Von fliegenden Fetzen und Tomaten

Annett Gröschner zeichnet 50 Jahre Berliner Frauenbewegung konzis und doch detailreich nach

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Vom ersten Tag an begann die Frauenbewegung historisch zu werden“, konstatiert Annett Gröschner. Doch wer denkt schon daran, „das Material zu sammeln und zu verwahren, wenn es eigentlich noch um die handfesten Kämpfe der Gegenwart geht?“ So ist es wohl. Eben darum war 1980 die Gründung des Frauenforschungs-, Bildungs- und Informationszentrums (FFBIZ) so wichtig, zu dessen Sammelgebieten graue Materialien der Bewegung zählen. Nicht zuletzt in seinen Schätzen recherchierte Gröschner für ihr unter dem Titel Berolinas zornige Töchter erschienenes Buch über die bis dato 50-jährige Geschichte der Berliner Frauenbewegung.

Bekanntlich wurde sie am 13. September 1968 mit einer Rede und einem Tomatenwurf aus der Taufe gehoben, zu einer Zeit also, in der sich als revolutionär verstehende linke Männer wie Reiner Geulen noch meinten: „Über die Emanzipation der Frau zu reden, das können wir bürgerlichen Soziologen überlassen“. Gerade einmal zwei Jahre waren vergangen, seit es im Bericht der Bundesregierung über die Situation der Frau in Beruf, Familie und Gesellschaft hieß, „die Frau“ solle „Pflegerin und Trösterin […] sein; Sinnbild bescheidener Harmonie, Ordnungsfaktor in der einzig verlässlichen Welt des Privaten; Erwerbstätigkeit und gesellschaftliches Engagement sollte die Frau nur eingehen, wenn es die familiären Anforderungen zulassen“.

Die berühmte Rede auf der 23. Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) wurde von Helke Sander gehalten und die vielleicht noch berühmteren Tomaten von Sigrid Rüger geworfen. Wie Gröschner mit vielen anderen meint, war dies der „symbolische Beginn der Frauenbewegung“ in Deutschland. In Alice Schwarzers 1971 initiierter Stern-Aktion Wir haben abgetrieben sieht sie hingegen (anders als Schwarzer selbst) nicht den Beginn der Neuen Frauenbewegung, sondern nur denjenigen der „publizistischen Karriere“ der „Feministin der Nation“.

Bevor ein Kind respektive eine Bewegung aus der Taufe gehoben werden kann, bedarf es bekanntlich eines gewissen Vorlaufs, der auch im Falle der (West-) Berliner – wie überhaupt der deutschen – Frauenbewegung gut neun Monate dauerte. Im Dezember 1967 berieten Helke Sander und Marianne Herzog in einer Berliner WG-Küche über einen möglichen Zusammenschluss linker Frauen. Mitte Januar 1968 gründeten sie gemeinsam mit gleichgesinnten Frauen den ersten Kinderladen und zwei Wochen später den Aktionsrat zur Vorbereitung der Befreiung der Frauen, der sich schon bald kürzer in Aktionsrat zur Befreiung der Frauen umbenannte.

Gröschners Buch zeichnet die seitherige Berliner Frauenbewegung(en) „mit all ihren Aufbrüchen, Erfolgen und Durchsetzungsstrategien, aber auch mit ihren  Verwirrungen und Misserfolgen“ nach, wie Frauen des FFBIZ im Vorwort des Bandes ankündigen. Dabei setzt die Autorin den Schwerpunkt ihres Berichts auf die Aktivitäten der Frauenbewegung(en). Weniger lässt sich hingegen über deren oft einander widerstreitenden Ideologien und Theorien erfahren. Nebenbei bietet die Autorin Informationen, die kaum vorstellbar scheinen: Frauen gehört gerade mal ein einziges Prozent des globalen Besitzes. Mit anderen Worten: Ein Mann besitzt durchschnittlich rund 100 Mal so viel wie eine Frau.

Bevor Gröschner die eigentliche Geschichte der Neuen Frauenbewegung in Berlin nachzeichnet, wirft sie zunächst einen Blick auf deren Vorgeschichte und geht dabei zurück bis zu Olympe de Gouges, die 1793 von den Herren der Französischen Revolution wegen ihrer frauenrechtlerischen Forderungen hingerichtet wurde.

Die Geschichte der Westberliner Frauenbewegung von 1968 bis zum Ende des darauffolgenden Jahrzehnts steht geradezu zwangsläufig im Zentrum des vorliegenden Bandes. Es waren die Jahre, in denen die zweite Welle der deutschen Frauenbewegung anschwoll, von Westberlin ausgehend, wo in dieser Zeit zahlreiche Frauenbuchläden und Frauenverlage, Frauenarchive und Frauenseminare, Frauenwerkstätten und Frauensportvereine, Frauenkneipen und nicht zuletzt Frauennotrufe gegründet wurden. Die feministische Gruppe Brot und Rosen gab 1972 in Westberlin das erste feministische Frauenhandbuch mit Informationen zu Abtreibung und Verhütung heraus, 1973 wurde dort das erste Frauenzentrum der BRD gegründet, 1975 die erste Frauenkneipe und 1976 erschien mit der Courage in Westberlin die erste größere feministische Zeitschrift mit bundesweitem Einzugsgebiet. Quasi zeitgleich mit der Courage wurde ebenfalls in Westberlin Die schwarze Botin ins Dasein gerufen, zu deren Wiener Redaktion die spätere Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek gehörte. Im gleichen Jahr wurde das Feministische Frauengesundheitszentrum gegründet und „gegen die Widerstände der Politik“ öffnete das erste Frauenhaus der BRD in Westberlin seine Toren. Nicht nur dort waren Männer nicht willkommen. Die Frauen hatten „gute Gründe für die Abgrenzung“, wie die Autorin zu Recht meint. Etliche der damals entstandenen „autonomen, basisdemokratischen Strukturen […] verdankt die Frauenbewegung den Lesben, einschließlich der Selbstorganisation der Bewegung“, konstatiert Gröschner. So war etwa die erste Berliner – und somit erste deutsche – Frauenkneipe namens „Blocksberg“ von Lesben gegründet worden.

Es war also viel in Bewegung in diesem Jahrzehnt, in dessen Verlauf die Frauenbewegung ideologisch und theoretisch nahezu zwangsläufig „in mehrere Strömungen auseinander driftete“. Für „sozialistische Feministinnen“ war der „Geschlechterkampf dem Klassenkampf untergeordnet“, die „Anhängerinnen einer Neuen Weiblichkeit“ glaubten, dass Frauen „friedfertiger“ als Männer seien, und „die sich selbst als radikale Feministinnen Bezeichnenden“ stritten „für die vollständige Gleichheit der Geschlechter“. Letztere waren und blieben die „bestimmende Gruppe“ unter den Westberliner Feministinnen.

Die 1980er Jahre gingen als „Jahre der Institutionalisierung der Frauenbewegung“ in die Annalen ein. Dazu trugen bundesweit die Grünen und in Westberlin die Alternative Liste das ihrige bei. Außerdem wurde von den autonomen Frauengruppen zunehmend die damals so genannte „Staatsknete“ in Anspruch genommen, ohne die manches Projekt, wie etwa die für viele Frauen überlebensnotwendigen Frauenhäuser, nicht länger zu finanzieren gewesen wäre. Doch war der Beginn des Dezenniums auch die Zeit des in Berlin besonders virulenten Häuserkampfs, in dem Frauen und ihre Bewegung eine nicht geringe Rolle spielten. Gröschner handelt die 1980er wesentlich kürzer ab als die vorausgegangenen Jahre seit 1968. Da mag zwar in der Sache gerechtfertigt sein, dennoch geht so der Detailreichtum ihrer Darstellung etwas verloren.

Der Abriss der Geschichte der Ostberliner Frauenbewegung bis zum Fall der Mauer umfasst keine 50 Seiten und damit nicht einmal die Hälfte des Westberlin gewidmeten Abschnitts. Auch das ist in der Sache begründet. Denn der „Feminismus ostdeutscher Prägung“ war „überschaubar“. Nur in den oppositionellen Kirchen regte er sich ein wenig. Zwar „flogen die Fetzen“ in den privaten Beziehungen junger Leute. Denn „die Erfahrungen“, die Frauen in Ostberlin mit „jugendbewegten Männern“ machten, „waren ähnlich wie im Westen“. Doch „Tomaten flogen nicht“.

Von einer (autonomen) Frauenbewegung kann in Ostberlin, wie auch überhaupt in der DDR, kaum die Rede sein, zumindest bis unmittelbar vor dem Niedergang des Staates nicht. Die „offizielle Frauenorganisation“, der Demokratische Frauenverband Deutschlands (DFD) trug eher zum „Machterhalt der SED“ bei, als „Vertrauensvertreter der Frauen“ zu sein. Mit Barbara Holland-Cunz sieht die Autorin den „Gründungsakt“ der Ostdeutschen Frauenbewegung in der Gründung des Unabhängigen Frauenverbandes. Sie fand am 3. Dezember 1989 statt. Da war die DDR bereits am Ende.

Nach der Wiedervereinigung wurde das frauenfreundlichere Abtreibungsrecht der DDR bekanntlich dem der alten Bundesrepublik im Rahmen eines ‚Kompromisses‘ angepasst. Darauf – wie überhaupt auf die allgemeine Schlechterstellung der Frauen – reagierten die Frauen in den Neuen Bundesländern Gröschner zufolge mit einem „Gebärstreik“, den die Autorin allerdings lieber „Gebärboykott“ nennen möchte. Warum sie diesen Begriff bevorzugt, wird allerdings nicht recht klar. Jedenfalls fiel die Geburtenrate drastisch.

„Die Geschichte der Frauenbewegung ist wie die jeder Bewegung eine von Widersprüchen und widerstreitenden Erinnerungen, von Ankünften und Abschieden, von unterschiedlichen Blickwinkeln und nicht frei von Eitelkeiten ihrer Protagonistinnen“, stellt Gröschner zweifellos zu Recht fest. Sie alle werden von der Chronistin für die lange Zeit zweigeteilte Stadt nachgezeichnet, ohne dass sich die Autorin dabei immer auf einen (vermeintlich) neutralen Standpunkt zurückziehen würde.

Gelegentlich unterläuft der Autorin die eine oder andere Unschärfe. Wenn sie etwa erklärt, „der einzig bürgerliche Frauenberuf“ sei im 19. Jahrhundert „der der Lehrerin bei gleichzeitigem Zölibat“ gewesen, so ist das ist nicht ganz richtig: Lehrerinnen wurden entlassen, sobald sie heirateten. Ob sie zölibatär lebten oder nicht hatte auch damals allenfalls bedingt etwas mit der Ehe zu tun. Auch dass Clara Zetkin „später in der DDR neben Rosa Luxemburg von großer Bedeutung“ sein sollte, ist unglücklich formuliert. Denn als die DDR gegründet wurde, waren beide schon einige Zeit tot. Gemeint ist natürlich, dass ihnen eine große Bedeutung zugeschrieben wurde. Reine Sachfehler unterlaufen Gröschner äußerst selten. So kam die Courage nicht wie behauptet „erstmalig“ 1977 auf den Markt. Die Nullnummer erschien bereits im Juni 1976 und die erste reguläre Ausgabe im September des gleichen Jahres. Indirekt korrigiert wird das Versehen von der Autorin aber bereits auf der nächsten Seite, auf der es heißt, dass Emma „ein paar Monate später, im Januar 1977“ erschien.

Ungeachtet solcher Versehen bringt die Autorin das Kunststück fertig, ihren Text randvoll mit Zitaten – nicht selten aus wenig bekannten Quellen – zu spicken und dennoch sehr lebendig zu schreiben, sodass sich Information und Lesefreude verbinden. Gerade die 1970er Jahre der Neuen Frauenbewegung in Westberlin werden unüberbietbar detailreich und doch konzis beschrieben. Auch Menschen, die sich in der Geschichte der Frauenbewegung einigermaßen auszukennen glauben, dürften hier viel Neues erfahren. Hinzu kommt ein umfangreicher Innenteil mit zahlreichen farbigen Plakaten aus 50 Jahren Berliner Frauenbewegung. Leider wurde versäumt, sie zu datieren. Nur gelegentlich geht aus den Plakaten selbst hervor, wann sie die Wände schmückten.

Neben der Dokumentensammlung von Ilse Lenz und Michiko Mae liegt mit Gröschners Band vielleicht das beste und wichtigste Buch zur Geschichte der in den 1980er Jahren abebbenden Neuen Frauenbewegung in Deutschland vor, ganz sicher aber das zu derjenigen in Westberlin. Die knappt 30 Jahre nach der Wiedervereinigung werden hingegen auf gerade einmal ebenso vielen Seiten abgehandelt, von denen sich die Hälfte der allseits nicht immer freundlich oder gar solidarisch ausgetragenen innerfeministischen Differenzen der „Gegenwart“ widmet. Manches wird, wohl auch aufgrund der Kürze, nicht ganz angemessen gewürdigt respektive kritisiert. So etwa die radikalfeministischen Störenfriedas oder die qeeraktivistischen Beißreflexe. Allerdings muss eingeräumt werden, dass zumindest erstere in Berlin weniger vertreten sind. Jedenfalls gilt nach wie vor: „Der Feminismus bleibt in Bewegung“, wenn auch von einer feministischen Bewegung derzeit nicht die Rede sein kann.

Titelbild

Annett Gröschner: Berolinas zornige Töchter. 50 Jahre Berliner Frauenbewegung.
FFBIZ - das feministische Archiv, Berlin 2018.
344 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783981956115

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch