Auf getrenntesten Wegen

„Faust“-Forschung und Editionsspraxis im 21. Jahrhundert

Von Alexandra RichterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Richter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als der konservative, katholische Schriftsteller Barbey d’Aurevilly im Jahre 1873 die neue Edition von Johann Wolfgang Goethes Sämtlichen Werken besprechen sollte, konnte er sich einen Vergleich mit den jüngsten historischen Ereignissen nicht verkneifen und bemerkte, dass von den zahlreichen auf Paris niedergegangenen deutschen Bomben die schlimmsten diese Werke seien. Nicht unähnlich ist der Eindruck, den der neueste Band der kommentierten Editionsgeschichte mit den Dokumenten zu Fastnachtsspiel und Faust macht. 836 Seiten und mehrere Kilo Papier kommen da auf einen zu, von denen man sich im Zeitalter der Digitalisierung und Dematerialisierung erst einmal unzeitgemäß bombardiert fühlt.

Wissenschaftliche Editionen auf Papier sind anachronistisch und man fragt sich, aus welchen Gründen Verlage und Verleger Forscher weiterhin wie digital Zurückgebliebene behandeln und woher eigentlich der Widerstand rührt, solche Projekte einfach exklusiv digital zu edieren. In diesem Bereich hat sich Gutenbergs Galaxie tatsächlich um Lichtjahre überlebt und man kann angesichts dieser teuren Papier-Dinosaurier aus einer entlegenen Vorzeit nur verwundert den Kopf schütteln. Dass es auch anders geht, zeigt die hybride Faust-Edition des Freien Deutschen Hochstifts unter Leitung von Anne Bohnenkamp.

Katharina Mommsens Arbeit kommt unzeitgemäß daher. Das ist jedoch nicht der Verfasserin anzulasten, da das Projekt tatsächlich aus einer andern Zeit stammt. Die Zusammenstellung sämtlicher bekannter Quellen und Daten zur jeweiligen Entstehungsgeschichte eines Textes und aller seiner Fassungen wurde 1950 von Momme Mommsen und ihr in Berlin (Ost) gestartet und durch den Bau der Berliner Mauer gestoppt, sodass erst nach dem Mauerfall die Arbeit in den Weimarer Archiven wieder aufgenommen werden konnte. Das anfänglich einfach scheinende Unternehmen – große Vorarbeit war von Momme Mommsen, der 2001 starb, geleistet worden und die Notizen und Materialien sollten eigentlich nur noch in elektronische Druckvorlagen konvertiert werden – erwies sich als langwieriger als geplant, als ein Kasten mit Artikeln zu Faust durch ein unerklärliches Missgeschick verschwand. Daher macht die Verspätung, mit der uns diese Synopse aus dem vor-digitalen Zeitalter erreicht, deren Fertigstellung umso bewundernswerter und fast etwas wundersam.

Unzeitgemäß ist ein solches Unterfangen auch, insofern es nicht dem schnelllebigen Diktat der Zeit gehorcht. Die 11 Seiten zum Fastnachtsspiel nicht weniger als die 825 Seiten zu den verschiedenen Versionen des Faust, der Goethe sein ganzes Leben lang begleitete, wirken wohltuend zeitenthoben und zeitfern. Nebst Selbstaussagen des Autors (in größerer Schrift) finden sich Bemerkungen aus Tagebüchern und Korrespondenzen von Zeitgenossen, aus Rezensionen, Ausstellungen, Reiseberichten und Publikationen aller Art (kleinerer Schriftsatz), in denen ein Aspekt des Werks angesprochen und verhandelt wird. Das kann sich auf das Schreiben selbst beziehen, die Stellung der Szenen innerhalb der Stücks, Inspirationsquellen und Lektüren (Über die Gestalt und die Urgeschichte der Erde,1829) oder editorische Belange ebenso wie auf mögliche biografische Bezüge der Figuren (Gretchen), Eindrücke von Faust als Puppen- oder Schattenspiel, seine Darstellung auf Kupferstichen oder Gemälden, Äußerungen oder Gerüchte Dritter oder auf Zeugnisse über die Wirkung des Werks.

So ein Tagebucheintrag von Eugène Delacroix oder eine Nachricht 1828 von Thomas Carlyle an Johann Peter Eckermann („Faust I have yet found time only to read once“) und die Antwort Eckermanns 1830 („Es steht mir zwar nicht zu Ihnen zu rathen, wäre ich jedoch an Ihrer Stelle, so würde ich sicher für meine Nation etwas dankbares unternehmen, wenn ich die schönsten Mussestunden einiger Jahre auf eine treue Übersetzung des Faust verwendete“), Auszüge aus Georg Wilhelm Friedrich Hegels Vorlesungen zur Ästhetik 1823, August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1803/1804) oder Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Vorlesungen über Philosophie der Kunst (1802/1803) in Jena oder ein anonymer Artikel Über die Helena von Göthe (1830) („Es ist wohl fast überflüssig zu bemerken, daß alle diese Handlungen allegorisch zu deuten sind“). Diese Fülle von chronologisch nebeneinander gestellten Exzerpten eröffnet einen magischen Resonanzraum, eine Art Salon „jenseits des Grabes“: ein Geistergespräch, aus dem sich ein Hörspiel verfassen ließe so ähnlich wie das Radiostück von Walter Benjamin Was die Deutschen lasen während ihre Klassiker schrieben. Hier werden Stimmen laut, die um das Entstehen des Faust kreisen und diesen als zentrales kulturelles Ereignis erfahrbar machen. Darunter viele Frauen wie Charlotte Schiller, aber auch die Malerin Angelika Kauffmann oder Dorothea Veit, die am 13. November 1799 an Rahel Levin schreibt:

Goethe habe ich gesehen! […] Ewig schade ist es, dass er so korpulent wird; das verdirbt einem ein wenig die Imagination! Wie er so neben mir her ging und freundlich redete, da verglich ich seine Person mit allen seinen Werken die mir von ihm in der Eil einfielen, und da habe ich gefunden, dass er dem ‚Meister‘ und dem ‚Hermann‘ am meisten ähnlich sieht. Am allerwenigsten konnte ich aber den ‚Faust‘ in ihm finden.

Der eingangs zitierte d’Aurevilly stand trotz seiner konservativen politischen Ansichten den Möglichkeiten der Technik nicht feindselig gegenüber. In seinem Zukunftsroman L’Eve future malte er sich aus, wie es wäre, wenn wir schon bei der Erschaffung der Welt Tonaufnahmen von den Gottesworten oder den Trompeten von Jericho hätten machen können. Eine solche rückwärts gewandte Utopie realisiert das Projekt von Katharina Mommsen. Wir halten mit diesem Band weniger ein schwer wiegendes Resultat in Händen, als ein gewichtiges Instrument, dessen Materialien erst noch auszuwerten sind und von dem viel neues Wissen zu erhoffen ist. Gerade deshalb würde man sich aber wünschen, eine solche Fundgrube online konsultieren und die Möglichkeiten der digitalen Edition (wie die inzwischen unabdingbar gewordene Suchfunktion) nutzen zu können.

Ebenfalls Unbehagen, wenngleich aus anderen Gründen, löst die achte Auflage von Albrecht Schönes Faust-Kommentar aus, die als Heranführung an den aktuellen Forschungsstand gepriesen wird. Sie biete „zum ersten Mal einen von Entstellungen befreiten und authentischen Text“ sowie einen „großen neuen Kommentar“. Wir sollen uns auf eine Fülle von Funden, Ergänzungen, Erweiterungen und Aktualisierungen freuen. Ein Vergleich mit der gebundenen Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag von 1994 fällt allerdings ernüchternd aus: Im Textteil wurde der Titel „Leseanweisungen“ um „Goethesche Leseanweisungen“ ergänzt. Auf Seite 821 findet sich eine zusätzliche Leseanweisung, die das folgende Layout etwas verschiebt, sowie ein daran anschließendes Register zum Kommentar-Band, das es in der DKV-Ausgabe noch nicht gab. Ansonsten sind die beiden Editionen seitengleich. Auch der Kommentarteil wurde nur geringfügig ergänzt (zum Beispiel um einen Hinweis auf die Hybrid-Edition).

Für die Forschung ist einer solchen Edition nichts Neues abzugewinnen. Was aber nicht die herausragende Qualität des Kommentars infrage stellt. Nur sollte der Verlag diesen nicht als „neu“ anpreisen und damit ein falsches Bild der Faust-Forschung vermitteln. Auch die Vorstellung, dass sich Forschung popularisieren lässt, ist irrig, dient diese doch nicht einer Vereinfachung, sondern einer Differenzierung des Verständnisses. Der Kommentar bietet kein schulpädagogisches Programm („dass ich nicht mehr mit saurem Schweiß / zu sagen brauche, was ich nicht weiß“), sondern wird seiner höchsten Aufgabe gerecht: Er vereinigt Notizen und gesammelte Beispiele, auf die jeder gerne zurückgreift, der sich in den Text vertiefen möchte. Schönes Arbeit ist weiterhin unverzichtbar und im praktischen Taschenbuchformat nur umso handlicher.

Im post-philologischen Zeitalter wäre es an der Zeit, dass Verlage sich die technischen Möglichkeiten zunutze machen und nicht länger den Blick auf die aktuelle und äußerst lebendige Forschung durch altertümliche Aufmachungen und veraltete Vorstellungen davon verstellen.

Titelbild

Katharina Mommsen (Hg.): Die Entstehung von Goethes Werken in Dokumenten. Band 5. Fastnachtsspiel-Faust.
Bearbeitet von Uwe Hentschel.
De Gruyter, Berlin 2018.
836 Seiten, 249,00 EUR.
ISBN-13: 9783110562859

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Titelbild

Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Zwei Teilbände. Texte und Kommentare. 8. Auflage.
Hg. von Albrecht Schöne.
Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
2 Bände, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783618680529

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