Geschichte der Anderen

Stephan Lessenichs Konzept der Externalisierungsgesellschaft stellt Fragen an das politische Potenzial der Soziologie als Wissenschaft

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das theoretische Nachdenken über die Auswüchse und Wirkungsweisen des Kapitalismus des 20. und 21. Jahrhunderts dürfte mittlerweile Bibliotheken füllen. Umso vorsichtiger (ob der Neuartigkeit seiner Erkenntnisse) nähert man sich deshalb dem schmalen Text Neben uns die Sintflut des seit 2014 an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität lehrenden Soziologie-Professors Stephan Lessenich, der sich grundsätzlich mit sozialen Entwicklungen und Strukturen innerhalb des Wohlfahrtsstaats beschäftigt. Seine Auseinandersetzung mit dem spätmodernen Kapitalismus ist dabei im Wesentlichen geprägt vom Großthema sozialer Ungleichheiten, was wiederum eng verknüpft ist mit der Thematisierung von Wandel und Transformation.

Ganz konkret kann seine Analyse gewissermaßen als Zuspitzung bereits in den Diskurs eingespeisten Wissens auf den Begriff der Externalisierung verstanden werden: Neben den aggressiven Tendenzen der Landnahme und Einverleibung ziele die kapitalistische Wirtschaftsform ihrem Wesen nach in besonderer Weise auf Auslagerung wissenschaftlicher Wertschöpfung. Diesem zweiten Aspekt widmet Lessenich das Hauptaugenmerk seiner Betrachtungen: Die politisch gefestigten und wirtschaftlich starken Industrieländer organisieren ihre Macht und die Produktion von Gütern extern und im Sinne einer fundamentalen Umverteilung – Entwicklungsländer fertigen bestimmte Produkte, garantieren den Gewinn der Auftraggeber und müssen gleichzeitig mit den gravierenden sozialen und/oder umwelttechnischen Verlusten, den Negativeffekten, dieser Arbeit leben. Anhand einer Reihe konkreter Beispielfälle (man erinnert sich an die zuweilen tödliche Rohstoffgewinnung und -verarbeitung hochleistungsfähiger Akkus in afrikanischen Kobaltminen) führt der Soziologie vor Augen, welche Folgen eine derart radikale Expansionslogik des Kapitalismus, der schrankenlose Konsumismus westlicher Industriegesellschaften zeitigt. Abgesehen davon, dass sich eine solche Beobachtung mittlerweile empirisch weitreichender unterfüttern lässt (auch in populären Kontexten aktueller Dokumentationsfilme wie zum Beispiel Welcome to Sodom, The Cleaners), ist sie keinesfalls grundstürzend neu. Über den Externalisierungsbegriff knüpft Lessenich vielmehr an das Gros derjenigen an, die seit Jahrzehnten die Symbiose von Kapitalismus und Ausbeutung analysieren, was die Frage stellt, ob es sich in seinem Text nicht zunächst eher um eine Umetikettierung der Kernbegrifflichkeiten handelt.

Erwartbar ist auch seine Kritik an einer umfassenden Verdrängungstendenz als „Ausblendung des Strukturzusammenhangs“: Parallel zur Auslagerung der Warenproduktion lagert die gesellschaftliche Mehrheit auch das Wissen um diesen Zusammenhang schweigend aus und wähnt sich im Dschungel der eigenen Fairness-Etiketten in moralischer Sicherheit. Ein solches Abwehrverhalten, dass sich von der unbequemen Realität zu distanzieren und deren negative Strahlkraft umzulenken sucht, verweist auf all jene Probleme, die die Psychologie unter dem Stichwort der Verdrängung (und entsprechend gewaltsamen Wiederkehr) bereits umfassend analysiert hat. Darauf reagierend sieht Lessenich die Aufgabe der Soziologie – als Legitimation der eigenen Tätigkeit – darin, eine Praxis des Denkens zu kultivieren, die das Ganze, den übergreifenden Zusammenhang der uns umgebenden Wirtschaftsordnung (wieder) in den Blick bekommt. Interessant ist seine Proklamation des Subversiven, wodurch die Wissenschaft ihrer aufklärerischen Rolle neu gerecht wird – sie muss das Verdrängte, Verleugnete, nicht flächendeckend in den Blick zu bekommende mit ihren Mitteln erzählbar machen.

Überzeugend stellt Lessenich sowohl die Endlichkeit kapitalistischen Wirtschaftens aufgrund drohender Klimakatastrophen und (teilweise damit verknüpfter) Migrationsbewegungen als auch das Paradoxe der Externalisierung dar: Letzteres zeigt sich zum einen ökologisch, da die Auslagerung negativer Umweltgefährdungen innerhalb der Produktion in die Entwicklungsländer zwar temporär aus dem Blick der konsumierenden Staaten gerät, immer aber das gemeinsame Klima des Planeten Erde bedroht. Es zeigt sich zweitens in Fragen der Mobilität, die gesamtgesellschaftlich einerseits enorm positiv evaluiert ist und das Wirtschaftsdenken weitreichend durchzieht (Arbeit, Güterproduktion und Tourismus), die andererseits aber von denjenigen, die mit den negativen Folgen dieses Wirtschaftens sozial oder umweltbezogen konfrontiert sind, aus Angst vor dem Angriff auf das Eigene nicht in Anspruch genommen werden darf und entsprechend negativ bewertet wird.

Mit dem bilanzierenden Blick auf das Veränderungspotenzial dieser ökonomischen Krisensituation wird Lessenich grundsätzlich: Weil die Praxis kapitalistischer Landnahme und Externalisierung eine enorme Wirkmächtigkeit besitzt und als „kollektiver Habitus“ und „strukturelle Gewalt“ das globale Wirtschaftssystem und Handeln seiner Akteure durchzieht, können die vermeintliche Lösungen nur ähnlich fundamental sein. Über den Modus der wissenschaftlich motivierten Bewusstseinsbildung und der persönlichen Anforderungen an einen ethischen Konsum hinaus müsse dem Autor zufolge die Systemfrage gestellt werden – als radikale Infragestellung der Externalisierungsgesellschaft und damit des Kapitalismus selbst. Mit einer solch starken Politisierung der Soziologie ist natürlich gleichermaßen die Frage aufgeworfen, in welchem Raum sich Lessenichs Text bewegt: Sein emotionaler Grundgestus und seine engagierte Rhetorik, die auch vor Zuspitzungen und Vereinfachungen nicht zurückschrecken, stehen der konventionellen Wissenschaftssprache diametral entgegen. Vielleicht tritt sein Text auch stellvertretend die allgemeine Frage nach den Möglichkeiten der Politisierung einer Soziologie, die aufgrund der Verwerfungen des Kapitalismus weniger beschreibend als eben Positionen und Stellung beziehend auftreten will. Das wäre durchaus etwas Neues.

Titelbild

Stephan Lessenich: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis.
Hanser Berlin, Berlin 2016.
224 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783446252950

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