Eine Gesamtschau auf einen „auteur scientifique“: umfassend, detailreich, angenehm lesbar

Über Ralf Junkerjürgens Buch „Jules Verne“

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer vor 40 Jahren oder früher Romanistik studiert hat, erfuhr nichts über Jules Verne (1828–1905); er galt als Jugendbuch-Autor und Anreger für Hollywood-Filme. Erst ab etwa 1980 wendet sich die Literaturwissenschaft ihm zu. Man erkannte ihn als den Vertreter eines szientistisch orientierten Realismus an, der Verleger Michel Minard begann die Serie der hochkarätigen Jules-Verne-Forschungsbände, und der Frankfurter Romanist Friedrich Wolfzettel veröffentlichte seine Studie über die Abenteuer-Facetten bei Jules Verne. 2012 erschien eine vierbändige Werkauswahl in der Reihe ‚La Pléiade‘, was die akademische Weihe Vernes bedeutete. Schon früher hatten sich der Deutsche Arno Schmidt und der Franzose J.-M. G. Le Clézio zu ihm als ihrem Vorbild bekannt. Die unermüdlichen Verne-Fans, an der Spitze Piero Gondolo della Riva, entdeckten 1986 das verschollen geglaubte Manuskript Paris im 20. Jahrhundert (Paris au XXe siècle, 1994 gedruckt). Die Verne-Forschung blüht inzwischen, die Sekundärliteratur ist kaum noch zu überblicken. Da hofft der Interessierte, von der neuen Publikation Jules Verne des Regensburger Romanisten Ralf Junkerjürgen den grundsätzlichen Stand der Forschung und darüber hinaus bedeutsame Feinheiten und Anregungen zu erfahren. Und um es gleich zu sagen, man wird bestens bedient!

Das Werk von Junkerjürgen besteht aus drei Kapiteln, die in mehrere Abschnitte unterteilt sind. Das erste Kapitel beschreibt Vernes Jugend in Nantes, sein Jura-Studium in Paris und seine literarischen Anfänge dort als Dramatiker. Das zweite Kapitel, der Hauptteil des Buches, behandelt seine Erfolgsjahre in Amiens als Autor der Außergewöhnlichen Reisen (Voyages Extraordinaires; so der Reihentitel der Romane), wobei Fünf Wochen im Ballon und Reise zum Mittelpunkt der Erde den Durchbruch brachten. Die Höhepunkte waren dann Reise um den Mond, 20 000 Meilen unter den Meeren und In 80 Tagen um die Welt. Junkerjürgen trägt anschaulich die Lebensfakten und ebenso die Feinheiten der jeweils entstehenden Werke vor. Wichtig war für Verne das freundschaftliche Verhältnis zu dem erfahrenen Verleger Pierre-Jules Hetzel. Von diesem stammen der erwähnte Reihentitel und viele Ratschläge (auch der, Paris im 20. Jahrhundert nicht zu veröffentlichen, was schließlich zu dem Manuskriptfund von 1986 führte). Von Hetzel stammt auch die Kennzeichnung Vernes als eines Schriftstellers, der „die Kenntnisse, welche die moderne Wissenschaft angehäuft hat, zusammenzufassen“ anstrebt und dabei gegenüber dem Leser das horazische Prinzip des „Nützens und Erfreuens“ mustergültig umsetzt. Frühe Rezensionen nennen Verne einen „auteur scientifique“.

Junkerjürgen übernimmt diese Kennzeichnungen und stellt aus literarhistorischer Sicht fest: Verne bildet ein bedeutsames Gegengewicht zur literarischen Strömung des l’art pour l’art im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts. Er betont, Verne habe einen „neuartigen Heldentypus“ geschaffen. Dieser ist ein Naturwissenschaftler mit fulminantem Spezialwissen, zugleich aber ein Praktiker, der den Alltag souverän meistert, über eine große Sozialkompetenz und ein Arbeitsethos verfügt. Dieser Heldentyp in verschiedenen Nuancierungen prägt Vernes Romane, etwa auch Die geheimnisvolle Insel. Junkerjürgens Interpretation dieses Werks ist ein Höhepunkt seines Buches. Wie in dieser Gruppen-Robinsonade der Anführer Cyrus Smith sein Wissen einsetzt, damit die Gestrandeten Ziegelsteine, Metall, ja Nitroglycerin herstellen und sogar Schiffe bauen – zusätzlich „wird die Insel geo-, hydro- und orografisch erschlossen“ –, ist ein faszinierendes Geschehen. „Arbeit erscheint nicht als Produkt oder Wirtschaftsfaktor, sondern als kreative Aneignung der Welt.“ Es ist „die Anwendung des gesammelten Wissens“ in Verbindung mit diesem „idealisierten Arbeitsbegriff“, was „die Insel zugleich in ein großes pädagogisches Projekt verwandelt“.

Junkerjürgen stellt auch klar, dass Verne kein Vertreter der Science-Fiction ist. Verne verwende die Erfindungen seiner Zeit und führe sie fantasievoll weiter (so dass bei ihm eine Art Kanonenkugel den Mond erreicht), ohne sich prinzipiell neue Erfindungen auszudenken. Vernes Apparate haben für uns im Zeitalter der Digitalisierung „etwas rührend Mechanisches“, der Reiz Vernes ist heute oft von nostalgischer Art. Die „unwirklichen“ Momente in Vernes Erzählen stehen in der Fantastik-Tradition von Edgar Allan Poe (über den Verne einen Essay publiziert hat) und E. T. A. Hoffmann. Einige Werke Vernes sind sogar reine Abenteuerromane: Zwei Jahre Ferien, Der Kurier des Zaren und Mathias Sandorf. Junkerjürgen nennt auch die Nähe Vernes zu weiteren Schriftstellern wie James F. Cooper und Émile Zola. Wenn er aber Vernes Streben mehrfach in die Nähe von Albert Camus’ glücklichem Sisyphos rückt, so ist dies eine kleine Koketterie.

Das dritte Kapitel beschreibt zum einen Vernes letzte Lebensjahre und dabei seine Mühen mit dem rebellierenden Sohn Michel, der immerhin später, nach Vernes Tod, einige Werke zu Ende geschrieben hat. Zum andern bietet Junkerjürgen hier eine psychologisch-soziale Charakteristik, wobei er auf das Thema Arbeit zurückkommt: Verne sei ein zutiefst bürgerlicher Schriftsteller; seine „irrationale wilde Lust am Schaffen“ wird begleitet von der gewissenhaften Lektüre naturwissenschaftlicher Bücher und entsprechender aktueller Nachrichten in Periodika. Durch dieses Studium wird die Schaffenslust unterstützt und zugleich gebändigt und virtuos kanalisiert. Vernes Lebenswerk sei ein „Monument der bürgerlichen Arbeit“.

Darüber hinaus bespricht Junkerjürgen im Laufe seiner Gesamtschau, dass die Verne’schen Helden aus verschiedenen Ländern stammen und dass Verne dabei mit Nationalklischees spielerisch und leicht ironisierend umgeht und keine Nation, auch nicht die eigene, heroisiert. Allerdings gibt es die Opposition der Zivilisierte/der Wilde bei Verne mit Vorurteilen gegenüber dem „wilden Mann“. Verne lässt einen tapfer-edlen Elsässer auftreten (in Die 500 Millionen der Begum), der nach 1871 zwischen Frankreich und Deutschland vermittelt. Ähnlich verantwortungsvoll ist sein Kapitän Nemo (20 000 Meilen unter den Meeren), ihm ist die Endlichkeit der terrestrischen Ressourcen bewusst. Der üblichen Ansicht, Verne sei im Laufe seines Schaffens immer skeptischer hinsichtlich des Wertes der Wissenschaft geworden, widerspricht Junkerjürgen; eine gewisse derartige Skepsis finde sich von Anfang an.

So detailliert der Autor auch auf den Menschen Verne und seine Texte eingeht, er hat doch den gesamten Verne-Kosmos vor Augen. Er stellt auch die Buchausstattungen, die Illustrationen und die Verfilmungen vor. Wenn man Verne prägnant psychoanalytisch deuten will, muss man wie Junkerjürgen vorgehen – nämlich die alten Zeichnungen von Édouard Riou heranziehen, jene vom Mittelpunkt der Erde mit den vaginal geformten Höhlen. „Der Text selbst“, sagt Junkerjürgen, „mag in dieser Hinsicht weniger suggestiv sein, die ihn ergänzenden Bilder sind es hingegen allemal.“

Junkerjürgen ist ein großer Kenner der Kultur des 19. Jahrhunderts. Das Buch, das auch Register und bibliografische Verzeichnisse enthält, ist eine sehr reichhaltige Gesamtschau auf Jules Verne mit originellen Beobachtungen und klugen Argumentationen.

Titelbild

Ralf Junkerjürgen: Jules Verne.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2018.
261 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783806237467

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