Ein Spiegelbild der Gesellschaft

Zum Erscheinen des zweiten Bandes des Briefwechsels Gottfried August Bürgers

Von Martin MeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Meier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gottfried August Bürger ist einer breiteren Leserschaft vor allem durch die Übertragung und Erweiterung der von Rudolf Erich Raspe geschaffenen Abenteuergeschichten des Barons von Münchhausen bekannt. Das Bewusstsein dafür, dass Bürger zu den Klassikern deutscher Balladendichtung zählt, dass er historische Schriften verfasste und als Übersetzer William Shakespeares sowie antiker Werke hervortrat, schwindet. Die enge Verflochtenheit seines Werkes mit dem anderer, häufig dem Sturm und Drang zugerechneter Autoren, wird in den Briefen des Pfarrersohnes sichtbar, der sich nach 1772 als Amtmann finanziell über Wasser hielt. Es ist das Verdienst des mit hoher Akribie arbeitenden Herausgeberteams um Ulrich Joost und Udo Wargenau, den Briefwechsel Bürgers einer breiteren Öffentlichkeit wissenschaftlich kommentiert zu erschließen. Nachdem der erste Band die Jahre 1760 bis 1776 dokumentiert, erfasst der zweite die Jahre 1777 bis 1779. Nicht aufgenommen wurde in das Konvolut der Amtsbriefwechsel.

Die nunmehr vorliegende Korrespondenz umfasst also Briefe aus nur drei Jahren, unter anderem an enge Freunde wie Heinrich Christian Boie, Leopold Friedrich Günther von  Goeckingk sowie Anton Matthias Sprickmann. Goeckingk hatte er bereits in Halle kennengelernt, Boie erst in seinen Universitätsjahren in Göttingen. Verheiratet ist Bürger seit 1774 mit der Tochter eines Justizamtmannes, Dorothea Leonhart, verliebt hingegen in ihre jüngere Schwester Auguste. Als der Schwiegervater stirbt, zieht Auguste mit in das Haus der Eheleute Bürger. Er nennt sie liebevoll Molly. Verzweiflung spricht aus seinem Schreiben vom 17. Juli 1777 an Anton Matthias Sprickmann:

Meine Schererey, Plackerey, Verdruß, Ärger, Schuldenschiß u.s.w. sind Schuld daran, daß ich so lange an eüch nicht geschrieben habe […] Der Angst, Mühe und Noth ist auch gar zu viel. Mein Schwiegervater hat auch so viel Schiß und Wirrwarr hinterlassen, daß sich der Magen bey mir  umwendet, wenn ich daran denke. Alle seine Last liegt nur auf mir und ich hatte doch schon an meiner eigenen genug zu tragen. Dazu kömmt nun auch das verdammte verliebt seyn; und Das meine Amalia einen hundsvöttischen Geck von Crämer oder Seidenschwanz heüraten soll.

Mit Amalia ist in diesem Falle Molly gemeint. Wir lesen im bereits zitierten Brief: „[…] immer Angst, Unruhe und Leiden? Das Mädel vertrocknet für Sehnsucht und Gegenliebe. Es ist aber platterdings unmöglich, daß sie der Himmelsthau der Liebe befeürchte. Mein ganzer Leib ist wie zerschlagen. Ich taumle nach dem Grabe. Oh, daß ich Weib und Kind habe!“

Die Verzweiflung wird auch vor dem Hintergrund verständlich, dass sich Bürger vergeblich auf die Amtmannstelle seines verstorbenen Schwiegervaters bewarb. Seiner Wut lässt er in gewohnt zotiger Manier freien Lauf: „und höre ich, daß das Amt ein junger Schuft von 22 Jahren, der in Auditeur gewesen ist wegschnappen werde“. Überhaupt ist der Briefwechsel eine eigenartige Melange in melancholisch-tragischem auch poetischem und bisweilen spöttischem Stil verfassten Passagen sowie fäkalsprachlichen Ausfällen.

Briefe sind Spiegelbild der Gesellschaft, in der sie entstanden, und so bietet der Briefwechsel interessante Einblicke, nicht nur in literaturwissenschaftlicher Hinsicht, sondern auch beispielsweise für den versierten Historiker, etwa wenn Bürger versucht, den jüngsten Bruder seiner Frau beim hannoveranischen Militär unterzubringen. So sei, wie er  am 17. Juli 1777 an Sprickmann schreibt, in Münster eine Art Kadettenschule vorhanden, in der man junge Leute gratis annehmen würde. Es folgen einige Briefe, die Bezug auf diese Kadettenanstalt nehmen. Sicher profitiert die Militärhistorigrafie von diesen Darstellungen. Etwa von den Äußerungen Sprickmanns, dass es eine Garde zu Pferde gebe, die eine derartige Schule betreibe. Nur Landeskindern und zugleich Adligen sei gestattet, aufgenommen zu werden, es sei denn, sie hätten eine Zeit als Kadett unter einem Regiment gedient. In der Zeit, während der sie im Regiment seien, müssten sich die jungen Anwärter unter anderem mit Mathematik ausreichend befassen und zeichnen lernen, „wer es in der elementare Mathematik dann am weitesten gebracht hat, wird bei der Garde gesetzt“. Auf weitere Anfrage Bürgers liefert Sprickmann am 5. August 1777 umfassende Darstellung zum münsterschen Militär.

Es lohnt sich, den Briefwechsel nicht an einem Stück zu lesen, sondern die Lektüre zu splitten und die Einzelstränge zu verfolgen: zunächst den Briefwechsel mit Sprickmann, anschließend mit Boie, dann mit Voß. 1778 übernimmt er auf Anraten seines Verlegers Dietrich die Redaktion des von seinem Freund Boie gegründeten Göttinger Musenalmanachs. Hierauf wendet sich Voß von seinem alten Freund ab und die Freundschaft zu Sprickmann gerät ebenfalls ins Wanken. Das Verhältnis zu Voß, dem herausragenden Übersetzer Homers und Freund Bürgers aus Göttinger Studientagen, ist schon lange vor der Angelegenheit nicht einfach. So schreibt dieser bereits im April 1777 an Bürger

ich habe von Stolberg die ersten 6 Gesänge in den Händen und 2 soll ich noch bekommen. Stolberg scheint mir Homer genauer auszudrücken, als Sie, und das bloß durch die Hülfe des Hexam, der ihm mehr Freiheit verstattet. Ich bewundere Sie, mit welcher Leichtigkeit Sie einher in ihrer Rüstung gehen aber ohne Sie würden sie noch leichter gehen: das beweist ihre Übersetzung aus der Aenaeis.

Bürger antwortet ihm, dass ihm die Übertragung des Homers von Voß sehr gut gefallen habe, nur fehle ihm die Möglichkeit zum Abgleich mit dem Original, da er sein Exemplar verloren habe. Der Brief, getragen von einem unverkennbar-sarkastischen Unterton wendet sich schließlich in einen offen feindseligen Duktus: „Wer hat Ihnen weiß gemacht, daß ich Verfasser der Dido sei? Können Sie denn nicht lesen? Es steht ja Bamberg drunter! Wie kämen denn ich und Bamberg zusammen? ergo! Oder ergel! um mit dem Totengräber im Hamlet zu reden“.

Goeckingk kündigt im September 1777 seine Herausgeberschaft des Göttinger Musenalmanachs. Daraufhin wendet sich Georg Friedrich Brandes an Bürger und teilt mit, dass es Dietrich sehr schwer falle, diesen Verlust zu verkraften und er, Brandes, die Zeitschrift in guten Händen sehen möchte und sie deshalb Bürger zu übertragen gedenke. Dieser antwortet hierauf am 6. November 1777. Überliefert ist das Konzept einer Antwort an Brandes, in der Bürger schreibt:

Die Ursache, warum ich Herrn Dietrich schon vor einigen Jahren, ehe Goeckingk drann kam, die Herausgabe seines MusenAlmanach abschlug und warum ich gegenwärtig wieder Bedenklichkeiten fand, selbige zu übernehmen, ist die freündschaftliche Verbindung, in der ich mit Herrn Boie und Voß stehe. Ich wollte letzterem nicht gerne Eintrag thun. Wenn ich indessen bedenke, daß ich diesen durch meine erste Aufopferung nichts gefrommt habe und wahrscheinlich durch eine zweyte wieder nichts frommen werde, so weiß ich mich fast nicht mehr gegen ew. Wohlgeboren so schmeichelhaftes Angehen zu wehren.

Der Göttinger Musenalmanach bedeutet Bürger viel. So schreibt er an beide Freunde, an Goeckingk und Voß zugleich, um ihnen zu erklären, warum er das Angebot zur Herausgeberschaft annimmt. Er verweist darauf, dass er zu der Zeit, als Boie sich mit Dietrich überwarf, es zurückwies, den Musenalmanach herauszugeben, obgleich ihm die Herausgeberschaft mehrfach angeboten wurde und zwar aus Freundschaft zu Voß. Dies aber habe nichts genutzt, denn in Goeckingk habe Dietrich einen neuen Herausgeber gefunden. Mit einer Absage wäre Voß also nicht geholfen. Bürger schreibt:

soll ich nun Dietrichen, den ich in mancher Absicht als Gelehrter brauche, soll ich Leüte, die mir schaden oder vortheilen können, disgustiren, soll ich einen Honorarium von einigen hunderten wegwerfen? Und wozu? Um Vossen nichts! nichts! zu helfen? Das wär eine Aufopferung die nach Donkichotischem Heroismus röche.

Für Voß tritt Bürger mit diesem Schritt „an die Spitze des Feindes “. Bürger seinerseits antwortet, dass er genötigt sei für eine verwaiste Familie von acht Personen zu sorgen – und: „die Ansprüche ihrer Freundschaft sind unter anderen Umständen vollkommen gegründet ich möchte… Aber unter meinen jetzigen Konjunkturen müssen Sie sowade allmächtige Gott lebt stärkeren Ansprüchen weichen“.

Neid und Missgunst erfährt Bürger durch die Annahme des Angebotes. Aber sie bietet ihm auch die Möglichkeit, junge Autoren zu fördern.

„Nun räuspere Dich Verstand, und gib hübsch was Gescheidtes von Dir.“ Wäre er ihr Liebhaber, „ein Kasten voll schöner Raritäten“ täte sich auf. Die Liebe sei schließlich das Salz der Erde. Bisweilen versalze sie auch das Leben. Bürger eröffnet mit diesen Gedanken den Briefwechsel mit Philippine Gatterer. Er wird zum Förderer der Dichterin, gibt ihr schon im ersten Brief das Pseudonym Rosalia, unter dem sie später Gedichte im Göttinger Musenalmanach veröffentlicht. Beruflicher Erfolg und privates Unglück spiegeln sich in den Briefen der nur drei Jahre, die der Band erfasst.

Am 10. Oktober 1777 verstirbt das einzige Kind der Eheleute Bürger:

Gott erbarme sich unser! Laß mich für heüte schweigen, liebster Boie, und meinen Jammer, meinen unendlichen Jammer, den du nicht zu fassen vermagst, in die öde wüste Nacht ausheülen. So ein enormer Schmerz hat mein Herz noch nie belastet, und härter – konnt’ ich kaum sonst noch was auf Erden empfinden. Ach! du hast mein Kind nicht gekannt; aber es war ein Mädchen, von Anlage des Geistes und Herzens, welches auch Blutfremde einen Engel nannten. Vor 14 Tagen blühte es noch in seiner wunderschönen Gesundheit. Nun hat ein Fieber – Gott weiß woher es kam? – die schöne Rose entblättert.

Die Herausgeber vermuten Typhus hinter dem „heimlichen Fieber“.

Die Briefe sind kulturgeschichtlich aufschlussreich. Sie bieten Einblicke in die Sprache des 18. Jahrhunderts, die ihre Spuren in unserer heutigen Zeit hinterließ. So findet sich beispielsweise unter den zahlreichen Erklärungen im Anmerkungsapparat zum Brief 613 das Wort „Tausendsassa“, an anderem Ort wird uns die Bedeutung des Wortes „Biedermann“ im früheren Sprachgebrauch vergegenwärtigt.

Lesenswert ist auch das Nachwort. Klug reflektieren die Herausgeber hier die (geringen) Mängel des ersten Bandes, danken Rezensenten für Hinweise und erörtern ihr Vorgehen. Kritisch setzen sie sich mit dem Stand von Editionen in Deutschland auseinander. So stände zu befürchten, dass die DFG eines Tages keine Forschung mehr fördern und es nur noch Digitalisierer geben könnte, die „mangels Ausbildung von ihren Gegenständen unzulänglich oder gar keine Ahnung mehr haben könnten“, ja, die es nicht einmal verstünden, Handschriften zu lesen. Beigegeben sind der vorbildlichen Edition Verzeichnisse alter Münzen, eine Vergleichstabelle der hannoveranischen Münzwerte, Übersichten alter Maße, Münzen und Gewichte, historischer Abkürzungen, von Bibliotheks- und Archivsiegeln, von Kürzeln, Kontraktions- und Abrechnungszeichen. Kurzum: eine Edition, die Maßstäbe setzt. Den Herausgebern und Bearbeitern gebührt Dank.

Titelbild

Gottfried August Bürger: Briefwechsel. Band II, 1777-1779.
Herausgegeben von Ulrich Joost und Udo Wargenau.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
955 Seiten, 69,00 EUR.
ISBN-13: 9783835317840

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