Max Weber und Edgar Jaffé
Zwei Wissenschaftler inmitten der Bayerischen Revolution von 1918/19
Von Dirk Kaesler
Vorbemerkung der Redaktion: Der folgende Beitrag basiert auf einem Vortrag, den Dirk Kaesler am 19. April 2018 im Center for Advanced Studies der LMU München im Rahmen der Vortragsreihe „Wissenschaft Macht Politik. Die Münchener Räterepublik“ gehalten hat. Wir danken dem Autor und den Veranstaltern für die Genehmigung zur Veröffentlichung.
Sie hätten nicht unterschiedlicher sein können, jene beiden Wissenschaftler, von denen ich hier berichten darf: Max Weber und Edgar Jaffé. Die fast gleich alten Männer – Max Weber wurde 1864 geboren, Edgar Jaffé 1866 – erlebten jene Geschehnisse, die wir heute die „Bayerische Revolution“ nennen, aus allernächster Nähe. Wie sie damit umgingen, soll das Thema meiner kommenden Ausführungen werden.
Alle hier im Raum wissen vermutlich, dass neben den vielfältigen beruflichen Verbindungen, die es zwischen diesen beiden Männern gegeben hat, eine nicht minder wichtige private Verbindung bestand. Beide liebten dieselbe Frau: Elisabeth Frieda Amélie Sophie Freiin von Richthofen, die sich selbst „Else“ schrieb. Für Max Weber war sie seit den Freiburger Tagen 1895 zuerst die beste Freundin seiner Frau, Marianne Weber. Dann wurde sie seine Heidelberger Studentin und Doktorandin. Spätestens seit Oktober 1917 wurde die von ihm jahrelang Umworbene seine Geliebte.
Für Edgar Jaffé war Else von Richthofen sein großer Schwarm seit gemeinsamen Studentenzeiten in Berlin und 1902 wurde sie seine Ehefrau, was sie auch bis zu seinem Tod blieb. Diese ohnehin schon komplizierte Situation wurde dadurch nicht leichter, dass Else Jaffé seit Ende 1909 die Geliebte von Alfred Weber war, dem jüngeren Bruder von Max Weber. Da diese Dimension der Beziehung zwischen Max Weber und Edgar Jaffé keinerlei Bedeutung für das von mir hier zu Berichtende hat, werde ich im Folgenden nicht weiter darauf eingehen.
In den mir eingeräumten Minuten werde ich mich hingegen darauf konzentrieren, auf wie unterschiedliche Weise diese beiden so verschiedenen Männer auf ein und dieselbe Herausforderung der sie umgebenden sozialen und politischen Situation reagierten.
Was war „diese Situation“? Auch hier nur die groben Rahmenangaben: In der Endphase des Ersten Weltkriegs führte die sogenannte „Novemberrevolution“ der Jahre 1918/19 zum Sturz der Monarchie im Deutschen Reich und zu dessen Umwandlung in eine parlamentarische Demokratie, die sogenannte „Weimarer Republik“. Ursachen für diese Revolution waren extreme Belastungen der deutschen Bevölkerung durch den mehr als vier Jahre anhaltenden Krieg, der Schock – oder die Freude – über die militärische Niederlage des deutschen Kaiserreichs, die undemokratischen Strukturen, die vielfältigen gesellschaftlichen und politischen Spannungen und die Politik der reformunwilligen politischen und militärischen Machteliten.
Im Königreich Bayern müssen zwei unterschiedliche Phasen der revolutionären Geschehnisse voneinander unterschieden werden: zum einen die Errichtung des „Freien Volksstaats Bayern“ am 8. November 1918, zum anderen die Gründung der „Bayerischen Räterepublik“ im April 1919.
Seit Oktober 1918 herrschte in der Königlichen Haupt- und Residenzstadt München eine zunehmend aufgewühlte Atmosphäre. Politische Veranstaltungen in Bierkellern und im Freien hatten regen Zulauf. Ab 3. November 1918 gab es mehrfache Großdemonstrationen, zunächst auf Initiative der USPD, an denen aber auch Funktionäre und Mitglieder der SPD teilnahmen.
Im Anschluss an eine dieser vielen Friedensdemonstrationen auf der Theresienwiese, am Nachmittag des 7. November 1918, marschierte der Großteil der Gemäßigten um den SPD-Führer Erhard Auer in die Münchner Innenstadt und zerstreute sich bald darauf. Ein kleiner Teil der Demonstranten um Kurt Eisner von der USPD – rund 1.000 der insgesamt etwa 40.000 Menschen – zog in den Münchner Norden, um die dortigen Kasernen zu stürmen. Dabei trafen die Revolutionäre kaum auf Widerstand. Die Mehrzahl der Soldaten schloss sich ihnen an, die Offiziere wurden gefangen gesetzt. Am Abend traf Eisner im Mathäserbräu ein, der damals größten Münchner Bierhalle, wo sich das Gros der revoltierenden Soldaten und Arbeiter versammelt hatte. Es konstituierte sich ein „Arbeiter- und Soldatenrat“, zu dessen Vorsitzenden Kurt Eisner gewählt wurde.
Noch am gleichen Abend legten der Vorsitzende des Ministerrats, Otto Ritter von Dandl und Innenminister Maximilian Friedrich Ritter von Brettreich König Ludwig III. nahe, aus München zu fliehen. Der König befolgte diesen Rat und begab sich zuerst nach Schloss Wildenwart im Chiemgau und am nächsten Tag außer Landes, in das nahe Salzburg gelegene Schloss Anif.
Der neu konstituierte Arbeiter- und Soldatenrat zog am späten Abend des 7. November in die Prannerstraße, in der sich das Gebäude des Bayerischen Landtags befand, und drang in den Sitzungssaal der Kammer der Abgeordneten vor. Eisner verkündete gegen 23 Uhr den Kriegsaustritt Bayerns, das Ende der Monarchie und rief den „Volksstaat Bayern“ aus. In der Morgenausgabe der „Münchner Neuesten Nachrichten“ vom 8. November 1918 war die Proklamation abgedruckt, in der über die Konstituierung eines vorläufigen Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrats im Landtag am Abend zuvor informiert und der „Freistaat Bayern“ ausgerufen wurde. Im Laufe des 8. Novembers wurde eine weitere Proklamation öffentlich angeschlagen, die verkündete: „Die Dynastie Wittelsbach ist abgesetzt. Hoch die Republik!“
Die Absetzung König Ludwigs III. und das Ende der Monarchie hatten aus Bayern einen „Freistaat“ im Sinne einer parlamentarischen Demokratie mit politischer und persönlicher Freiheit für alle Staatsbürger gemacht. Nach 738 Jahren war die wittelsbachische Herrschaft über Bayern beendet.
Ich werde mir die berühmte Anekdote nicht entgehen lassen. Der König selbst erfuhr von den revolutionären Zuständen in seinem Königreich und seiner Residenzstadt angeblich erst auf einem seiner täglichen Spaziergänge durch den Englischen Garten am 7. November 1918, als ihm ein Passant zugerufen haben soll: „Majestät, genga S’ hoam, Revolution is!“
In der Proklamation „An die Bevölkerung Münchens“ hatte es am Ende des Textes geheißen: „Arbeiter, Bürger Münchens! Vertraut dem Großen und Gewaltigen, das in diesen schicksalsschweren Tagen sich vorbereitet! Helft alle mit, daß sich die unvermeidliche Umwandlung rasch, leicht und friedlich vollzieht. In dieser Zeit des sinnlos wilden Mordens verabscheuen wir alles Blutvergießen. Jedes Menschenleben soll heilig sein! Bewahrt die Ruhe und wirkt mit am Aufbau der neuen Welt!“
Wie haben Max Weber und Edgar Jaffé auf diesen Aufruf reagiert? Zwei Wissenschaftler, zwei Nationalökonomen, zwei Männer Anfang der Fünfzig, beide verheiratet, dachten darüber nach, wie sie sich verhalten sollten. Wie sollten sie sich in dieser Situation, die keiner von beiden gewollt, geschweige denn herbeigeführt hatte, positionieren?
Max Weber: Der teilnehmende Beobachter
Zum Zeitpunkt des 8. November 1918 – der Ausrufung des „Freien Volksstaats Bayern“ durch Kurt Eisner – weilte Max Weber in Heidelberg. Der seit 1903 entpflichtete ehemalige Universitätsprofessor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaften der Universität Heidelberg und nun Honorarprofessor mit Lehrauftrag ohne Promotionsrecht hatte gerade erst im Frühjahr 1918 probeweise den Lehrstuhl für Nationalökonomie an der Universität Wien vertreten und war im Sommer wieder nach Heidelberg zurückgekehrt. Zu dieser Zeit schrieb er zahlreiche Beiträge für die „Frankfurter Zeitung“, arbeitete ohne Auftrag am Entwurf einer republikanisch-föderalistischen deutschen Verfassung. Er war auf Drängen von Alfred Weber, Erich Koch-Weser und Friedrich Naumann der neugegründeten „Deutschen Demokratischen Partei“ beigetreten und beteiligte sich aktiv an deren Wahlkampf. An aussichtsloser Listenstelle war er als Reichstagskandidat in Hessen-Nassau platziert worden und scheiterte. Trotz der Vorschläge, insbesondere von Konrad Haußmann, Max Weber zum Staatssekretär des Inneren, zum Botschafter in Wien oder zum Vorstandsmitglied der DDP zu machen, hatte Weber keine politische Aufgabe übernehmen können. Dass er trotzdem – in nichtamtlicher Funktion – an den Beratungen über die Grundzüge des Entwurfs der (späteren) Weimarer Verfassung teilnahm, verdankte er allein dem Netzwerk seiner politischen Freunde.
Da ich im Folgenden auch über die Ereignisse im Jahr 1919 reden werde, seien gleich Webers Stationen im nachfolgenden Jahr genannt: Seit Beginn auch dieses Jahres setzte Weber seine extensive Wahlkampftätigkeit für die DDP fort, ebenso wie seine unermüdliche journalistische Tätigkeit, insbesondere zum Thema der „Kriegsschuld“. Er arbeitete mit an der deutschen Antwortnote auf die Kriegsschulddenkschrift der Siegermächte und reiste – zusammen mit Graf Montgelas, Hans Delbrück und Albrecht Mendelssohn-Bartholdy – nach Versailles, um die deutsche Note, die sogenannte „Professorendenkschrift zur Kriegsschuld“, zu übergeben. Am 19. März 1919 war er von Heidelberg nach München gezogen, um den Lehrstuhl von Lujo Bretano für Gesellschaftswissenschaft, Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie an der Universität München zum Sommersemester zu übernehmen. Bedingt durch seine Teilnahme an den Friedensverhandlungen – die natürlich keine „Verhandlungen“ für das Deutsche Reich gewesen waren – begann Weber jedoch erst in der ersten Juniwoche 1919 mit seinen Münchner Lehrveranstaltungen.
Es erscheint mir als sinnvoll, mit jener famosen Rede zu beginnen, die Max Weber in München zu Beginn des Jahres 1919 gehalten hat: der Rede über „Politik als Beruf“. Sie gehört zweifellos zu den berühmtesten und wirkungsvollsten Werken, die Max Weber hinterlassen hat. Der heute vielfach zitierte Text ist die gedruckte Fassung des zweiten mündlichen Vortrags, den er in München vor dem Landesverband Bayern des linksliberalen „Freistudentischen Bundes“ in dessen Vortragsreihe „Geistige Arbeit als Beruf“ gehalten hatte. Am 7. November 1917 hatte er über „Wissenschaft als Beruf“ vorgetragen, am 28. Januar 1919 über „Politik als Beruf“. Der frei gehaltene Vortrag wurde stenographisch festgehalten, Weber erweiterte den ihm nach dem Vortrag übermittelten Text und redigierte dabei das Manuskript inhaltlich erheblich.
Ich verzichte auf eine detaillierte Wiedergabe und konzentriere mich stattdessen auf die zentralen Inhalte. Die Rede beginnt mit der definitorischen Festlegung dessen, was Weber unter „Politik“ verstanden wissen will, nämlich „die Leitung oder die Beeinflussung der Leitung eines politischen Verbandes, heute also: eines Staates.“ Diesen wiederum bestimmt er als „diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes […] das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht.“ Konsequent fasst Weber zusammen:
„Politik“ würde für uns also heißen: Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt. […] Wer Politik treibt, erstrebt Macht, – Macht entweder als Mittel im Dienst anderer Ziele – idealer oder egoistischer – oder Macht „um ihrer selbst willen“: um das Prestigegefühl, das sie gibt, zu genießen.
Nach diesen definitorischen Festlegungen erörtert Weber die Bedingungen und Voraussetzungen des „äußeren Berufs zur Politik“, insbesondere der von ihm herausgearbeiteten drei Typen „legitimer“ Herrschaft vor einem breiten historischen Hintergrund sowie der Geschichte der Entwicklung politischer Parteien und den damit verbundenen Typen politischer Machtausübung und von Politikern. Diese diskutiert Weber unter dem Gesichtspunkt der Herausbildung „politischen Führertums“, wobei er im Wesentlichen voneinander unterscheidet „Berufspolitiker“, die selbst die Machtausübung anstreben – vor allem die „charismatischen Herrscher“, von den antiken und mittelalterlichen „Demagogen“ bis zu den modernen „Parteiführern“ – und solche Politiker, die sich professionell in den Dienst derartiger Herrscher stellen. Die zentrale Unterscheidung für Weber ist diejenige zwischen „Gelegenheitspolitikern“ und „Berufspolitikern“, das heißt zwischen jenen, die „für die Politik“ leben, und denen, die „von der Politik“ leben, insbesondere in materieller Hinsicht.
Es folgen detailfreudige Ausführungen über verschiedene Typen der politischen Parteien in Großbritannien, Frankreich, Deutschland und den USA seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Während es insbesondere in England und den USA im Rahmen des parlamentarischen Systems zur Ausbildung von plebiszitärer Herrschaft durch die „Auslese“ von „Führerpersönlichkeiten“ gekommen sei, die die „Maschinen“ der modernen Parteien vor allem durch Rhetorik und die „Ausnutzung der Emotionalität der Massen“ beherrschten, habe man in Deutschland als Folge einer „kleinbürgerlichen Führerfeindschaft“ politische „Führer“ verabscheut. Die faktische Machtlosigkeit der deutschen Parlamente habe bewirkt, dass „kein Mensch, der Führerqualität hatte, dauernd hineinging“. Infolge der dominanten Bedeutung des geschulten Fachbeamtentums, das sich im Rahmen der „legalen Herrschaft“ in Deutschland durchgesetzt habe, spielten deutsche Berufspolitiker „eine ziemlich subalterne Honoratiorenrolle“, ohne Macht und Verantwortung. Durch den „gewaltigen Zusammenbruch“ der Revolution in Deutschland sei jedoch jetzt die Chance einer Neuorganisation gegeben, für die es eine einfache Wahl gebe: „Führerdemokratie mit ,Maschine‘ oder führerlose Demokratie, das heißt: die Herrschaft der ,Berufspolitiker‘ ohne Beruf, ohne die inneren charismatischen Qualitäten, die eben zum Führer machen.“ Die große Gefahr einer „führerlosen Demokratie“ sei es, dass „echtes Führertum“ keine Stätte in den deutschen Parlamenten finde, wobei Weber als „einziges Ventil“ für dieses „Bedürfnis nach Führertum“ die Stellung des Reichspräsidenten sieht, jedoch nur, wenn er plebiszitär und nicht parlamentarisch gewählt würde.
Anschließend befasst Weber sich mit den „persönlichen Vorbedingungen“, den „Qualitäten“ jener Menschen, die sich der Politik zuwenden wollen und sollen. Er meint damit jene, die durch ihre Teilnahme an der Macht nicht nur ein „Machtgefühl“ erlangen, sondern auch der dadurch erlangten Verantwortung gerecht werden sollen. Seine Frage lautet: „was für ein Mensch man sein muß, um seine Hand in die Speichen des Rades der Geschichte legen zu dürfen?“ Drei solcher Qualitäten der politisch Handelnden fordert und erläutert Weber: „Leidenschaft“, „Verantwortungsgefühl“ und „Augenmaß“; dabei betont er, dass es auf deren gleichzeitige Koexistenz ankomme, um die größte Untugend des Politikers, seine Eitelkeit, in Grenzen zu halten. „Unsachlichkeit“, „Verantwortungslosigkeit“ sowie das Anstreben von Macht allein um ihrer selbst willen sind es, weswegen Weber sich entschieden gegen den „bloßen Machtpolitiker“ wendet.
Von diesen mehr an die Handelnden in der Politik gerichteten Überlegungen ausgehend, wendet Weber sich abschließend dem prinzipiellen Verhältnis von Ethik und Politik zu. Themenschwerpunkt sind dabei die ethischen Grundlagen und die Machtbezogenheit des politischen Handelns allgemein. Er postuliert als Ausgangsüberlegung eine prinzipielle Grundverschiedenheit zweier Orientierungen des politischen Handelns: Es könne „gesinnungsethisch“ oder „verantwortungsethisch“ sein. Die Konstruktion eines angeblich „abgrundtiefen Gegensatzes“ richtet sich primär gegen die pazifistische und revolutionäre „Gesinnungspolitik“, wie sie zum Zeitpunkt der Rede in Teilen der deutschen Öffentlichkeit, insbesondere der Studentenschaft, weit verbreitet gewesen war, aber zugleich auch gegen die verschiedenen Varianten gesinnungsloser „Realpolitik“ und reiner Machtpolitik eines „politischen Realismus“. Diese Passagen der Rede zielten darauf ab, die Berufspolitik als verantwortungsethisches Handeln zu legitimieren, bei dem jedoch keineswegs jedes Mittel den Zweck „heilige“. Die Tatsache, dass diejenigen, die sich auf Politik einlassen und damit auf Macht und Gewaltsamkeit, mit „diabolischen Mächten“ also einen Pakt schließen, müsse notwendigerweise zu einer nicht von vornherein festlegbaren Synthese beider Ethiken führen. „Insofern sind Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen, die zusammen erst den echten Menschen ausmachen, den, der den ,Beruf zur Politik‘ haben kann.“
Diese dürre Zusammenfassung der Gliederung der Rede und ihres Kerninhalts vermittelt nicht die Wucht, die manche sprachliche Dramatik dieses Textes ausmacht. Erst sie bewirkte, dass einzelne Passagen bis zum heutigen Tag im „Stammbuch“ fast jedes deutschen Politikers stehen und in der medialen Berichterstattung über Politik geradezu gebetsmühlenartig wiederholt werden. Die Unterscheidung eines Lebens „für“ die Politik von dem eines Lebens „von“ der Politik, das Begriffspaar „gesinnungsethisch“ versus „verantwortungsethisch“ und das Bild von der Politik als einem „starken langsamen Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß“ sind Versatzstücke eines allgemeinen Trivialgeredes über Politik und Politiker geworden, ohne dass ein sonderlich informierter Bezug auf das Gesamtwerk Max Webers und dessen Kontextualität zu verzeichnen ist, manchmal sogar ohne jeden Bezug auf den ursprünglichen Autor. Die bis heute folgenschwerste Wirkung dieses Textes ist zweifellos, dass sie als ideologische Legitimation einer radikalen Abwertung der ursprünglich mit dem Namen Immanuel Kants verbundenen „Gesinnungsethik“ und einer ebenso radikalen Aufwertung der „Verantwortungsethik“, verkürzt auf eine „Erfolgsethik“, missbraucht wird. Daher mag es hilfreich sein, den sehr konkreten historischen Kontext zu skizzieren, auch um den historischen und symbolischen Wert dieses Texte zu erkennen. Dass dieser Kontext mit der Bayerischen Revolution unmittelbar zu tun hat, liegt auf der Hand bei einer Rede, die im Januar 1919 in München gehalten wurde!
Am 25. Januar 1919 erschien in der Morgenausgabe der „Münchner Neuesten Nachrichten“ folgender Hinweis: „Prof. Dr. Max Weber (Heidelberg) spricht Dienstag, 28. Jan., im Kunstsaal Steinicke, abends 7 ½ Uhr, über ,Politik als Beruf‘. Karten bei Steinicke, Adalbertstr. 15, […] und an der Abendkasse.“ Dieser Ankündigung war eine Reihe von Komplikationen vorausgegangen. Der „Freistudentische Bund. Landesverband Bayern“ hatte, wie bereits erwähnt, Max Weber bereits für den 7. November 1917 nach München zu einem Vortrag über „Wissenschaft als Beruf“ gewinnen können. Bei dieser Themenstellung fühlte er sich kompetent und engagiert, hier konnte er aus jahrelanger, eigener Erfahrung jungen Menschen Orientierungshilfe anbieten, auch wenn er in der gedruckten Fassung dieses Vortrags weit über dieses konkrete Ziel hinausging.
Als sich nun der gleiche Veranstalter durch seinen Vorsitzenden, den Studenten der Rechtswissenschaft Immanuel Birnbaum, erneut darum bemühte, Max Weber für das Thema „Politik als Beruf“ zu gewinnen, lehnte dieser anfangs ab. Birnbaum schildert den Gang der Dinge folgendermaßen:
Zu dem zweiten Vortrag über „Politik als Beruf“ wollte sich Max Weber zunächst durchaus nicht herbeilassen. Die Aufforderung dazu erging kurze Zeit nach der Novemberrevolution von 1918 an ihn. Er hatte damals gerade einige persönliche Erfahrungen gemacht, die ihn an seiner eigenen Berufung zum Politiker zweifeln ließen. Zusammen mit seinem Bruder Alfred gehörte Max Weber zu den Begründern der damals neu organisierten Demokratischen Partei, in deren Leitung er seine Ansichten in wichtigen Punkten aber nicht durchsetzen konnte. Er war auch in einen von Hugo Preuß zusammengestellten Ausschuß zur Vorbereitung einer republikanischen Verfassung berufen worden, drang aber auch dort nicht mit seinen Vorschlägen durch. […] Max Weber war schon Anfang 1919 von alledem enttäuscht. Er schrieb mir, niemand sei weniger berufen als er, über den Beruf des Politikers zu reden. An seiner Stelle schlug er Friedrich Naumann vor, den er seit langem als den gegebenen Führer Deutschlands auf dem Weg zur Demokratie ansah. Aber Naumann war damals schon schwer krank und lehnte ab. Als Weber trotzdem den Vortrag nicht übernehmen wollte, schrieb ich ihm, einige radikale Kommilitonen neigten jetzt dazu, Kurt Eisner als Sprecher an seiner Stelle einzuladen. In Eisner sah Weber den Typ eines Gesinnungspolitikers ohne Augenmaß für die Folgen seiner Handlungen. Die Drohung half daher, Weber sagte umgehend zu, kam und hielt einen Vortrag, dessen Text ein kleines Meisterwerk der Theorie der Politik und ein Dokument des Standes demokratischen Denkens in jenem kritischen Augenblick deutscher Geschichte wurde.
Ungeachtet der Tatsache, dass Max Weber von Politik – als seinem sehr persönlichen Anliegen – sein Leben lang nie gänzlich loskam, bedurfte es also – zumindest der Darstellung des Veranstalters Birnbaum zufolge – der Drohung mit dem Auftritt von Kurt Eisner, dem bayerischen Ministerpräsidenten seit November 1918, dass Weber die Rede über „Politik als Beruf“ übernahm. Nur so gelang es Birnbaum, eine Zusage zu erreichen, hatte Weber ihm doch erst kurz zuvor gegenüber geäußert: „Ich bin kein Politiker, ich bin ein Gescheiterter der Demokratischen Partei.“
Wir verfügen über mehrere Berichte von Menschen, die an diesem Vortrag im Vortragssaal der Buchhandlung Steinicke in der Münchner Adalbertstraße Nummer 15 teilnahmen. An dieser Stelle sei allein der Bericht des Juristen und Wirtschaftswissenschaftlers Max Rehm zitiert:
Nach der Rückkehr [aus dem Kriege] begann ich im Januar 1919 das juristische Studium in München, in Zeiten politischer Hochspannung. Ein Anschlag am Schwarzen Brett: Professor Max Weber von der Universität Wien hält einen Vortrag über „Politik als Beruf“. Es war an einem Winterabend, in düsterem, schmalem Saal, kaum hundert Personen fassend. Eine alte Dame, in leicht gebeugter Haltung, geht am Stock die Stuhlreihen entlang, nimmt vorn Platz: Ricarda Huch. Max Weber tritt hervor, stattlichen Wuchses, doch hager. Das mächtige Haupt ganz den Hörern zugewandt, spricht er frei, nur auf Handzettel gestützt, mit klangvoller, doch gebändigter Stimme, nach heftiger Kopfbewegung sich über Haar und Bart streichend. Er fesselt seine Hörer durch zwingende Gedankenfolge, treffende Beispiele, geschichtlich begründete Erkenntnisse. In der strengen Forderung an den Politiker – Leidenschaft, Verantwortungsgefühl, Augenmaß; nicht Gesinnungsethik, sondern Verantwortungsethik – gibt er, es ist zu spüren, ein Bekenntnis. Ricarda Huch, die Seelenkundige, Geschichtsbewußte, mag den Ruf der historischen Stunde vernommen haben, die wir anderen Zeugen eher professiv ahnend miterlebten.
Von einer weiteren Teilnehmerin an dieser Veranstaltung, Julie Meyer-Franks, erfahren wir weitere Details über den anschließenden Verlauf. Nach ihren Erinnerungen erschien gegen Ende von Max Webers Vortrag der Veranstalter, der Buchhändler „Papa Steinicke“, und teilte mit, dass Anhänger von Kurt Eisner unterwegs seien, die Veranstaltung zu sprengen. Daraufhin seien einige Teilnehmer, zusammen mit Max Weber, in die Wohnung von Meyer-Franks in der Pienzenauerstraße 34 gegangen, wo man bis in die Morgenstunden heftig miteinander diskutiert habe. Weber selbst schrieb dazu in einem Brief an Mina Tobler vom 29. Januar 1919, dass er froh sei, „nun diese doch beträchtlichen Strapazen los zu sein (es ist mehr die innere Angespanntheit, die Einen erfaßt, sobald man auf politisches Geschehen übergreift) […]. Besuch war mäßig, immerhin nicht klein, ‚Erfolg‘ ganz befriedigend, nachher Zusammensitzen, zuletzt in einem wunderbaren Atelier eines Literaten inmitten der alten Stadt und hoch über ihr auf einer Altane bis Nachts 2 Uhr.“
An der Münchner Universität wollte Max Weber seinen Beitrag leisten, dass die Soziologie – wenigstens dort – nicht in die Hände von „Dilettanten und Schwindlern“ falle, er wollte sich der Lehre der studentischen Jugend widmen, etwas Gelehrsamkeit treiben und sich ansonsten gänzlich von der Politik zurückzuziehen.
Die endgültige Ankunft Max Webers im postrevolutionär aufgewühlten München als seinem letzen Berufsort – und zugleich seinem Sterbeort – war die Fortsetzung einer Mehrzahl von kürzeren und längeren Besuchen der bayerischen Hauptstadt, dieser, wie er selbst schrieb, „längst vertrauten herrlichen Stadt“.
Es waren keine „normalen“ Semester, die Max Weber an der Münchner Universität erlebte. Dass Max Weber in diesen Monaten, die man ja in jeder Hinsicht – sowohl privat als auch öffentlich – als aufgewühlt bezeichnen kann, hat wissenschaftlich arbeiten können, ist zumindest bewundernswert. Neben seinem häuslichen Schreibtisch in der Mietwohnung in der dritten Etage in der Seestraße 3c – heute Nummer 16 – und dem Lesesaal in der Bayerischen Staatsbibliothek diente ihm das Professorenzimmer des Staatswirtschaftlichen Seminars im Hauptgebäude als Arbeitsplatz. Ungeachtet seines festen Vorsatzes, sich vollkommen aus dem politischen Leben herauszuziehen und sich ausschließlich der Arbeit an seinen wissenschaftlichen Vorhaben zu widmen, überschattete eine Vielzahl dramatischer politischer Vorgänge die drei Münchner Semester des Professors, von denen hier nur zwei Komplexe genannt seien: Zum einen jene, die mit dem zuerst gewaltsamen und dann juristischen Ende der Revolutionszeit im nachmonarchischen Bayern zusammenhängen, zum anderen die Ereignisse, die mit der Begnadigung des Eisner-Mörders Arco verbunden sind. Beide Male finden wir Max Weber sehr nah am Zentrum der Münchner Geschehnisse.
Max Weber kannte viele der zentralen Akteure der Münchner Revolution persönlich. Noch am 4. November 1918, drei Tage vor Beginn der revolutionären Erhebung, hatte er auf einer Münchner Versammlung der „Fortschrittlichen Volkspartei“ zum Thema „Deutschlands politische Neuordnung“ gesprochen und in der anschließenden Diskussion mit Erich Mühsam debattiert, wie wir aus den Berichten von Friedrich Burschell, Oskar Maria Graf und Rainer Maria Rilke über diese Rede wissen, die ebenfalls an dieser Veranstaltung im Hotel Wagner teilgenommen hatten.
In seinem Vortrag wetterte Max Weber mit starken Worten gegen die bayerische Parole „Los von Preußen!“, gegen einen sofortigen Friedensschluss mit den Alliierten und gegen alle revolutionären Bewegungen. Im Anschluss an seinen Vortrag und die überaus bewegte Diskussion setzte Weber sich mit einigen seiner Zuhörer in der Privatwohnung von Erich Katzenstein zusammen, eben jenes USPD-Politikers, der am 7. November die Besetzung des Münchner Polizeipräsidiums und der Redaktion der „Münchner Neuesten Nachrichten“ anführen sollte. Dass Max Weber Edgar Jaffé lange und persönlich gut kannte, habe ich bereits angedeutet, ebenso wie die Tatsache, dass eben dieser Freund und Fachkollege der erste Finanzminister im Kabinett Eisner wurde, als einer der beiden parteilosen, „bürgerlichen Fachleute“. Auch mit Kurt Eisner hatte Weber eine, wenn auch nur indirekte Beziehung. In Eisner sah Weber jenen Typus von „Gesinnungsethikern“, denen er überaus kritisch gegenüberstand und zu denen Weber die meisten der bayerischen Revolutionäre zählte, so vor allem den Pädagogen Friedrich Wilhelm Förster und den Schriftsteller Ernst Toller.
Auch Toller kannte Weber noch aus Heidelberg und von den lebhaften Diskussionen, die er mit diesem jungen, revolutionär und pazifistisch gesonnenen Intellektuellen bei den Tagungen auf Burg Lauenstein im Jahr 1917 geführt hatte. Toller war von der Persönlichkeit Webers derart beeindruckt, dass er seinetwegen zum Studium erst an die Heidelberger und dann an die Münchner Universität wechselte. Da sich Toller ab November 1918 aktiv an der Rätebewegung beteiligt hatte, im April 1919 sogar einige Tage als Vorsitzender des „Provisorischen revolutionären Zentralrats“ fungierte und zudem als Truppenführer der „Roten Armee“ der zweiten Räteregierung gewirkt hatte, stand er nach der gewaltsamen Niederwerfung des Räteregimes unter der Anklage des „Hochverrats“. Ungeachtet seiner prinzipiellen Gegnerschaft zu jenen Ereignissen engagierte Weber sich an exponierter Stelle bei der juristischen Verteidigung seines ehemaligen Studenten.
Die Zeitungen berichteten, auf welche Weise der Jurist Max Weber diesem jungen Revolutionär im Prozess vor dem Münchner Standgericht zu Hilfe eilte. Von wirtschaftlichen und politischen Dingen habe der Kreis junger Leute, denen Toller angehört habe, „rein nichts gewusst.“ Zudem habe er, Max Weber, den Eindruck gehabt, dass Tollers Nervensystem „nicht ganz intakt sei“ und er ihm daher wiederholt nahegelegt habe, sich von diesen Bewegungen ferne zu halten. Weber empfinde „starke menschliche Sympathien für den Angeklagten“ und erbitte darum die Begnadigung Tollers. Die Zeugenaussagen des Universitätsprofessors Weber, der Toller die „absolute Lauterkeit“ eines radikalen Gesinnungsethikers attestierte, „gepaart mit ungewöhnlicher Weltfremdheit und Unkenntnis der politischen und wirtschaftlichen Realitäten“ dürften mit dazu beigetragen haben, dass Toller das Todesurteil erspart blieb und er zu fünf Jahren Festungshaft im Gefängnis Niederschönenfeld verurteilt wurde.
In sehr ähnlicher Weise diente Weber noch mindestens zweimal als Zeuge vor Gericht: Zum einen erstellte er ein Gutachten für Arthur Salz, der ebenfalls wegen Hochverrat von der Todesstrafe bedroht war, da er dem Revolutionär Eugen Leviné ein Versteck organisiert hatte; das Verfahren gegen Salz endete mit dessen Freispruch. Und auch für Otto Neurath sagte Max Weber am 23. Juli 1919 aus.
Wie uns allen bekannt, wurde der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner am 21. Februar 1919 von dem 22-jährigen Anton Graf von Arco auf Valley erschossen. Dieser ehemalige Leutnant des bayerischen Leibregiments und Jurastudent wurde, als er wieder prozessfähig war, im Januar 1920 des Mordes angeklagt und am 16. Januar zum Tode verurteilt. In der Urteilsbegründung des nationalistischen Richters Georg Neithardt – eben jenes Richters am Bayerischen Volksgericht, der im Frühjahr 1924 das Skandalurteil gegen Adolf Hitler fällte – hieß es, dass Arcos Tat „nicht niederer Gesinnung, sondern der glühenden Liebe zu seinem Volke und Vaterland“ entsprungen sei „und Ausfluß der in weiten Volkskreisen herrschenden Empörung über Eisner war“. Nicht zuletzt solche Einordnungen müssen dazu beigetragen haben, dass Arco bereits einen Tag nach seiner Verurteilung von der bayerischen Regierung begnadigt und die Todesstrafe in Festungshaft unter Beibehaltung der bürgerlichen Ehrenrechte umgewandelt wurde. Arco saß seine Strafe bis zum Mai 1924 in Landsberg am Lech ab, wurde dann vorzeitig auf Bewährung entlassen und bereits drei Jahre später endgültig amnestiert.
All diese Ereignisse erschütterten naturgemäß Studierende und Lehrende an der Münchner Universität, in der Max Weber sein vorletztes Semester lehrte. Am Tag der Sitzung des Bayerischen Ministerrats, dem 17. Januar 1920, fand in der Großen Aula eine Vollversammlung der Münchner Studentenschaft statt, die sich mit großer Mehrheit für die Begnadigung Arcos aussprach und eine entsprechende Resolution direkt noch aus der Versammlung an die Regierung übermittelte. In dieser turbulenten Veranstaltung hatten Mitglieder des „Sozialistischen Studentenverbandes“ erklärt, dass sie, obwohl sie grundsätzliche Gegner der Todesstrafe seien, dennoch dafür plädierten, die Entscheidung der Regierung nicht durch eine Resolution zu beeinflussen. Zudem kritisierten sie eine angebliche Bemerkung des Rektors der Universität, Friedrich von Müller, der die Tat Arcos als „mannhafte Tat“ verherrlicht haben soll. Einer der Funktionäre der Münchner Studentenschaft, Walther Hemmeter, beschimpfte daraufhin die sozialistischen Kommilitonen als „Bande“ und behauptete, dass sich auch das Reichswehrgruppenkommando für die Ermordung Eisners ausgesprochen habe.
Weber protestierte mündlich und schriftlich sowohl gegen die Beleidigungen und Behauptungen des Vorsitzenden der Studentenvertretung Hemmeter als auch gegen die angebliche Äußerung des Rektors. Da ihm bis dahin nur ausweichend geantwortet worden war, sah er sich dazu veranlasst, seine Vorlesung am Montag, dem 19. Januar 1920, im Auditorium Maximum mit folgenden Worten zu beginnen:
Ich sehe mich, entgegen meines sonstigen Brauches, in politischen Dingen hier nicht das Wort zu ergreifen, und weil ich mit Ihnen das Vertrauen zum Rektor teile, veranlasst, zu dem, was letzten Samstag hier vorgefallen ist, eine Bemerkung zu machen: Sie haben den Grafen Arco gefeiert, weil dieser, wie es auch meine Überzeugung ist, vor Gericht ritterlich und in jeder Beziehung manneswürdig auftrat. Seine Tat ging aus der Überzeugung hervor, dass Eisner Schande auf Schande über Deutschland gebracht hat. Dieser Meinung bin ich auch. Dennoch! So tapfer auch das Verhalten Arcos war: man hätte ihn erschießen sollen. Wäre ich Minister gewesen, mich hätte Ihre Demonstration nicht gehindert! Im Gegenteil. Aber das Ministerium ist aus Feigheit vor Ihnen zurückgewichen.
Als Weber so weit gekommen war, trampelten einige Studenten Beifall, was ihn anscheinend nicht sonderlich beeindruckte. Er fuhr sie mit den Worten an:
Bitte, Ihre Beine sind keine Argumente, zumal in so ernsten persönlichen Dingen […]. Was haben Sie nun aus dem Grafen Arco gemacht? Nichts anderes, meine Herren, als eine Caféhaussehenswürdigkeit! Jawohl! Statt dass es würdiger gewesen wäre, Graf Arco hätte mit dem Tod gesühnt, zu dem er bereit war. Damit wäre jenem Karneval, der mit dem stolzen Namen Revolution belegt worden ist, ein Grabstein gesetzt gewesen. So aber wird Eisner im Volke weiterleben, weil Arco weiterlebt! Das ist zum Nachteil des Landes. Sodann sind hier am Samstag Beschuldigungen gefallen, Beschuldigungen, die bis heute noch nicht zurückgenommen sind. Ein Hundsfott! der das nicht tut.
Die Münchner Universität kam nicht zur Ruhe, wie einem Bericht der „Münchner Neuesten Nachrichten“ vom 22. Januar 1920 zu entnehmen ist, der einen plastischen Eindruck davon vermittelt, unter welchen Umständen Max Weber kurz vor seinem Lebensende lehrte:
Zur Vorlesung des Prof. Max Weber am Mittwoch abend 6 Uhr erschienen die Studenten in großer Zahl. Das Auditorium Maximum war dicht gefüllt. Prof. Weber erklärte zu Beginn, dass nach den vorgebrachten Entschuldigungen er auch seinerseits das gebrauchte Wort restlos zurücknehme. Er konnte jedoch die Vorlesung nicht beginnen, da tobendes Pfeifen und Johlen einsetzte. Auch eine Pause war nutzlos, da sich der Lärm, in den sich auch antisemitische Rufe mischten, sofort wieder erhob. Schließlich erschien der Rektor und forderte die Studenten, die nicht Hörer des Kollegs waren, auf, den Hörsaal zu verlassen. Auch die Worte des Rektors waren erfolglos; der Lärm dauerte an. Erst nachdem der Rektor die Vorlesung für geschlossen erklärt hatte und die Beleuchtung abgestellt worden war, leerte sich langsam der Hörsaal.
Das Protokoll der Universitäts-Senatssitzung vom 29. Januar 1920 hält fest, was Max Weber dort über jene Ereignisse berichtete, nachdem die beschimpften sozialistischen Studenten ihn um Hilfe gebeten hatten:
Ich bin durch den Pedell in die Große Aula gebeten worden, zog mich nach einiger Zeit zurück, wurde dann durch unbeteiligte Studierende zurückgeholt, da Beleidigungen gefallen seien […] ich habe dann den Rektor gebeten, doch eine Remedur eintreten zu lassen und wohnte, da an ein Fortgehen aus dem überfüllten Saale nicht mehr zu denken war, gezwungener Weise den weiteren Vorgängen bei.
Es war vor allem ein ausführlicher Bericht in der „Frankfurter Zeitung“ vom 3. Februar 1920, der in den anschließenden Tagen dazu führte, dass der sogenannte „Fall Arco“ hochkochte. Spätestens als zusätzlich das Gerücht verbreitet wurde, Max Weber sei Jude, und es müsse nun endlich darum gehen, jüdische Professoren aus der Universität hinauszuekeln, kam es zu anhaltenden tumultartigen Szenen, vor allem initiiert durch rechtskonservative Studenten der Tiermedizin von der anderen Seite der Ludwigstraße, so dass Weber seine Vorlesungen immer wieder abbrechen musste. Nachdem der Rektor öffentlich erklärte, er habe keineswegs die Tat Arcos verherrlicht, sondern lediglich dessen Verhalten während des Prozesses als „mannhaft“ bezeichnet, und auch der Studentenfunktionär Hemmeter seine Beschimpfung der sozialistischen Studenten als „Bande“ zurücknahm, nahm auch Weber seine Beleidigung durch den Ausdruck „Hundsfott“ zurück.
Versuchen wir eine Art von Resümee zu ziehen: Max Weber erlebte das revolutionäre Geschehen Münchens jener beiden Jahre aus nächster Nähe. Er kannte viele der zentralen Akteure auf der revolutionären Seite persönlich, seinem früheren Studenten Ernst Toller fühlte er sich emotional verbunden und verteidigte ihn in lebensbedrohlicher Situation. Dennoch – oder gerade deswegen – blieb Max Weber ein Beobachter, ein teilnehmender Beobachter. Er war entschieden gegen die sozialistische Revolution und erst recht gegen eine rätedemokratische Revolution nach sowjetischem Vorbild. Seine Gegnerschaft entsprang keineswegs seiner prinzipiellen Antipathie dem Sozialismus gegenüber, sondern seiner Sorge darüber, das wirtschaftliche und politische Schicksal seines Landes in die Hände von unkundigen Amateuren zu legen. Zum anderen war er in großer Sorge darüber, dass eine sozialistisch organisierte Gesellschaft das Ausmaß an bürokratischer Reglementierung der Untertanen ins Unerträgliche steigern würde. Die Leidtragenden einer solchen Entwicklung wären und blieben dann letzten Endes die „kleinen Leute“, die sich nicht gegen staatliche Bevormundung wehren könnten, – im Gegensatz zu Menschen seiner eigenen Gesellschaftsschicht.
Edgar Jaffé: Der aktive Teilnehmer
Einleitend erwähnte ich jene Proklamation, mit der der „Freistaat Bayern“ am 8. November 1918 ausgerufen worden war. Das Schlusszitat aus diesem Aufruf – „Bewahrt die Ruhe und wirkt mit am Aufbau der neuen Welt!“ – nahm der Nationalökonom Edgar Jaffé offensichtlich wörtlich und übernahm bereits einen Tag später, am 9. November 1918, das Finanzministerium im Kabinett Eisner als parteiloser Minister.
Wer war dieser Mann, der sicherlich im Vergleich zum zwei Jahre jüngeren Max Weber, um einiges unbekannter geblieben ist?
Edgar Jaffé, geboren am 14. Mai 1866 in Hamburg entstammte als eines von vierzehn Kindern einer weitverzweigten jüdischen Kaufmannsfamilie aus Hamburg. Sein Vater, Isaac Joseph, war ein überaus erfolgreicher und vermögender Unternehmer und zudem Gründer des „Paulinenstifts“, eines jüdischen Mädchenwaisenhauses in Hamburg. Seine Mutter war Charlotte Baer, die ehemalige Erzieherin seiner Geschwister aus der ersten Ehe seines Vaters. Das Familiensystem Jaffé widmete sich dem Handel von Baumwoll- und Leinenwaren und unterhielt Niederlassungen in Hamburg, Manchester und Belfast. Während der irische Zweig der Familie deutsche und osteuropäische Auswanderer in einer blühenden Synagogengemeinde in Belfast zusammenführte, bemühte sich der deutsche Familienzweig vor allem um Assimilation in die deutsche Mehrheitsgesellschaft, so dass mehrere Konversionen und Heiraten mit christlichen Partnern zu verzeichnen sind. Edgar Jaffé wurde nach seinem Besuch des Gymnasiums „Ernestinum“ in Gotha am 26. März 1882, im Alter von 15 Jahren, in der Augustinerkirche in Gotha evangelisch-lutherisch zugleich getauft und konfirmiert. Ganz offensichtlich wollten seine Eltern, dass der Junge fernab seiner jüdisch geprägten Umgebung in Hamburg protestantisch-deutsch erzogen wurde. Edgar Jaffé verließ das Gymnasium mit der sogenannten „Mittleren Reife“ – wie das die meisten Jungen aus Kaufmannskreisen taten – und trat seine Lehre als Volontär im Export-Import-Geschäft in Hamburg an, ging von dort für zwei Jahre nach Paris und anschließend für mehrere Monate nach Barcelona; in den Jahren 1888 bis 1897 arbeitete er in der Niederlassung des Familienunternehmens in Manchester als Partner seines älteren Bruders Siegfried. Nach diesen neun Jahren und dem Tod der Eltern erbten beide Brüder und siedelten gemeinsam nach Berlin über, wo sie ihr beachtliches Vermögen in Immobilien investierten, insbesondere im Gebiet um den Kurfürstendamm in Charlottenburg.
Im Alter von 32 Jahren wollte Edgar Jaffé endlich in jene Welt eintauchen, die ihm als eine bessere als die Welt der Wirtschaft erschien: die Welt der Wissenschaft. Dabei war es jedoch für einen Mann seines Alters, der nicht einmal über ein Abitur verfügte, nicht gerade einfach, ein wissenschaftliches Studium aufzunehmen. Zu seinem Glück interessierten sich Gustav von Schmoller, Max Sering und Adoph Wagner für den ehemaligen Unternehmer, der ihnen als Spezialist für die Baumwollindustrie Lancashires willkommen war, so dass Edgar Jaffé bereits im Jahr 1900 einen Artikel in Schmollers „Jahrbuch für Gesetzgebung“ zum Thema „Die englische Baumwollindustrie und die Organisation des Exporthandels“ publizieren konnte.
1901 wurde er in Heidelberg mit einer Arbeit über die Arbeitsteilung im englischen Bankwesen promoviert, und habilitierte sich 1904 für Volkswirtschaftslehre in Heidelberg. Im gleichen Jahr erwarb er für die stolze Summe von 60 000 Mark die Rechte für das „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik“, das er als „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ zusammen mit Werner Sombart und Max Weber herausgab. In Heidelberg bot er als Privatdozent Vorlesungen über Bank-, Börsen-, Geld- und Kreditwesen an und publizierte sein Hauptwerk „Das englische Bankwesen“ (1904). Er beteiligte sich zusammen mit Eberhard Gothein am Ausbau der neugegründeten Handelshochschule Mannheim, wo er zum außerordentlichen Professor für Nationalökonomie ernannt wurde. Zum Wintersemester 1909/10 folgte er einem Ruf als ordentlicher Professor an die von Moritz Julius Bonn geleitete Handelshochschule München, und bot zugleich Vorlesungen an der Münchner Universität an.
Während des Ersten Weltkriegs diente Jaffé zeitweilig als Wirtschaftssachverständiger beim Zivilgouvernement in Belgien, kehrte 1915 nach München zurück und publizierte eine Reihe wissenschaftlicher Aufsätze zu Fragen der Kriegswirtschaft.
Gegen Ende des Krieges bezog Edgar Jaffé immer vehementer pazifistische, republikanische und sozialistische Positionen, trat als Versammlungsredner auf und beteiligte sich an den Friedenskundgebungen der USPD. Hatte er zuvor eher linksliberale und sozialdemokratische Positionen vertreten, ergriff er nun entschieden Partei für Kurt Eisner. Dieser bestellte ihn unmittelbar nach Ausrufung der Republik zum bayerischen Finanzminister.
Seine kurze politische Tätigkeit stand im Zeichen der sich anbahnenden Auseinandersetzung zwischen Bayern und dem Reich um die Neugestaltung der Finanzhoheit im Zuge der Erzbergerschen Reformen, in der Jaffé energisch einen föderalistischen Standpunkt vertrat. Enttäuschung über seine geringen Einflussmöglichkeiten ließ ihn bald resignieren. Bei den Wahlen zur bayerischen und zur deutschen Nationalversammlung am 12. bzw. 19. Januar 1919 kandidierte Edgar Jaffé mit denkbar geringem Erfolg für die USPD. Als Eisner ermordet wurde, hielt Jaffé auf dem Münchner Ostfriedhof eine Rede auf seinen ehemaligen Ministerpräsidenten, deren Inhalt leider nicht überliefert wurde. Jaffés politische Karriere jedenfalls stand zur Disposition, der amtierenden Regierung Hoffmann gehörte er schon nicht mehr an. Als Gründe dafür nennt Erich Mühsam – der Jaffé als den „weitaus fähigsten Kopf des Kabinetts Eisner“ bezeichnete – lakonisch: „Aber er war Jude und galt als Radikaler.“ Noch bis zum 17. März 1919 leitete Jaffé das Finanzministerium provisorisch weiter, ab da wurde er von dem parteilosen Staatsrat Paul von Merkel abgelöst, der bereits dem Königreich gedient hatte. Nach einem psychischen Zusammenbruch wurde Edgar Jaffé in der „Nervenheilanstalt Neufriedenheim“ in der Fürstenriederstraße behandelt und starb am 29. April 1921 in Ebenhausen, bis zum Schluss umsorgt von seiner Ehefrau Else Jaffé.
Ein Abschluss-Gedanke
Lassen Sie mich abschließend zum Nach- bzw. Vorausdenken animieren. Wer sich als Intellektueller und als Wissenschaftler auf der praktischen Seite der Politik engagiert – noch dazu auf der Verliererseite – bekommt keine Kränze der glorreichen Erinnerung geflochten. Edgar Jaffé hatte – wenn man das so sehen will – auf die „falsche Seite“ gesetzt und damit verloren. Zum Schluss sogar seinen Verstand.
Ist das nun alles „nur“ Geschichte? Ich glaube nicht. Denn ich gehöre zu jenen Menschen, die glauben, dass wir aus der Geschichte lernen können. Jeder Intellektuelle, jede Wissenschaftlerin kann in eine Situation geraten, an deren Entstehung er oder sie zwar keinen Anteil hatte, deren Folgen er oder sie aber nicht so ohne weiteres entrinnen kann. Wie also sich positionieren in einer solchen Situation?
Von Albert Otto Hirschman kennen wir die grundlegenden drei Reaktionen auf den „Leistungsabfall“ bei Unternehmungen, Organisationen und Staaten: Exit, Voice oder Loyalty. Hirschman, dieser Abkömmling aus einer säkularisierten jüdischen Familie aus dem Berliner Bildungsbürgertum, der im April 1933 aus Deutschland zuerst nach Paris, dann nach London, dann nach Triest und schließlich nach Berkeley und Princeton flüchtete, wusste, wovon er schrieb. Mitglieder von Unternehmen, Gewerkschaften aber auch von ganzen Nationen können bei „Unzufriedenheit“ die Organisation verlassen, bzw. die Mitgliedschaft aufkündigen („Exit“), sie durch Beschwerde, Abwahl von Funktionären etc. zu verändern suchen („Voice“) oder sie bleiben unverändert loyal.
Max Weber wählte einen Mittelweg zwischen Loyalität dem nichtrevolutionären System und (innerer) Emigration dem neuen System gegenüber, Edgar Jaffé wählte den Pfad des Protests dem „alten“ System gegenüber und Loyalität dem neuen System gegenüber.
Möge sich jeder und jede von uns überlegen, wie er oder sie auf politische Bedrohungen der menschlichen Freiheitsspielräume durch aktuelle Entwicklungen reagiert bzw. reagieren würde: Exit, Voice oder Loyalität. Und diese Frage stellt sich für Intellektuelle und Wissenschaftler nicht nur in den gegenwärtigen USA, in Polen, in Ungarn, in China usw.
Sie stellt sich vielleicht auch erneut in Deutschland in unserer Zeit.