Von der Verführung

Julia Vomhof identifiziert ein zentrales Dispositiv von Lyrik und arbeitet fleißig weiter an dessen Mystifizierung

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn einer Metapher viel Raum zugesprochen wird, dann wird man sie gelegentlich nicht mehr los. Ähnlich geht es Julia Vomhof in ihrer Abhandlung zur Verführung, die sie als ästhetisches Dispositiv von Lyrik nachzuweisen probiert: Lyrik versuche ihre Leserinnen und Leser in ein ungesichertes und ungeklärtes Terrain zu locken, in der Sprache nicht mehr der Kommunikation, sondern vor allem der Verunsicherung des Subjekts diene: „Andeutung statt Ausdeutung, Annäherung statt Berührung, der Modus des Möglichen statt des Tatsächlichen. Ambiguität statt Eindeutigkeit“ und schließlich „Metapher statt Literalität“ (was ein wenig verblüffen sollte). Die teils erratische Sprache der Lyrik wird in Vomhofs Studie nicht als das Resultat von hochkomplexen oder extrem subjektivierten Schreibweisen verstanden. Sie verweise stattdessen auf einen ontologischen Zustand, der von der Alltagsexistenz radikal unterschieden sei: „Lyrik ist eine eigenständige Existenzweise“, beginnt sie ihre Zusammenfassung, einigermaßen kryptisch, damit all jene zurechtweisend, für die Lyrik nur eine literarische Gattung ist.

Die Differenz von Lyrik zu anderen literarischen Schreibweisen macht Vomhof schließlich an einer poetischen Differenz fest, die – analog zur ontologischen Differenz der Kunst (Kunst ist das, was als Kunst angesehen wird, am besten, indem man einen Bilderrahmen oder sogar ein Museum drumherum baut) – an deren Materialität, mithin an ihrer Gestaltung auf der Textfläche gebunden ist. Salopp gesagt, handelt es sich bei einem Text um ein Gedicht, wenn es rechts viel Weißraum gibt. Das entspricht in etwa Dieter Burdorfs radikal heruntergebrochenen Lyrikdefinition, der allerdings neben dem Weißraum noch die Existenz von mindestens zwei Versen konzedierte, und sich ansonsten gehalten sah zu formulieren, dass Lyrik die literarische Gattung sei, die alle Gedichte umfasse.

Dass Lyrik nicht nur Verführung zum Thema haben kann, sondern Techniken der Verführung einsetzt, um Leserinnen und Leser an sich zu binden, ist wohl eine banale Feststellung. Allerdings ist Verführung nur eine mögliche kommunikative, wenn nicht gar rhetorische Strategie in der literarischen Rede. Den Verfasserinnen und Verfassern von Lyrik stehen zahlreiche Möglichkeiten zur Verfügung, einen Text zu beginnen, aber nicht alle sind homolog zur libidinösen Verführungskonstellation – es sei denn Verführung wird als allgemeines Grundmuster angenommen. Das wäre aber irritierend, da Verführung damit als Grundmuster jeglicher Interaktion gesetzt werden müsste, mit allen Problemen, die damit verbunden sind: etwa mit dem Gefälle zwischen Verführer und Verführtem und der geringen Bedeutung, die Pragmatik oder Rationalität in solchen Konstellationen zukommt. Aber das scheint Vomhof nicht zu interessieren. Die Machtdifferenz, die dem Verführungsmuster hinterlegt ist – Casanova als der paradigmatische Verführer ist sich seines Status durchaus bewusst –, nivelliert Vomhof, indem sie das Dispositiv „Verführung“ durch Sprache mehr oder weniger auflöst. Der Verführer wird in der Verführungssituation selbst wieder überwältigt, der Verführte hingegen weiß sich aus der Überwältigung zu lösen. Was analog zu der Annahme wäre, dass sich Verführte in der Verführung als die Stärkeren erweisen. Das aber zöge, konsequent zu Ende gedacht, den Untergang aller Postulate nach sich, die die Freiheit des Einzelnen bis hin zu dem Recht fordern, sich einer solchen Situation entziehen zu können – auch eines Lesers von Lyrik, der sich einfach nicht verführen lassen will.

Dennoch postuliert Vomhof, dass „Schreiben“ unter bestimmten Bedingungen „eine ständig sich aktualisierende Verführung“ sei, „insofern ihr ein nie gestilltes Verlangen“ zuzuschreiben sei. Der Verführer, das Gedicht, wird also nicht ablassen, so sehr man ihn auch zu disziplinieren sucht – es legitimiert sich damit außerdem, lästig werden zu können, wie es ihm beliebt. Freilich erhält es darüber tagtäglich Bescheid, indem Lyrik links liegen gelassen wird. Arme Verführer.

Keine Frage, dass Vomhof von ihrer intuitiven Lektüre, die am Beginn der Studie steht, überwältigt und – kaum verhohlen – begeistert ist. Diese Haltung behält sie in der gesamten Studie bei, was nicht dazu führt, dass sie ihr Paradigma zu prüfen versucht, sondern den gesamten Aufwand darin investiert, das Verführungsmuster zu bestätigen. Die gesamte Argumentationskette, die sie auf diese Weise aufbaut, beruht zudem aus Assoziationen, Analogien und Setzungen – also vergleichsweise schwachen Argumenten. Das aber ist im Rahmen dieser Arbeit konsequent, geht es der Autorin doch offensichtlich nicht darum, Lyrik als literarische Sprechweise zu rationalisieren, die im mehr oder weniger direkten Bezug zur Lebenspraxis steht, sondern ihr einen Freiraum zu öffnen, in dem sie sich davon mehr und mehr lösen kann. Das ist insofern sympathisch, als Vomhof sich dem Impuls verweigert, besondere pragmatische Leistungen von Lyrik (etwa Bildung von Sprachsensibilität oder Öffnung kreativer Sprach- und Handlungspotentiale) zu behaupten. Sie reklamiert stattdessen sehr elaboriert und selbstbewusst eine selbstbestimmte Fassung lyrischen Sprechens, die ihr Profil durch die Analogiebildung mit der Verführung erhält. Das ist problematisch, ungesichert und wird durch den Elan, mit dem es vorgetragen wird, nicht plausibler. Aber darauf kommt es gegebenenfalls auch nicht an.

Titelbild

Julia Vomhof: Verführung. Ein ästhetisches Dispositiv von Lyrik.
Transcript Verlag, Bielefeld 2017.
359 Seiten, 39,99 EUR.
ISBN-13: 9783837638875

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