Retour à Reinbek

Georges-Arthur Goldschmidt rekomponiert in „Die Hügel von Belleville“ Erfahrungen von Exil, Rückkehr und Ankunft

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Georges-Arthur Goldschmidt ist ein erstaunlicher Autor. Ein wundersamer Lebensweg und sein staunenswertes Œuvre verleihen ihm den Rang eines Solitärs in der französisch-deutschen Literaturgeschichte. Am 2. Mai 2018 wurde der französische Erzähler und Übersetzer 90 Jahre alt. Dabei hatten die Nationalsozialisten für den jüdischstämmigen Jungen und seine assimilierte großbürgerliche Familie aus Reinbek ganz andere Lebens- (und Todes-) Wege vorgesehen. Nur weil seine Eltern den Zehnjährigen rechtzeitig nach Italien verschickten und von dort durch Vermittlung einer reichen französischen Cousine weiter in ein Internat in den französischen Alpen, entkam der Junge den faschistischen Häschern.

Mit den einschneidenden Erfahrungen, die er dabei machen musste, befasst sich Goldschmidt in nahezu all seinen Büchern, die er seit den 1980er Jahren publizierte. Fern der Eltern von opferbereiten französischen Helfern versteckt und auch in Notzeiten durchgefüttert, zugleich aber von strengen Erzieherinnen misshandelt, erlebte der Junge nahezu unsagbare Ängste, Lüste und prekäre Selbstgefühle. Diese umkreist der Autor unermüdlich, seit er gut 30 Jahre nach dem Erlebten mit dem Schreiben begann. Anfangs waren es meist autobiografisch orientierte, kürzere Erzählungen, die er selbst vom Französischen übertrug, seiner als Kind in der Not erworbenen Rettungssprache, ins Deutsche, seine ursprüngliche Muttersprache. Gelegentlich übersetzte ihn auch Peter Handke, als dessen ausgezeichneter französischer Übersetzer wiederum Goldschmidt fungierte – neben und nach seinem Deutschlehreramt an einem Gymnasium.

Kurz nach seinem 70. Geburtstag legte er 1999 das französische Original seiner umfangreicheren Autobiografie vor, die 2001 unter dem Titel Über die Flüsse von ihm selbst übertragen auf Deutsch erschien. Darin erinnert, beschreibt und erzählt Goldschmidt weitgehend chronologisch seinen Lebensweg von der Geburt (und dem Hamburger Milieu seiner Vorfahren seit dem 19. Jahrhundert) bis zur Heirat mit seiner französischen Frau in den 1950er Jahren. Nur wenige Seiten galten dabei abschließend seinem Leben als Erwachsener, als Ehemann und Familienvater. Die prägenden, ausführlich geschilderten Erfahrungen waren die seiner Flüchtlingsjahre in Italien und Frankreich sowie das in den 1950ern langsam wachsende Gefühl, in der neuen Heimat und bei sich anzukommen. Wer nun glaubte, damit sei von Goldschmidt alles aufgeschrieben über sein Leben und die Erfahrungen des Ausgesetztseins, der Verfolgung sowie der quälenden Scham- und Schuldgefühle, der wurde seither immer wieder eines Besseren belehrt. Kein Ruhestand mit 70. Statt sich als Pensionär zurückzulehnen oder es bei Gartenarbeit zu belassen, übersetzt er, der seit den 1970ern als Übersetzer von Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Nietzsche und Franz Kafka wirkt, weiterhin Handke, Georg Büchner oder auch Thomas Jonigk. Und er legte nach Ein Ausweg und Ein Wiederkommen im Jahr 2015 erneut eine Erzählung vor, die nun unter dem Titel Die Hügel von Belleville auf Deutsch erschien. Freilich werden die titelgebenden Hügelchen im Umland von Paris auch hier nur ganz am Rande durchstreift – oder zumindest nur kurz einmal beschrieben.

Diese Hügel sind wohl der Ort, an dem Goldschmidt, seit den 1950er Jahren französischer Staatsbürger, lebt – seine gefundene Heimat, der gefestigte Standpunkt, von dem aus er sich an die ihn prägenden Episoden erinnert. Doch diese zentralen Lebensmomente und Schreibanlässe waren und bleiben seine Jahre der Flucht, zudem spätere Reisen in die Kindheitsheimat, die ihn verstoßen hatte, samt befremdlichen Wiederbegegnungen mit Deutschen. Die Narben und das Balsam, die ihm von 1933 bis ungefähr 1960 wiederfuhren, finden auch Eingang in Die Hügel von Belleville. Sie lassen Goldschmidt nicht los. Und sein Publikum kann das insistente sprachliche Umkreisen der wunden Stellen, die Wiederkehr des Schrecklichen, aber auch des Rettenden in der Gefahr, lesend nachvollziehen.

Die mehrmalige Rückkehr als Soldat wie als Reisender ins Land seiner Vorfahren und seiner Kindheit ist das Kernmotiv, das der Spracharbeiter, der auch mehrere Bände mit Reflexionen über Differenzen zwischen der deutschen und der französischen Sprache verfasste, hier nochmals eindringlich erinnert und befragt. Meist schmerzlich, nur selten versöhnlich fallen die Rückkehrerlebnisse und Repulsionsererfahrungen in seiner jüngsten Erzählung aus. Zu den Schlüsselszenen seines Lebens führt Goldschmidt seine Leser diesmal ausgehend von den Erfahrungen seiner Militärzeit, die er 1954 als französischer Soldat in Karlsruhe verbrachte. Er leistete 18 Monate Militärdienst zu jener Zeit, als Frankreichs Wehrpflichtige sich vor dem Tod in den Sümpfen des Indochinakriegs, der gerade zu Ende ging, fürchteten, während der beginnende Algerienkrieg noch kaum wahrgenommen wurde. Das reichlich ausgeteilte Kasernenessen begeistert den 26 Jährigen, der lange hungerte; ebenso das Gefühl, sich in seiner Uniform und als Wehrpflichtiger Franzose zum ersten Mal in seinem Leben „legitim“ zu fühlen.

Als Deutschsprechender wird er oft als Übersetzer eingesetzt. So hat er mehr Kontakt zu den Deutschen als die anderen französischen Soldaten. Weihnachten wird er im Rahmen eines offiziellen Völkerverständigungsprogramms in eine deutsche Familie eingeladen und erlebt „eine Art ethnologischer Reise in eine Vergangenheit […] die nicht mehr die seine war“, in ein betuliches Märchendeutschland. Seine Herkunft als jüdisch stämmiger Hamburger Protestant verschweigt er lieber, wenn sich die Deutschen lamentierend als Kriegsopfer geben. Aus Verlegenheit erfindet er sich eine französisch-elsässische Herkunft – und schämt sich dieser Selbstverleugnung und Lüge umso mehr. Die frühe Scham imprägniert neben dem weithin spürbaren Zorn des Jahrzehnte später Erzählenden dieses schmale Buch als Grundstimmung. Plastisch vergegenwärtigt die neue Erzählung die Schamgefühle des überlebenden Judenchristen auf dem badischen Sofa. Er redet von den Studenten der weißen Rose, die Karlsruher Bürger wissen offenbar nichts davon. Von den euthanasierten Kindern wollen sie schon gar nichts wissen. Die Deutschen (und es waren gewiss nicht die Übelsten, die ihn hier einluden) wollen die Vergangenheit vergessen. Ausführlich hingegen bejammern sie lieber die Notlagen der Besatzungszeit. Als Armee-Übersetzer fühlt der Berichtende sich innerlich lächerlich, aber auch ernstgenommen, sogar von seinen militärischen Vorgesetzten. Gelegentlich setzt er nun als bewaffneter Teil der Sieger seine Macht ein; so wenn er bei einem Verkehrsunfall seiner Truppe manches zuungunsten der deutschen Unfallopfer einfach nicht übersetzt. Das führt den skrupulösen Erzähler und Vivisekteur seiner Scham zu Reflexionen über (un)menschliches Verhalten als Teil einer machtvollen Gruppe.

Mächtig bedrückt ihn zudem sein homoerotischen Begehren, zu dem er auf durchaus perverse, masochistische Art im Internat gelangte, das er freilich, Skandal und Entblößung fürchtend, während seiner Militärzeit zügelt. Originell und seltsam erscheinen die hier vorgetragenen Reflexionen über die unterschiedlichen Topographien deutscher respektive französischer Onanie-Heroen. Während Friedrich Hölderlin demnach feierlich, im Gehölz mit Landschaftsaussicht wichste, „praktizierte“ Jean-Jacques Rousseau „es im Dickicht“. Der Erzähler schließt an diese nationalen Vorbildfiguren der triebgehemmten Jugend eine völkerpsychologische Phantasmagorie an. Sie handelt von fiebernden deutschen Jünglingen in zu engen Lederhosen, unter denen sie die Striemen ihrer erzieherischen Züchtigungen spannend verbergen.

Zorn kennzeichnet die Passagen, in denen das Buch an Orte des nationalsozialistischen Euthanasie-Programms für psychisch und geistig kranke Menschen erinnert. In seiner Militärzeit fuhr der Erzähler, der hier nicht Goldschmidt heißt, einst zur Reparatur eines Offiziersautos durch die Hügel der schwäbischen Alb und sah dabei auch das pittoreske Schloss Grafeneck. Von dem erfährt er viel später (unter anderem über einen Artikel des Spiegel von 1961), dass die Nazis hier im Jahr 1940 Kinder und Erwachsene mittels Kohlenmonoxid vergasten. Nachvollziehbarer Groll markiert auch die Besuche bei seiner viel älteren Schwester, die mit einem protestantischen Deutschen, einem Philosophieprofessor, verheiratet war, die im Lande blieb und in der Nachkriegszeit um bürgerliche Fasson bemüht, so gründlich wie ihr deutsches Milieu alles (und ihre jüdische Abstammung zuallererst) verdrängt und beschönigt.

In manchen Passagen von Goldschmidts Buch werden Erinnerungen an die Kindheit in Reinbek mit der Internats- und Versteckzeit in den französischen Alpen enggeführt und collagiert mit den Erfahrungen als Besatzungssoldat in Deutschland. Die Reibungen beim Zusammenprall dieser Zeiten und Erlebnisse erzeugen Einblicke ins zerklüftete Innenleben des Überlebenden, der nach dem Willen Nazideutschlands nicht überleben sollte. Spannungsgeladen präsentiert sich auch seine Entscheidung, die deutsche Sprache zum Beruf zu machen. Diese Zweifel und Friktionen begleiten sein Leben als Germanistikstudent in Paris, der dann als Übersetzer für Behörden, später als hauptamtlicher Gymnasiallehrer und zunehmend bedeutender literarischer Übersetzer aus dem Deutschen wirkt. Er, der „lebensunwertes Material“ gewesen war, macht aus der Sprache seiner Verfolger nun seinen Lebensinhalt und -unterhalt. Er verbreitet diese Sprache gar noch, indem er sie unschuldigen Schulkindern vermittelt.

Berufssorgen, extreme Prekarisierungsängste und Visionen von allerlei subalternen Tätigkeiten, die gerade zum Überleben reichen könnten, bedrängen den jungen Studenten und später noch den Militärheimkehrer, bis er endlich in einem Gymnasium seinen Beamtenstatus und zudem noch seine lebenslange Gefährtin und Ehefrau finden wird. Aber dieses Ziel, gleichsam die Erlösung vom Leben als gefährdete Randfigur, als Ängstlicher und Ausgesetzter wird (wie schon in der großen Autobiografie) zwar als Rettung benannt, aber kaum auserzählt. Der eigentliche Bildungsroman endet davor. Das glückliche Ende scheint kaum darstellbar. Die Qualen davor hingegen drängen zur Sprache, zur Konfession oder Beichte und finden bei Goldschmidt zu einer ganz eigenen, nüchtern schamlosen Beschreibung des Beschämenden. So etwa, wenn erzählt wird, wie der mehrfach durchs Abitur gefallene, von einer reichen Cousine im Internat finanzierte Exilant mit seinem großem Hunger und seinem abseitigem Sexualverhalten sich vor wie nach seiner Militärzeit meist völlig nutzlos fühlt. Heimgesucht von Scham wird er auch, als er nach seiner abgeleisteten Wehrpflicht seiner Wiedereinberufung, die ihn dann in den Algerienkrieg geführt hätte, nur um wenige Geburtsmonate, nach denen bestimmte Jahrgänge einberufen wurden, entgeht.

Nachdem ihn die Ehe mit seiner Frau und die Eingliederung ins Berufsleben von vielen Selbstzweifeln erlösten, fallen Lasten vom Erzähler. So berichtet das letzte Kapitel von Reisen in Frankreich. Gemeinsam erfolgt die weitere Entdeckung des Landes seiner Rettung, das hier gleichsam Schritt für Schritt und Fahrt um Fahrt als Heimat erschlossen wird, wovon freilich nur kurz angebunden berichtet wird. Die Anschaffung eines Ferienhauses in der tiefen südlichen Provinz ergänzt den Pariser Ort der Arbeit um eine Verwurzelung in der Landschaft, ganz wie es sich für Pariser Bürger gehört. Dabei erschien dem Erzähler sein Frankreich lange noch vernarbter und kriegsverarmter als das gelegentlich besuchte Deutschland im Wiederaufbaufieber, das alles möglichst schnell übertünchen wollte.

Im Vorwort des schmalen Bandes wird im ersten Satz statuiert, dass diese Erzählung wie viele andere „genau in der Mitte zwischen Wahrheit und Erfindung, zwischen Wirklichkeit und Phantasie“ liege. Diese Relativierung und Fiktionalisierung des Folgenden mag Leser, die mit Goldschmidts Biografie und Autobiografie vertraut sind, ein wenig irritieren. Zustimmen wird man dem sodann explizierten Vorhaben: Die Geschichte eines Jahrhunderts „des absoluten Verbrechens“ solle erzählt werden, „wie sie erlebt wurde“. Es gelingt Goldschmidt auch mit diesem Band wieder, haarsträubende Geschichtserlebnisse literarisch zu vergegenwärtigen. Wer Goldschmidts Schlüsselszenen liest und wiederliest, wird etwa den Hamburger Hauptbahnhof, die Stätte seines herzzerreißenden Abschieds von der Kindheitsheimat, ebenso mit einem anderen Blick wahrnehmen wie die abgeschiedenen Täler und Bauerhöfe in Savoyen, die Topographie seiner Rettung – wie auch seiner Erfahrungen von Lust und Gewalt, ausgeübt durch einige der Retter. Die Lektüre dieser Bücher verändert das Gefühl für geschichtliche Räume. Spuren der Verheerungen des 20. Jahrhunderts werden hier lesbar: immer wieder die gleichen, immer wieder anders, immer wieder neu.

Titelbild

Georges-Arthur Goldschmidt: Die Hügel von Belleville. Eine Erzählung.
Übersetzt aus dem Französischen von Georges-Arthur Goldschmidth.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
173 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783596702022

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