Von Wölfen und Menschen

In seinem Roman „Der scharlachrote Wolf“ erzählt Goderdsi Tschocheli eine Geschichte zwischen alten archaischen Mythen und zeitgenössischer Gesellschaftskritik

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die ersten vierzig Seiten von Goderdsi Tschochelis ursprünglich 1984 erschienenem Roman lesen sich wie ein Pastiche auf Franz Kafka: Ein junger Schauspielstudent namens Luka kommt aus seinem kaukasischen Heimatdorf nach Tiflis und sieht sich mit einer fremden, surreal anmutenden Welt konfrontiert. Die bürokratischen Strukturen, die jegliche Institution durchsetzt haben und das menschliche Miteinander in jeder nur denkbaren Situation verkomplizieren und nahezu unmöglich machen, wirken auf den jungen Mann zunehmend zersetzend. Dazu kommt die für den Leser undurchdringliche Raum- und Zeitstruktur des Erzählten. Es scheint, als ob jegliche Erzähllogik außer Kraft gesetzt und durch die Haltlosigkeit einer Traumwelt ersetzt wurde.

Luka landet zunächst im von der Militärpolizei hermetisch abgeriegelten Studentenviertel, unvermittelt stirbt ein Aufseher auf seinem Bett, plötzlich sitzt er in einer Kneipe mit Kollegen, sein Mantel wird gestohlen, er endet auf der eiskalten Straße und bekommt einen Eimer Wasser über den Kopf. Als Nächstes begegnen wir ihm im Krankenhaus, ein längerer Aufenthalt auf einer Station, die eine deutliche Hommage an Kafkas Gericht im Proceß ist. Eine leibliche Schwester Lukas taucht auf und verschwindet wieder. Nach mehreren Wochen wird er entlassen und sofort wieder verhaftet. Wiederholt hat sich Luka gegen die Willkür der Milizen gewehrt, nun bekommt er die Quittung: Er wird eingesperrt, jedoch am nächsten Tag wieder freigelassen, auch die Polizeistation erinnert an die juristische Willkür im Proceß. Luka beschließt, Tiflis zu verlassen und in sein Heimatdorf zurückzukehren. Doch der Bus kann die vereisten Bergstraßen nicht passieren, er steigt aus und beschließt, den Weg durch die kaukasischen Berglandschaften zu Fuß fortzuführen.

Und plötzlich, nach dieser überwältigenden Fülle an Handlung, kippt der Roman: Luka verläuft sich, wird von Wölfen verfolgt und umzingelt, doch ein alter Mann rettet ihn und nimmt ihn in seine Berghütte mitten im Nirgendwo mit. Die restlichen drei Viertel des Romans spielen nun ausschließlich dort. Luka lauscht den Erzählungen des Einsiedlers, der von sich behauptet, einst ein Wolfsmensch gewesen zu sein, wie alle Wölfe Kaukasiens. Theovdore, der alte Mann, berichtet von archaischen Mythen, heidnischen Bräuchen und vom Schicksal der Formwandler, in deren Mitte er einst weilte. Und auch in Luka kommt im Zuge von Theovdores Geschichten die Erinnerung an Märchen und Erzählungen aus seinem Heimatdorf auf. Erzählt wird hierbei höchst assoziativ: Eine Geschichte ruft eine andere hervor; es werden Verbindungen zwischen Mythen gezogen, Motive miteinander verknüpft. Das Ergebnis ist schlichtweg atemberaubend. Gleichzeitig ist Der scharlachrote Wolf spannend wie ein Thriller, weil sich Luka und mit ihm der Leser niemals sicher sein können, ob der alte Mann nicht doch wieder die Gestalt des Wolfs annehmen wird, um den wehrlosen Protagonisten zu verschlingen.

Die raue, archaische Welt, die Tschocheli, der 2007 aus dem Leben schied, in Der scharlachrote Wolf heraufbeschwört, ist seine eigene, und viele Geschichten stammen aus seiner eigenen Erfahrungswelt. So hebt die Übersetzerin Anastasia Kamarauli in ihrem Nachwort zum Roman hervor, dass etwa die Anekdote über Frauen, die zur Geburt ihres Kindes das Dorf verlassen und für vierzig Tage in eine entlegene Hütte umsiedeln müssen, den Erfahrungen Tschochelis Mutter entstammt. Dieser sei sogar auf dem Weg zur Hütte geboren worden, da seine Mutter es nicht dorthin geschafft habe.

Es ist außerdem naheliegend, dass der noch vor der Perestroika verfasste Roman und die Welt der Wölfe, die er eindringlich beschreibt, nicht nur dem Erzählen alter mythischer Geschichten dient, sondern auch eine Anspielung auf die Sowjetunion ist. „Die Metapher des Wolfs gibt Tschocheli die Möglichkeit, die Verrohung der Moral in der sowjetischen Gesellschaft äußerst unterschwellig zu kritisieren“, schreibt Kamarauli in ihrem Nachwort. Tschocheli selbst sagte Jahre später über seinen Roman: „Später fingen die Menschen wirklich an, sich wie Wölfe zu verhalten. Diese Wolfsnaturen wurden in Georgien immer mehr, sie haben sich alles unter den Nagel gerissen, und sie begannen, dieses Land nach den Gesetzen der Wölfe zu führen.“

Und auch wenn einige Jahrzehnte seit dem Ende der Sowjetunion vergangen sind, kann dieser faszinierende Roman 35 Jahre nach seiner Entstehung noch als wunderbar zeitloses Buch gelesen werden, das einen guten Einstieg in den Reichtum der georgischen Literatur bietet.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Goderdsi Tschocheli: Der scharlachrote Wolf. Roman.
Mit einem Nachwort der Übersetzerin.
Übersetzt aus dem Georgischen von Anastasia Kamarauli.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2018.
222 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783627002565

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