Leonardo da Vinci – Eine Künstlerpersönlichkeit mit vielen Gesichtern
Volker Reinhardt wertet in seiner Biografie bisher unbekannte Quellen zu Leonardos Leben aus
Von Stefanie Leibetseder
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVolker Reinhardt ist ein ausgezeichneter Kenner der Renaissance und schreibt bereits seit längerem Biografien: in diesem Buch über Leonardo vereinigt sich nun beides auf das Beste. Als Historiker in der Quellenkritik geübt, wertet der Autor insbesondere die für Leonardos Biografie bisher vernachlässigten Notizbücher aus und präsentiert seine Funde in einem überaus flüssigen und eleganten Stil, wobei er sich den vielfältigen Werken des Künstlers als Maler und Naturforscher und Ingenieur jeweils nur kurz, dafür aber mit umso prägnanteren Worten zuwendet. Auch geht Reinhardt bereits am Anfang sowie nochmals am Ende kritisch auf die Legendenbildung um den Künstler ein. Namentlich die durch Sigmund Freuds berühmt gewordene Deutung einer Kindheitserinnerung des Leonardo, wonach dieser behauptete, von einem Adler gesäugt worden zu sein, macht er als einen Versuch des Künstlers deutlich, sich den antiken Göttern gleichzustellen.
Gerade die gründliche Auswertung der Quellen verrät allerdings, wie wenig wir insgesamt über bestimmte Lebensabschnitte Leonardos unterrichtet sind. Diese sind schnell erzählt: von der Geburt in Vinci bei Florenz über die Tätigkeit in Verocchios Werkstatt, die nächste Station als Hofkünstler in Mailand sowie die anschließende Beschäftigung als Kriegsingenieur von Cesare Borgia und Leonardos letzte legendenumwitterte Lebensjahre am Hof des französischen Königs bei Amboise. Der Mensch, der uns auf diesen Seiten entgegentritt, steht in vielerlei Weise spannungsvoll beziehungsweise konträr zu seiner Zeit. Als unehelicher Sohn eines Notars geboren, wurde Leonardo die humanistische (Universitäts-) Bildung seiner Zeit nicht zuteil und er hegte wohl lebenslang eine tiefe Abneigung gegen diese Schichten. Aus der daraus resultierenden gesellschaftlichen Außenseiterposition erwuchs ein tiefer Skeptizismus gegen jedwede Form etablierter und instutionalisierter Wahrheit, insbesondere religiöse Überzeugungen. Leonardo sah demnach in der von ihm mit gnadenloser Gründlichkeit im Selbststudium erforschten Natur vor allem die ewige Wiederkehr von Zeugung, Geburt und Zerstörung. Diese Auffassung von der belebten Natur fand ihren Ausdruck auch in Leonardos Vegetarismus und gelegentlichen grausamen Scherzen, wie dem Zerplatzenlassen von Tiergedärm. Sicher war die Verwendung seiner berühmten Spiegelschrift in seinen Aufzeichnungen in diesem Zusammenhang ein Schutz Leonardos gegen eine reale Gefährdung als religiöser Abweichler.
Sein Forschergeist als Naturforscher umfasste auch die Malerei, bei der er entgegen althergebrachter Rezepturen mit verschiedenen Farben und Techniken experimentierte, leider zum Schaden einiger seiner bedeutendsten Werke. Diese Charakterzüge Leonardos sind schon Zeitgenossen wie dem ihm nicht eben wohlgesonnenen Künstlerbiografen Vasari aufgefallen und auch von zeitgenössischen Leonardo- Forschern wie Daniel Arasse benannt worden, aber Reinhardt gelingt es in seinen Werkinterpretationen, sie auch schlüssig im Œuvre zu verorten.
Glaubhaft werden diese, wenn man sich Leonardos Gemälde und Zeichnungen (hier in sehr guten Abbildungen wiedergegeben) mit Reinhardts Augen anschaut: das Christuskind auf dem Gemälde der Anna Selbdritt verdreht beispielsweise dem Lamm Gottes den Kopf nicht wie im Spiel, sondern wie zur Schlachtung, und auch die urtümlichen Gebirgs- und Weltlandschaften in vielen Hintergründen seiner Werke können als Ausdruck eines tiefen Agnostizismus gelesen werden. In diesem Zusammenhang wartet Reinhardt mit der Erkenntnis auf, dass Leonardos berühmtes Turiner Selbstporträt nicht von ihm selbst stammt. Auch Leonardos Ingenieurszeichnungen sind in Reinhardts Interpretation nicht Ausdruck seines Glaubens an die Beherrschung der Welt durch die menschliche Vernunft, sondern im Gegenteil von dessen Überwältigung durch von ihm selbst geschaffene Dinge, also einer manichäischen Weltsicht geschuldet.
Andere liebgewordene Topoi, namentlich die Saumseligkeit des Künstlers in der Fertigstellung seiner Werke beziehungsweise deren Nichtvollendung, sind uns auch von anderen Künstlern der Frühen Neuzeit bekannt. Hier bringt Reinhard vor allem Leonardos Konkurrenten Michelangelo Buonarotti als Vergleichsfolie – auch er bekanntermaßen ein Meister des „Infinito“ und im häufigen Konflikt mit Auftraggebern –, aber auch Kontrastfolie ins Bild: während Leonardo Geld und seinen äußeren Lebensumständen offenbar keinen besonderen Wert beimaß, war Michelangelo dagegen wohlhabend.
Reinhardt hat den bekannten Zügen von Leonardos Gesicht neue Konturen verliehen und er beschert uns mit seiner Darstellung ein großes Lesevergnügen.
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