Zwischen Ästhetizismus und Öko-Faschismus

„Hysteria“ von Eckhart Nickel

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der erste Satz entscheide darüber, so Stil-Guru Wolf Schneider, ob ein Roman die Gunst der LeserInnen gewönne oder nicht: „Mit den Himbeeren stimmt etwas nicht“ – dieser eher lapidare Einstieg, in der Kritik bereits mehrfach gewürdigt, kreiert einen prägnanten Primat-Effekt. So nimmt es nicht wunder, dass Nickels Romanbeginn im Rahmen des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs 2017 preisgekrönt wurde.

Bergheim, hypersensibler Protagonist von Hysteria, beäugt besagte Himbeeren mit Argwohn, nicht weil sie etwa Schimmelspuren zeigen, sondern weil ihr Rot viel zu dunkel ist. Beim weiteren Gang über den Biomarkt bemerkt er ein Rind, das sich beim Schubbern verletzt hat, ohne die geringste Blutspur aufzuweisen. Um diesen Besonderheiten auf die Spur zu kommen, besucht Bergheim die Kooperative „Sommerfrische“, in der die Himbeeren geerntet werden und begibt sich danach in das „Kulinarische Institut“, wo er selbst vor einigen Jahren mit Charlotte und Ansgar studiert hat. Im Institut nimmt ihn ein Sicherheitsbeamter in Empfang, bevor er Charlotte trifft, die ihn aber nicht mehr zu kennen scheint. Während der Führung durch die hypermoderne Architektur des Institutsgebäudes verliert Bergheim seine Begleiter. Er findet sich allein in einem Badezimmer wieder und taucht dort beim Ausprobieren einer kuriosen elektrischen Box in seine Vergangenheit ein. In der langen und akribischen Analepse stehen zunächst die 10 Gebote des „Spurenlosen Lebens“, die Bergheim zusammen mit Ansgar und Charlotte als Grundlage der Studienabschlussarbeit formulierte, im Vordergrund. Diese Gebote sollten eigentlich nur die scharfen Gesetze der machthabenden Naturpartei institutsintern persiflieren, fanden aber nicht nur den Weg in die Öffentlichkeit, sondern ernsthafte Anhänger: die „Rousseau-Husaren“. Diese zögerten nicht, die „Returanatura“-Bewegung zu proklamieren und damit eine Extremisierung der ökologisch motivierten Gesetzgebung in die Wege zu leiten. Bergheims Erinnerungen führen in die Zeit vor dieser Bewegung, entfalten das Panorama eines totalitären Staates, in dem alle Drogen, inklusive Alkohol, Koffein, Nikotin und sogar Teein, verboten sind. Es gibt „Abhängigkeitsfahnder“ und „Fruchtdetektive“; Aromabars und andere „organisch-biologische Kräuterküchen“ breiten sich flächendeckend als probate Einrichtungen für den „Kick zwischendurch“ aus. Bei Bedarf versorgt sich Bergheim außerdem bei einem Freund mit illegalen Wachmachern. Mit Charlotte ist er liiert, doch als er während des gemeinsamen Besuchs einer Aromabar einen Schwächeanfall erleidet, schreibt ihm Charlotte einen Abschiedsbrief und verschwindet aus seinem Leben.

Als Bergheim aus seinen Erinnerungen auftaucht, trifft er erneut Charlotte, den sie begleitenden Prof. Schutt, der wenig später die neuen Prinzipien der Returanatura-Bewegung erläutern wird, und schließlich Ansgar, seinen ehemaligen Kommilitonen. Mit ihm wird Bergheim zu einem Abendessen eingeladen, bei dem ausschließlich weiße Speisen serviert werden, die kulinarisch ausgeklügelten Hochgenuss versprechen. Aber es stören eine überdimensionierte Fliege, ein schauerliches Heulen und ein Schrei, den Bergheim nicht zum ersten Mal im Institut hört. Als er die Provenienz des Schreis aufklärt und dabei auf eine gemarterte „Herrin der Fliegen“ trifft, kann er auch das Geheimnis, das die Himbeeren umgibt, entschleiern.

In äußerster Konsequenz wird aus Bergheims Perspektive personal erzählt – in einer angenehm zu lesenden, flüssigen Diktion, deren gelinde Hypotaxen an manchen Stellen aus einem Roman von Thomas Mann entsprungen sein könnten. Als Charakter hätte Bergheim zwar mehr Tiefenschärfe gutgetan, jedoch indizieren er und die anderen Figuren in ihrer leichten Oberflächlichkeit das, worauf es Nickel ankommt: zu zeigen, wie ein „Über das Maß Hinausschießen“ wirkt, wie schnell die Übertreibung des im Kern fraglos Guten in sein Gegenteil umschlagen kann. So entsteht eine Art orthorektische Dystopie, deren Kernaussagen allerdings unter vielerlei intertextuellen Einflussgrößen zu verschwinden drohen.

Eckhart Nickel ist ohne jeden Zweifel ein großer Fan der Literatur des 19. Jahrhunderts. Aus der schier unüberschaubaren Textfülle des Mega-Säkulums ragen in Hysteria einige Pfeiler heraus, so etwa E.T.A. Hoffmans Sandmann als expliziter Intertext und A rebours (Gegen den Strich) von Joris-Karl Huysmans als impliziter. Nicht zu vernachlässigen ist außerdem Sigmund Freuds Essay Das Unheimliche, in dem der Autor just den Sandmann als Interpretationsgrundlage heranzieht. In der Buchhandlung von Hinrich Weiss, die im Roman eine nicht unbeträchtliche Rolle spielt, soll eine Ausstellung zum Sandmann stattfinden, deren Requisiten kurz vor der Vernissage spurlos verschwinden. So wie Nathanael kann auch Bergheim seiner Wahrnehmung nicht trauen – er weiß nicht, ob manche Ereignisse, die ihm widerfahren, als real einzustufen oder doch eher eine Folge seiner Hyperästhesie sind. Er ist nicht heimisch, „heim-lich“, in der Welt, denn das Unheimliche umfängt ihn. Irritierende Elemente brechen in sein Dasein ein (die Himbeeren, das Rind ohne Blut), die nicht unbedingt fantastisch, mindestens aber surreal sind. Eine direkte Referenz auf den Sandmann stellt das Okular dar, eigentlich Sinnbild für das genaue Hinsehen und Erkennen. Kirsten Ofen, Auszubildende in der Buchhandlung, verliebt in Bergheim, besitzt ein Okular, sie deckt – nicht von ungefähr – die Machenschaften der Returanaturalisten auf. In Hysteria tummeln sich weitere Variationen zum Okular, so etwa die mit ihm unterstützten optischen Illusionen, laut Bergheim „Taschenspielertricks“, insbesondere eine Geste des Unheimlichen, die Bergheim kurzfristig glauben macht, dass er ein großes Loch in der Hand habe.

Den Intertext A rebours ruft Nickel vielleicht schon mit dem Namen Bergheim auf („huys“ zu deuten als „Heim“ – „mans“ zu deuten als „Berg“). Nickel könnte seinen Protagonisten mit dem Schöpfer des klaustrophilen Dandys Jean Floressas des Esseintes parallelisieren. Der eine lässt im Roman ein ästhetizistisches Universum erblühen, der andere legt mit den 10 Geboten des „Spurenlosen Lebens“ paradoxerweise und völlig unbeabsichtigt die Basis dafür, dass anorganische Synthetisierungen und Produktionsprozesse eine Vielzahl von Spuren hinterlassen. Bei den Returanaturalisten gerinnt das Erschaffen einer künstlichen Welt, das Überhöhen der Welt durch das Schöne und Exquisite, zu einer Geste der Perversion. Mit der ernst gewordenen Persiflage auf die Prinzipien des „Spurenlosen Lebens“ ist man in der „Sommerfrische“ und im „Kulinarischen Institut“ schon längst zur Hypostasierung des Künstlichen gelangt. Nachzüchtung anstatt Rückzüchtung heißt die Devise, wobei die erste im Gewand der zweiten auftreten soll. Die Nachzüchtung kann sich zwar nicht zur Rückzüchtung transformieren, sie lässt sich aber „cum grano salis“, mit dem berühmten Körnchen Sand im Getriebe, entlarven. Ein Quäntchen vom ursprünglich Organischen demaskiert den Fake: Die Rinder verlieren Fell, wenn sie sich am Zaun reiben, aus den Himbeeren tritt Saft aus.

Die geplante Rückkehr zur Natur mündet in ihre Neukreation, in Nachbildung und ästhetische Gestaltung, was sich vor der Institutionalisierung der Returanatura-Bewegung, vor ihrer Integration in das Ernährungsministerium, in den Surrogaten der verbotenen Drogen äußert. Vor allem in der Aromabar erfüllen synästhetische Strategien die Sehnsüchte nach allem, was über die bloße Natur hinausgeht. Synästhesien befriedigen das Verlangen nach Alterität, nach Abkehr vom Alltäglichen. Die Besucher der Bar können ein politisch korrekt getuntes (dennoch nicht ungefährliches) Getränk genießen, dabei ausgesuchte Musik hören und olfaktorische Trips unternehmen. Gerade hier offenbaren sich die Anleihen bei Huysmans: vor allem auf die Duftorgel, die des Esseintes auf der Basis edler Blüten-Essenzen gestaltet, und auf die ästhetisch überhöhten Nachzüchtungen besonderer Pflanzen wird angespielt. Darüber hinaus ist das besondere „Dîner en blanc“ mit des Esseintesʼ Abschiedsmahl zu vergleichen, einem „Trauermahl“ im schwarzen Dekor mit dunklen Speisen. Und auch wenn immer das Hyperbolische lauert, so konkretisiert sich in diesen Beispielen doch die zentrale Botschaft: Menschen sind nicht Natur allein, sondern auch Ästhetik gehört zu ihren Grundbedürfnissen.

Dass Nickel sich gegen einseitige Ideologisierungen wendet und ein Plädoyer für Diversität lanciert, beweist der hochgradig konnotative Titel. Mit der „Göttin der unsterblichen Hysterie“, der Hystera, die Jean Floressas des Esseintes in Gustave Moreaus Salome erblickt, kommt noch einmal Gegen den Strich ins Spiel. Hystera figuriert als Allegorie im Hintergrund, in die sich viele Komponenten der Bildlichkeit einordnen: Bergheim, der Hypersensible, der schnell in Hysterie verfällt, der seine Umwelt mit allen Sinnen hypertroph wahrnimmt, „Hysteria“ auch als Titel eines Songs der Rockband Muse und vor allem Hystera, die Gebärmutter, die für das später Kommende verantwortlich zeichnet und bei Nickel die Inversion der normalen Folge der Creatio impliziert. Hier erklingt auch der Mythos der „Hystera migrans“. Hystera kreiert das Folgende, aber manchmal ist das, was folgen soll, zuerst da, so wie in der Figur des Hysteron Proteron, die Bergheim im zweiten Kapitel des Romans durch den Kopf geht, deren Namen er aber nicht zu erinnern vermag.

Abschließend ist zu bemerken, dass der Roman an Aussagekraft gewonnen hätte, wenn Nickel die Aspekte der orthorektischen Dystopie und des Ökofaschismus (noch) stärker fokussiert hätte. Gleich zu Beginn des Romans fällt der Archaismus „Sommerfrische“ auf und eine „Schrift, die an Sütterlin erinnert“. Bergheim hat zudem nach dem Besuch der Kooperative den Eindruck, dass ihn eine „kleine Armee“ von Wanderern im Stechschritt verfolgt. Diese signifikanten Punkte hätten einer weiteren Vertiefung bedurft. Ohne diese riskieren sie, von der Myriade weiterer guter Ideen überflutet zu werden.

Allein das 10-Punkte-Programm des „Spurenlosen Lebens“, aufgegriffen von den „Rousseau-Husaren“, schon diese Etikettierung und die Parodie auf „Retour à la nature“ (Returanatura) machen den Roman lesenswert. Aus dem Spaß der Persiflage wurde Ernst, Ernst kam an die Macht, pervertierte seine Prinzipien und ließ exakt das in seinen Hofstaat ein, was er verhindern wollte: ein absurdes Regelwerk, das von Kontrollinstanzen überwacht und oktroyiert wird.

Nickels Roman stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2018. Doch obwohl Nickel es nicht auf die Shortlist geschafft hat, sollte der Roman keineswegs in Vergessenheit geraten. Er bietet ein geballtes Paket an Deutungsangeboten, aus dessen Teilen ein mitunter eklektizistisches Puzzle entsteht, das vor dem Hintergrund einer stets neu zu goutierenden intertextuellen Landschaft auf unterschiedliche Arten zusammengesetzt werden kann.

Titelbild

Eckhart Nickel: Hysteria. Roman.
Piper Verlag, München 2018.
240 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783492059244

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