Verstörende Exposition

Mit „Überleben“ quantifiziert Frederika Amalia Finkelstein den Terror und legt ihn unters Mikroskop

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass ein Buch nur wenige Monate nach seiner Publikation in der Originalsprache in die Reihe „Fremdsprachentexte“ bei Reclam aufgenommen wird und einige Wochen später ebenso in der deutschen Übersetzung vorliegt, ist sehr ungewöhnlich; vor allem dann, wenn seine Autorin, gerade einmal 27 Jahre alt, in Deutschland kaum bekannt ist. Dabei hat Frederika Amalia Finkelstein mit Überleben bereits ihren zweiten Roman veröffentlicht. Der erste, L’oubli (2014), kreist um die Frage, ob der Holocaust vergessen werden könne. Seine Protagonistin Alma ruft trotzig aus, dass man sie endlich mit der „infamen Shoah“ in Ruhe lassen solle, wird dabei aber immer wieder vom Schrecken der Extermination heimgesucht.

Während L’oubli die Nachwirkungen der Vergangenheit thematisiert, fokussiert Überleben die Gegenwart und dabei insbesondere den Anschlag auf den traditionsreichen Pariser Musikclub Bataclan am 13. November 2015. Seit diesem Tag sitzt der Protagonistin, die nun Ava heißt, die Angst im Nacken. Zwar ist eine autobiografische Folie für Ava naheliegend, mehr jedoch erweist sie sich als Chiffre für die Generation Y – eine Generation, die im Kokon ihrer Sicherheit aufwuchs, mit den Terrorattacken aus ihrer Komfortzone herausgeschleudert wurde und danach einen Dauerzustand profunder Destabilisierung zu durchleben scheint. Nach dem 13. November ist für Ava nichts mehr wie zuvor. Überall begegnen ihr Soldaten mit Maschinengewehren im Anschlag, die Nähe zu anderen Menschen, insbesondere im engen Raum der Metro, wird ihr unerträglich. Die Gewalt bringe sie um, so sagt sie, doch man habe gleichzeitig nicht nur die Pflicht, weiterzuleben, sondern auch „gut zu leben“. Man müsse über die Toten „hinweggehen“. Falls einem das nicht gelinge, dann geschehe das Umgekehrte, die Toten gingen „über uns hinweg“. Vor dem Hintergrund dieses Statements führt der Roman die besondere Art und Weise vor, wie Ava weiterlebt: Zunächst sucht sie wie besessen nach einem Foto, das in den sozialen Netzwerken kursierte, aber nicht mehr weiterverbreitet werden durfte. Als sie dieses in seiner unverpixelten und unzensierten Form findet, zögert sie nicht, es auszudrucken und über ihren Schreibtisch zu hängen. Außerdem begibt sie sich mehrmals zum Ort des Grauens, dem Bataclan, um die dortige Atmosphäre zu spüren. Wenn Ava joggt, sagt sie sich Listen von Toten auf, denn sie hat „Wikipedia-Listen von Massakern und tödlichen Anschlägen auswendig“ gelernt; dies sei ja nicht schwieriger, als Gedichte auswendig zu lernen. Manchmal spielt sie mit dem Gedanken, in die Armee zu gehen, dann wiederum taucht sie in Videospiele ein. In der Vergangenheit probierte sie diverse Jobs aus, arbeitete längere Zeit im Apple Store an den Champs Elysées, bis ihr gekündigt wurde, weil sie, so vermittelt ihr der Filialleiter, nicht zur Unternehmensphilosophie passe.

Die ersten beiden Teile des Romans präsentieren Ava, wie sie in Paris die Spuren des Terrors verfolgt, in einer masochistischen Exposition, die den Schock, der Ava ergriffen hat, in einem manchmal Übelkeit erregenden Detailfanatismus wieder aufleben lässt. Dabei triggert das Massaker von Bataclan die Erinnerung an eine ganze Phalanx weiterer Terrorattacken und an Szenen aus unterschiedlichen kriegerischen Auseinandersetzungen. Ava zieht den – auch in den Medien vorgenommenen – Vergleich von Bataclan zu Oradour-sur-Glane, dem SS-Attentat, dem fast ein ganzes Dorf zum Opfer fiel. Von dort aus springt sie zu dem Spiel GTA (Grand Theft Auto) und versucht die Untiefen zwischen Realität und Virtualität auszuloten, indem sie unter anderem das aufsehenerregende Selbstmordvideo eines zwölfjährigen Mädchens (Katelyn Nicole Davis) erwähnt. Der letzte Teil des Romans hebt sich insofern von den ersten beiden ab, als nun die Trauerfeier ihrer argentinischen Großmutter in den Mittelpunkt rückt. Ava, die als Kind selbst in Argentinien gelebt hat, entschließt sich spontan, so wie ihre bereits abgereiste Familie, nach Argentinien zu fliegen. Dort reflektiert sie den Terror der Militärdiktatur, bevor sie sich erneut dem Leben stellt und sagt, dass sie nun allmählich aufwache.

Ava, eventuell Alter Ego einer Autorin, die erstaunlich wenig von sich selbst preisgibt, erweckt den Anschein eines überreizten weiblichen Flaneurs, in Paris herumstreifend, sich in einem Terror-Tourismus, einer besonderen Spielart von Dark Tourism ergehend. Dabei ist sie Oskar Schell aus Jonathan Safran Foers Extrem laut und unglaublich nah nicht unähnlich. Im Gegensatz zu ihr ist der neunjährige Junge, der mit seinem Tamburin nach 9/11 New York durchquert, unmittelbar betroffen. Sein Vater wurde getötet, seine Kindheit vom Terror unwiderruflich destruiert. Ava ist nicht als Privatperson involviert. Sie erhebt sich selbst, unbemerkt von ihrem Umfeld, zu einer öffentlich agierenden Person, erlebt aber, kontrastierend dazu, einen rein intrapersonalen, narzisstischen Schockzustand. Dabei ist ihr unbedingt zugute zu halten, dass sie nicht wegsieht, dass sie unverdrossen eine Vielzahl von Massakern Revue passieren lässt und ebenso unethische Verhaltensmuster aus der Vergangenheit stigmatisiert (Hugo Boss, der Uniformlieferant der SS; das prunkvolle Gebäude der Vereinten Nationen, mit dem nicht zuletzt übertüncht werden soll, dass an derselben Stelle Tiere im Akkord geschlachtet wurden). Genauso essenziell ist es, dass Finkelsteins Protagonistin im Kontext des zeitgenössischen Terrors keine Schuldzuweisungen vornimmt. Für sie sind die Selbstmordattentäter, die sich von islamistischen Verheißungen in Versuchung führen lassen, genauso Opfer wie die Kinder von Aleppo und wie all jene, die im Bataclan ihr Leben lassen mussten.

Ein großes Fragezeichen baut sich indessen auf, wenn man sich vor Augen führt, wie intensiv die Traumatisierung Avas Leben bestimmt, in welchem Maße sie von den Gedanken an den Terror beherrscht wird, obwohl sie eben nicht persönlich betroffen ist. Anstatt sich jedoch, und hier liegt der Schlüssel für die spezielle Form von Avas Konfrontation mit dem Bösen, auf emotionaler Ebene damit auseinanderzusetzen, anstatt sich dabei mit anderen auszutauschen und Trauer interpersonal zuzulassen, setzt sie sich immer wieder den medial vermittelten Spuren der Grausamkeiten aus. Dabei tastet sie sich in ein besonderes Laboratorium der Befindlichkeiten hinein, in einen Raum der Traumatisierung vielleicht, in dem in letzter Konsequenz allem Affektiven der Garaus gemacht wird, denn in diesem intrapsychischen, solipsistischen Raum gewinnen die Gesten des Intellektualisierens, des Kalkulierens und Quantifizierens, die Oberhand und halten die Protagonistin auf Distanz zum Strudel der Unsagbarkeiten. Sie wird nicht hineingerissen, denn sie lässt sich weniger auf die Inhalte ein als vielmehr auf die Aktivitäten rundum, weniger auf die unmenschliche Qualität des aufgespürten Materials als auf seine Quantität. Wenn sie „alle Gesichter der Toten des 13. November“ ausdruckt und an die Wand pinnt oder wenn sie während des Joggens die Bezeichnungen für Attentate und Schlachten memoriert, so ist das als eine Form des Widerstands gegen Emotionen, als eine Geste der Abwehr gegen die Auseinandersetzung mit dem Trauma zu deuten. Ava errichtet innere Barrikaden. Das Zählen und Sammeln absorbiert jede Emotion, setzt eher pragmatisch-rationale Energien frei, die dem Aufstöbern neuer Gräueltaten dienen können. Schwer erträglich ist es, wenn sie sich unter anderem der mikroskopisch genauen Beobachtung von Körpern beim Verbrennen ausliefert, womit sie sich – alternierend – ihre Gefühle entweder gänzlich vom Leib hält oder sie in Panik explodieren lässt. Beides hemmt das affektive Erleben und Durcharbeiten. Trauer, selbst um ihre Großmutter, lässt Ava nicht zu. Erst im Verlauf der Reise an die Orte ihrer Kindheit gewinnen ihre Schilderungen an emotionaler Intensität, obwohl sich gerade in Argentinien „das Böse in mathematischer Form“ manifestiere.

Ein salutogenetischer und/oder therapeutischer Lichtblick bietet allein das Ästhetische: zum einen als Ästhetik des Grauens, des Hässlichen, nachzuempfinden beim Anblick der Wortkaskade, die sich auf dem Cover der deutschen Ausgabe befindet. Zum anderen tritt am Ende des Romans eine Ästhetik der Hoffnung ans Licht, erwacht die Protagonistin doch aus einem affektarmen Zwischenreich, aus ihrer Schockstarre sogar, und wendet sich explizit hin zu der Kreation einer Welt, „die denkt, die gibt, die pulsiert“. „Die Kraft eines Wortes“ mache „zehn Jahrhunderten der Folter ein Ende, die Kraft eines Wortes“ mache „einer Nacht der Lähmung ein Ende“. Dabei gelte es jedoch, immer wieder von vorne anzufangen. So weist das Ende auf den Anfang zurück, erlaubt die Retrospektive auf die Genese eines Buches, dessen Protagonistin eine besondere Methode der Auseinandersetzung mit dem Terror schildert. Diese Methode internalisiert und überwindet sie gleichermaßen, bevor sie in einen Kommunikationsprozess eintritt, der heilsam zu werden verspricht.

Überleben ist ein anstrengendes, zähes und widerständiges Buch. Es wurde angemessen ins Deutsche übersetzt, obwohl sich auf der Ebene der Lexik Fragen ergeben (zum Beispiel „marcher dessus“ (sehr konkret und heftig) – „hinweggehen über“ (sehr schwach); „laisse tomber“ – „lass stecken“ (umgangs- beziehungsweise jugendsprachlich); „torpeur“ – „Lähmung“ (eher „Apathie“ oder „Erstarrung“)). Frederika A. Finkelstein hat mit Überleben einen Roman verfasst, der einerseits hochgradig politisch ist, insofern als er aktuelle Ereignisse reflektiert, andererseits aber apolitisch bleibt, insofern als er sich im Abseits gruppenideologischer Positionierung bewegt. Wenn auch der gnadenlose Detailrealismus an manchen Punkten abstoßend wirken mag, so ist es diese Form der Auseinandersetzung dennoch wert, ernsthaft rezipiert zu werden. In ihm sind viele bedeutsame Kleinigkeiten, unter anderem eine Reihe gewinnbringender Intertexte, zu entdecken, die zu weiteren Deutungen einladen.

Titelbild

Frederika Amalia Finkelstein: Überleben. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Sabine Erbrich.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
146 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518468951

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