Hybrider Wahnwitz

Philipp Weiss legt mit „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“ ein monumentales Romandebüt vor

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen hat Philipp Weiss ein monumentales Romandebüt geschaffen: Fünf Bände mit über 1.000 Seiten in einem Schuber laden den Leser zu einer perspektivreichen Entdeckungsreise in die Entstehung der Welt und des menschlichen Geistes ein.

Die von fünf verschiedenen fiktionalen Autoren geschriebenen Bände gehören ganz unterschiedlichen Genres an: (Fast) Klassische Erzählung, Tagebuch, Enzyklopädie, ein Wust aus Notizen, Reflexionen und Welterkundungen sowie ein von Raffaela Schöbitz gezeichneter Comic, der im japanischen Stil von hinten nach vorne und von rechts nach links gelesen werden muss. Die Bände sind durch die Beziehungen und Vorfahren der Protagonisten sowie intertextuelle Bezüge subtil verbunden und eine Lese-Reihenfolge ist nicht vorgesehen. In einem Interview mit der Welt führt Weiss dazu aus: „Man kann kreuz und quer lesen oder auch parallel. Und auch nur einen rauspicken. Wenn jeder Band für sich steht und seine eigene Welt und Perspektive entwickeln kann, kann jeder auch als Ausgangspunkt für die anderen dienen. Ich betrachte das Ganze eher als Netzwerk.“

Für einen klassischeren Lektüreeinstieg empfiehlt es sich jedoch, mit dem Band Terrain vague von Jona Jonas anzufangen. Der Fotograf Jona, der sonst auf den Spuren des Klimawandels um die Welt reist, befindet sich in Japan auf der Suche nach seiner vermissten Freundin Chantal. Er gerät hier in das Erdbeben, das den folgenschweren Tsunami und die Atomkatastrophe von Fukushima auslöst: „Erst dann bemerkte ich die Stille. Sie war umfassend und grauenhaft.“ Gehörlos und orientierungslos wankt Jona durch Tokio. In parallelen Streifzügen durch die Philosophiegeschichte und Zahlenkabbalistik ergreift ihn ein „metaphysisches Grausen“ angesichts einer umfassenden Unbehaustheit. Im futuristischen Tokio mit seinen Karaoke-Bars und Amüsierschuppen trifft er neben Erdbeben- und Strahlenopfern  auch auf die geheimnisvolle Aoki, die eine Beinprothese hat und deren düstere, von Phantomschmerzen gezeichnete Geschichte in dem Comic Die glückseligen Inseln niedergelegt ist.

Jonas Freundin Chantal Blanchard, eine Physikerin und Klimaforscherin, hat ihr Leben und ihren Erkenntnisstand in den Cahiers niedergeschrieben. Hier finden Fragmente aus  Anthropologie, Kosmologie, Quantenphysik sowie der eigenen radikalen Selbsterkundung zusammen. Chantal leidet an der Unwirklichkeit und Unbestimmtheit der Welt, die sich ihr immer weiter entzieht. Sie leidet an ihrem eigenen Bewusstsein und konstatiert: „Das Denken drängt immer seiner eigenen Auflösung entgegen.“

Chantals Vorfahrin ist Paulette Blanchard, die ihre Zeit und ihr Leben im 19. Jahrhundert  in der Enzyklopädie eines Ichs durchdekliniert. Sie flüchtet sich aus dem Korsett der Tradition 1870 in die Pariser Kommune, wird später eine berühmte Japanreisende und kommt schließlich auf einem Gletscher in den Alpen zu Tode. Chantal, die die Enzyklopädie in Japan entdeckt, ist davon jedoch alles andere als angetan: „Schon zwei Mal habe ich das Buch in eine Ecke geschleudert vor Scham über diese Einfalt. Sentimentaler, humanistischer Kitsch! Da schwadroniert sie von Freiheit, Liebe, von Revolution. Mir wird schlecht.“ Die Vorfahrin hat noch an etwas geglaubt, eine Utopie verfolgt, doch, so bemerkt Chantal: „Die Zerstörung, die krankhafte Dekonstruktion setzt schon ein, schleichend, unvermeidlich.“

Im fünften Band erleben wir schließlich die grausig-berührenden Erlebnisse des neunjährigen Akio, dessen Zuhause vom Tsunami fortgespült wird und der mit seiner stummen kleinen Schwester Keiko durch die Trümmerlandschaften zieht und Zuflucht im Atomkraftwerk sucht, wo er seinen Vater vermutet.

In Am Weltenrad sitzen Menschen und lachen geht es um nichts weniger als um die Welt als Ganzes, um die Welt in all ihrer Komplexität und schillernden Unbestimmtheit. Das Werk ist eine mutige und auch größenwahnsinnige Vermessung und Selbsterkundung dieser Welt und des sie reflektierenden menschlichen Geistes – und es ist dem Suhrkamp Verlag hoch anzurechnen, dass er ein solch außergewöhnliches Debüt verlegt hat.

Natürlich ist in diesem Debüt nicht alles gelungen. Weiss gerät mit seinen Metaphern und Tonlagen zuweilen etwas aus der Spur und muss sich in den Cahiers und der Enzyklopädie den Vorwurf eines fragmentarischen Sammelsuriums gefallen lassen. Aber dennoch fasziniert dieses hybride Werk und entfaltet eine inspirierende Kraft: Die Fragmente aus Wissenschaft, Literatur und Philosophie sowie die Erzählungen und Reflexionen der verschiedenen Protagonisten laden zum Staunen, zur Ehrfrucht, zum Denken und freien Assoziieren ein. Das Rätsel der Welt, das Rätsel der Entstehung des Menschen und seines Bewusstseins, wird hier immer wieder umkreist und eingekreist, ohne sich jemals einer eindeutigen Lösung anzunähern.

Der Mensch des 21. Jahrhunderts zeigt sich als ein gleichermaßen von außen – durch den Klimawandel, durch Atomkatastrophen – wie von innen – durch sein unersättliches und selbstzerstörerisches Bewusstsein – gefährdetes Wesen, das nicht nur jede metaphysische Heimat verloren hat, sondern auch den Glaube an Rationalismus und Fortschritt: „Die Erkenntnis ist heillos“ weiß Chantal Blanchette in Weissʼ Roman. So bleibt unbestimmt, wohin die Reise des Menschen gehen soll oder ob sie vielleicht bereits zu Ende ist.

Titelbild

Philipp Weiss: Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
1064 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428177

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