaft.

Im Grunde lässt sich das in sechs Abschnitte unterteilte Büchlein so auf einen knappen Nenner bringen: Die Philosophie und die Sozialwissenschaften haben die Welt bislang nur verschieden verändert, es kommt aber darauf an, Widerstand zu leisten. Philosophie und Sozialwissenschaften, wie sie praktiziert würden, seien nicht nur nicht genügend oppositionell und widerständig, vielmehr seien sich auch noch in dem verhängnisvollen Irrtum befangen, sie würden durch politische Zurückhaltung, durch das Bemühen um Neutralität, durch die Orientierung an Idealen wie Wahrheit, Erkenntnis und Objektivität ihre Aufgaben erfüllen, wo sie doch damit nur zur Stabilisierung der ungerechten Machtverhältnisse in jener schlechten Welt beitrügen. Die Wissenschaft sollte vielmehr, so Lagasnerie, als Aggregatszustand eines widerständigen Aktivismus betrieben werden. Das gilt nicht minder für Kunst und Literatur.

Dass in diesem Buch rein gar nichts nuanciert oder differenziert wird – im Gegenteil ist es ausdrücklich auf das Ganze, auf „Totalität“ aus –, kann man gewiss wohlwollend als eine erfrischende Provokation empfinden. Neu ist an dieser Provokation aber eigentlich wenig. Der Autor knüpft immer wieder, wenn auch betont einseitig, an bestimmte Referenzautorinnen und -autoren an (wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Michel Foucault, Pierre Bourdieu und Judith Butler). Was nicht heißt, dass er an ihnen im Detail nichts auszusetzen hätte. Im Kapitel „Die Fallstricke der Kritik“ führt Lagasnerie beispielsweise gegen das Konzept der Kritik einen Gedanken an, den er mit Foucaults Überlegungen in Überwachen und Strafen verbindet: Nicht jede Kritik, und sei sie auch wahr, sei zugleich auch oppositionell und widerständig, insofern sie sich womöglich derselben Diskurse, derselben Argumente bediene wie die Struktur oder Institution, die es anzugreifen gilt. Dadurch kann Kritik zwar durchaus Wahres über die ungerechten, unhaltbaren Zustände der schlechten Welt aussagen, wie zum Beispiel über das Gefängnissystem, aber es fehlt die Perspektive, das vorgegebene Deutungsparadigma und die bestehende Machtstruktur insgesamt zu überwinden. Das gibt der herkömmlichen Kritik einen Stich in Richtung Kollaboration.

Analog bemängelt Lagasnerie die Vorstellung einer sich als autonom oder zweckfrei verstehenden Kunst oder Wissenschaft. Indem man auf die rigorose Infragestellung des bestehenden Systems verzichte, belasse man es intakt oder nutze ihm sogar. Mag man ihm auch noch so kritisch gegenüberstehen, die vorherrschenden Kriterien von ökonomischer beziehungsweise politischer Nützlichkeit und Opportunität bleiben unangetastet. Ironischerweise ist es hier allerdings Lagasnerie selbst, der den Weg des von ihm skizzierten „Systems“ konsequent zu Ende denkt. Denn wenn er die Autonomieansprüche von Bereichen wie Kunst, Literatur und Wissenschaften immer wieder zurückweist, um sie dem Konzept eines aktiven politischen Widerstands zu unterwerfen, radikalisiert er letztlich nur ihre politisch-gesellschaftliche Verzweckung, die er ihnen in Gestalt ihrer romantischen Autonomievorstellungen ex negativo noch zum Vorwurf gemacht hat. Kann prinzipieller Widerstand und Opposition gegen eine ungerechte Gesellschaft, gegen eine schlechte Welt aber ernsthaft darin bestehen, dass man sich die Funktions- und Nützlichkeitskriterien dieser schlechten Welt selbst zu eigen macht? Eher müsste man wohl bei einer Infragestellung dieser selbst ansetzen. Aber davon ist Lagasnerie weit entfernt. Stattdessen projektiert er eine schlichte, allerdings unverhohlene Umkehrung seiner karikaturhaften Vorstellung des ungerechten „Systems“.

Einem zeitlosen Diktum Odo Marquards zufolge vermag man dem Tribunal am besten dadurch zu entgehen, indem man es selbst wird. Lagasnerie macht es vor. Festzustellen, der herkömmliche Wissenschaftler in seinem angeblichen Festhalten an Begriffen wie Wahrheit und Objektivität bewege sich irgendwo zwischen Missverstand und Kollaboration, ist ja auch nur eine elegante Weise, mitzuteilen, auf welchem Standpunkt im Verhältnis zu Wahrheit und Objektivität man sich als Autor selbst befindet. Ein Schelm, wer da Böses denkt. Wieso eigentlich sollte die hier sorgfältig gepflegte Attitüde eines totalisierten Widerstands weniger im Interesse der Mächtigen und ihres ominösen Systems stehen als die Haltung der bloß kritischen Kollaborateure? Welche bessere Garantie für die Perpetuierung wie auch immer schlechter und veränderungsbedürftiger Zustände könnte es eigentlich geben als eine Haltung der Verweigerung, die sich selbst darin gefällt, der ach so schlechten Welt vage von einem ganz Anderen zu raunen, ohne einen Weg dorthin aufzuzeigen?

Wenn auch dem Rezensenten bislang nicht aufgefallen ist, dass sich Intellektuelle oder Wissenschaftler jedweder Fachdisziplin prinzipiell zurückhalten würden, wo es darum geht, Politik und Öffentlichkeit zu verkünden, wie es eigentlich richtig gemacht werden müsse, ist Lagasneries Nonchalance bemerkenswert, mit der er beiseiteschiebt, was andere noch für eine Errungenschaft der Moderne gehalten haben – Differenz und Autonomie etwa, und sei es nur die der Wissenschaft. Wenn hier also vom sogenannten Zeitalter der Aufklärung bloß mehr ein trotziges Wollen zum Widerstand bleibt, eine selbstgefällige Attitüde, die sich selbstgewiss auf einem von vornherein feststehenden Urteil über die Welt ausruht – die sich auch ihrer Mittel längst so weit vergewissert hat, dass alle Aktivitäten l’art pour l’art nur noch als mehr oder weniger unnützer, schädlicher Zeitvertreib wahrgenommen werden können –, dann hat sich dieses Zeitalter wohl totgelaufen. Was soll dort eigentlich noch gegen wen verteidigt werden, wenn Autonomie und Differenz nur noch lästige Scheinkonzepte sind, die der Politik im Wege stehen? Wozu soll man sich da eigentlich noch emanzipieren und wogegen genau gilt es Widerstand zu leisten? Und worin besteht dann eigentlich noch der Unterschied zu solchem Widerstand, der Leuten wie Lagasnerie sonst umstandslos als reaktionär gilt?

Titelbild

Geoffroy de Lagasnerie: Denken in einer schlechten Welt.
Übersetzt aus dem Französischen von Felix Kurz.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018.
118 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783957575272

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