Warum nicht beim Titel des Märchens bleiben?

„Riquet mit dem Schopf“ von Amélie Nothomb erscheint in Deutschland als „Happy End“

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seitdem Amélie Nothomb im Jahre 1992 mit Hygiène de l’assassin (Die Reinheit des Mörders, 1994) zum ersten Mal die Bestsellerlisten anführte, veröffentlicht sie ohne Unterlass flüssig lesbare Romane, die nicht nur in Frankreich und Deutschland eine beträchtliche Fangemeinde gefunden haben. Genauso wie das oftmals autobiografisch motivierte Schreiben liebt Nothomb die Inszenierung ihrer Person – vorzugsweise als weiblicher Dandy, wie die meisten Cover der französischen und deutschen Ausgaben ihrer Romane beweisen. In den letzten Jahren jedoch wendet sich die Autorin mehr als zuvor von ihrer extremen Idiosynkrasie ab beziehungsweise integriert Reste von dieser in die romanesken Neufassungen von Märchen. 2012 erschien Blaubart und vor kurzem, zwei Jahre nach dem französischsprachigen Original, Happy End respektive Riquet mit dem Schopf.

Zum Inhalt: Énide und Honorat leben in Paris. Beide sind fast 50 Jahre alt, bevor sie nach über 30 Jahren kinderloser Ehe Eltern eines hochbegabten Jungen werden. Sein Intellekt erregt Staunen, sein Aussehen hingegen ruft Entsetzen hervor. Ungefähr zur selben Zeit bringt die 25-jährige Rose, verheiratet mit dem gleichaltrigen Lierre, ein kleines Mädchen namens Trémière zur Welt. Da die beiden für ihr Kind keine Zeit haben, wächst es bei seiner Großmutter Passerose in einem alten Schloss in der Nähe von Fontainebleau auf.

Déodat hat große Schwierigkeiten, sich zu sozialisieren. Doch obwohl ihn seine körperlichen Defizite genauso wie seine außergewöhnliche Geisteskraft dem Gespött seiner Mitschüler aussetzen, hat er bereits ab dem Alter von 15 Jahren wechselnde Liebhaberinnen. Außerdem ist er gezwungen, ein Korsett zu tragen, um zu verhindern, dass sich seine Kyphose zu einem Buckel auswächst. Seine Intelligenz widmet Déodat vor allem dem Studium von Vögeln. Er entwickelt sich zu einem Experten der Ornithologie, sammelt ein immenses Fachwissen an und ist über alle Neuerscheinungen zu seinen Themen bestens informiert. Nach seinem Studium an der Sorbonne publiziert er selbst und ist dabei so erfolgreich, dass er zur Aufzeichnung einer Talkshow in ein Fernsehstudio eingeladen wird.

Parallel zu Déodat wächst die kleine Trémière bei ihrer Großmutter zu einer wunderschönen jungen Frau heran. Schnell zeigt sich jedoch, dass das Mädchen in seiner geistigen Entwicklung zurückgeblieben ist. Während ihrer Kindheit und Jugend sagt Trémière nicht mehr als das absolut Notwendige. Nur als ihre Großmutter sie in die Geheimnisse ihrer Juwelen einweiht, gibt sie ihrer Bewunderung lautstark Ausdruck. Nachdem Trémière ihre Schulzeit abgeschlossen hat, entdeckt man sie als neues Gesicht einer Schmuckwerbung. Wegen ihres Erfolgs wird sie zur selben Fernseh-Talkshow wie Déodat eingeladen. Während der Wartezeit in der Garderobe lernen sich Déodat und Trémière kennen. Sie flüchten, bevor sie ins Studio gebeten werden, und leben fortan glücklich zusammen.

Nothomb erzählt die Geschichten von Déodat und Trémière alternierend und in der traditionell auktorialen Perspektive des Märchens. Sie reichert ihren Text sowohl mit spröden Sentenzen als auch mit auflockernden Dialogen an. So gelingt es ihr, die von Perrault intendierte Kernaussage der gelungenen Verschmelzung der Gegensätze in das 21. Jahrhundert hinein zu transponieren, diese aber à la Nothomb zu akzentuieren und zu erweitern. Bereits Perraults Riquet mit dem Schopf folgt einer dialektischen Konzeption. Das Märchen handelt von einer Königin, die einen Sohn gebiert, der so unförmig ist, dass Zweifel an seiner menschlichen Gestalt aufkommen. Seinen Namen erhält er von seinem Haarschopf. Als Kontrapunkt zur Hässlichkeit verleiht ihm die bei seiner Geburt anwesende Fee einen außergewöhnlichen Intellekt und gleichzeitig die Fähigkeit, diesen auf weniger Begabte zu übertragen. Davon profitiert eine besonders hübsche Königstochter mit geringem IQ. Seine Geisteskraft ergreift sie, und ihre Schönheit erstreckt sich fortan auch ohne Feenzauber auf ihn. Perraults Lob auf die Macht der Liebe in einer seiner beiden „moralités“ am Ende des Märchens liefert dafür eine Erklärung, die Nothomb in einem epilogischen Exkurs im letzten Kapitel ihres Romans übernimmt.

Während in Perraults Vorlage nur Riquet bei seinem Namen genannt wird, gefällt sich Nothomb in gewohnter Weise darin, die Namen ihrer Protagonisten konnotativ zu gestalten. Mit Enide, der treuen Ehefrau, mit Honorat, dem Ehrwürdigen, und Déodat, dem Geschenk Gottes, erhält der Roman eine transzendentale Dimension, die sich mit Déodats Geisteskraft und vor allem mit seinem Blick in die Lüfte zwecks ornithologischer Beobachtungen konkretisiert. Im Gegensatz dazu sind die Namen der zweiten Familie dem semantischen Bereich der Flora entnommen, dem Boden zugeordnet, doch anspielend auf das Wachsen in die Höhe hinein. Nicht in diese Oppositionslandschaft passen die Namen von Déodats Geliebten, die ausnahmslos mit „S“ beginnen und mit „a“ enden. Zwar bergen sie die Erinnerung an Déodats Jugendliebe Samantha, doch mit „Séraphita“, „Soraya“, „Sultana“, „Silvana“ und „Saskia“, die sich in unterschiedliche Richtungen hinein interpretieren ließen, lebt Nothomb in erster Linie ihre Leidenschaft für exzentrische Signifikanten aus.

Déodat ist von Kontakten zu Frauen besessen. Mangelnde Selbststeuerungsfähigkeit und geringe Impulskontrolle bedingen, dass er bereits sehr früh sexuelle Abenteuer sucht, sich dabei aber nicht verliebt. Seine Beziehungen zu Frauen bleiben oberflächlich, weil er sich nicht auf sein Gegenüber einlassen kann, sondern lieber seiner wissenschaftlichen Leidenschaft frönt. Immer wieder wird er verlassen und tröstet sich mit dem Gedanken, dass er eines Tages wirklich lieben und das Objekt seiner Liebe retten werde. Mit seinem eingeschränkten Interesse an Menschen entpuppt sich Déodat als typisch Nothombscher Protagonist, ein exzentrischer Außenseiter wie Prétextat Tach aus Hygiène de l’assassin oder Don Elemirio Nibal y Milcar aus Blaubart. Im Gegensatz zu diesen setzt er keine kriminelle Energie frei, sondern widmet seine Intelligenz recht idealistisch der Queste nach der wahren Liebe und in letzter Konsequenz dem Ausgleich von Gegensätzen.

Amélie Nothomb behandelt den Titel Riquet à la houppe im Verlauf ihres Romans eher stiefmütterlich – als ornithologische Reminiszenz beziehungsweise als Scherzname des Protagonisten, in einer knappen Bemerkung zu Perraults Märchen und immerhin als Verweis auf eine Kinderbuchausgabe, die Trémière ersteht und auf deren Grundlage sie sich mit Perraults Protagonistin identifiziert. Aber selbst dann, wenn der Name „Riquet mit dem Schopf“ an keiner Stelle Erwähnung finden würde: Wer kommt auf die absolut hanebüchene Idee, die deutsche Ausgabe mit dem nichtssagenden Etikett Happy End zu versehen? Amazon listet mehr als 3.000 Buchpublikationen, in denen der Begriff „Happy End“ vorkommt und von denen manche nur diesen einen Titel führen. Sicher, ein Happy End ist nicht zu leugnen, doch mehr als um dieses geht es um die Kompatibilität des Gegensätzlichen, um die Kraft der Liebe, die Oppositionen überwindet. Der nichtssagende Titel Happy End kann nicht mehr als eine Marketingstrategie des Verlags sein.

Dass Perraults Märchentext an das Ende der deutschen Ausgabe gestellt wurde (es ist nicht in der französischen vorhanden), ist an sich begrüßenswert. Warum jedoch Riquet à la houppe nicht, so wie meistens der Fall und sehr viel näher am Original, mit „Riquet mit dem Schopf“ übersetzt beziehungsweise eine Übersetzung des Märchens mit diesem Titel gewählt wurde, bleibt rätselhaft. „La houppe“ ist keine Locke, sondern ein Schopf, ein Haarbüschel also, mit dem andere Bilder assoziiert werden als mit einer Locke. All das mag sich beckmesserisch anhören, doch es ist mehr als das. Es geht um Werktreue und ein bisschen auch darum, dass sich „Schopf“ auf „Wiedehopf“ reimt, so dass man die im Französischen bestehende phonologische Nähe von „la houppe“ und „la huppe“ im deutschen Text bewahrt hätte. Immerhin hat Déodat zum Thema Wiedehopf promoviert und sein französischer Spitzname lautet „Riquet à la huppe“, der durchaus als Wortspiel („Riquet mit dem Hopf“) ins Deutsche hätte importiert werden können. Abgesehen davon ist der deutsche Text sehr gut gelungen, nahezu genauso flüssig lesbar wie das Original. Lediglich der Begriff „Abitur ohne Auszeichnung“ für „baccalauréat sans mention“ wirkt irritierend. Hier hätte man vielleicht auf eine Hilfskonstruktion wie etwa „Abitur mit geringem Erfolg“ oder ähnliches rekurrieren können.

Bei Riquet mit dem Schopf beziehungsweise Happy End sollte man nicht auf die Idee kommen, Gendertheorien zur Interpretation heranzuziehen. Allenfalls könnte man schauen, ob Nothomb in ihrem Text zu den dort insinuierten Gender-Aspekten eine ironische Haltung einnimmt. Im Blick zu behalten ist, dass sich auch im zweiten „Märchenroman“, ähnlich wie in Blaubart, so etwas wie „Nothomb at her best“ entwickelt. Die inzwischen 51-Jährige erweist sich als gereifte Schriftstellerin, die sich gleichermaßen ernsthaft und humorvoll mit Texten auseinandersetzt, die sie als Kind kennengelernt hat und die im kulturellen Gedächtnis vieler französischer Muttersprachler fest verankert sind. Von formalen Experimenten nimmt Nothomb genauso Abstand wie davon, ihre Vorlage weitestgehend zu kopieren. Vielmehr findet sie einen adäquaten Weg zwischen exzessiver Neukreation und platter Adaption, an dessen Ende der zeitlose ethisch-moralische Kern des Märchens aufleuchtet.

Titelbild

Amelie Nothomb: Happy End. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Brigitte Große.
Diogenes Verlag, Zürich 2018.
187 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783257070422

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