Auf heißer Spur

Thomas Hüetlin schildert das „Ding“ von Udo Lindenberg

Von Erhard JöstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erhard Jöst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man sieht die Karikatur eines Mannes mit Hut und Sonnenbrille und weiß sofort, wer gemeint ist. Wenn der Typ in der einen Hand ein Mikrofon und in der anderen eine Zigarre hält, dann ist die Sache sowieso eindeutig: Das kann nur Udo Lindenberg sein! Ein Rock-Star, dem es gelungen ist, sich selbst zur Kunstfigur zu stilisieren, sowohl auf der Bühne als auch im richtigen Leben. Auf dem Umschlagbild von Udos „definitiver Biografie“, die der Journalist Thomas Hüetlin geschrieben hat, findet sich ein Foto von Tine Acke, auf dem der Rocker die Sonnenbrille ausnahmsweise einmal auf die Nasenspitze geschoben hat. Mit einem verschmitzten Lächeln schaut er seinem Betrachter in die Augen und scheint ihn aufzufordern: Na, nun lies mal, was ich alles erlebt habe. Informiere dich darüber, wie man ein Star wird: „Thomas Hüetlin hat mein Leben aufgeschrieben wie einen langen Song von mir. Meine definitive Biografie. Mein Ding.“

Bereits in der Biografie El Panico, die vor genau 30 Jahren im Goldmann Verlag erschienen ist, stellte sich der Rockstar als „Triebtäter“ mit den Worten vor: „Ich bin von Beruf Udo Lindenberg. Meinen Job gibt es nur ein einziges Mal auf der Welt“. Seither betont er: „Einer muss den Job ja machen“, auch beziehungsweise gerade „in schweren Zeiten“ (Songtitel auf der CD Stärker als die Zeit, 2016). Es ist in der Tat ein Wunder, dass und wie er diesen Job gemacht und alle Rückschläge weggesteckt und überlebt hat. Denn Udos Leben bewegt sich stets in extremen Zonen, ruhiges Mittelmaß gibt es nicht. Siege und Niederlagen, Triumphe und Abstürze wechseln sich ab. „Udo: das Versprechen, dass es ein Leben gibt, anders, spannend, intensiv, trotzdem lässig. Alles klar und trotzdem immer auf heißer Spur.“

Für Udo steht früh fest, dass er dem Kleinstadtmief entfliehen und ein „Trommelstar“ werden muss. Und so macht er sich bereits mit 16 Jahren auf den Weg, jobt als Hotelboy in Düsseldorf und sammelt Erfahrung als Drummer mit verschiedenen Bands in München und Hamburg und in einem Militärcamp der US-Airforce in Tripolis. Onkel Pös Carnegie Hall wird zu seinem Auftritts-Stammlokal, in dem er sich Anregungen für seine Songs holt. Skurrile Typen von Rudi Ratlos bis Votan Wahnwitz werden in den Texten verewigt.

Udos Biografie ist „ein rasanter Ritt durch sieben Jahrzehnte“ vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland. Hüetlin hat in der Tat ein „einzigartiges Dokument der Zeitgeschichte“ vorgelegt, basierend auf Udos Erinnerungen und den Auskünften, die Wegbegleiter des Künstlers und Mitglieder des „Panikorchesters“ gegeben haben. Die Lebensfahrt startet in Gronau, wo Udo aufgewachsen ist, und findet in dem Buch ihr vorläufiges Ende in dem Kapitel „Forever 28er“. Udos Jugend fällt in eine Nachkriegs-Zeit, in der Deutschland unter einer Käseglocke liegt und Sex „ein großes, dunkles Geheimnis“ ist: „Aufklärung gab es nicht, nur finsteres Geraune und Gerüchte.“ Seine Eltern Hermine und Gustav sind typische Vertreter ihrer Generation, deren Schicksal von der NS-Diktatur und dem Zweiten Weltkrieg geprägt war: Der Vater Gustav war „eine gekränkte Seele. Eine Künstlernatur, die sich als Entertainer in der (Stammkneipe mit dem Namen) Quelle und mit volltrunkenen, bizarren Auftritten zu Hause hervortat […] Aber wenn der Treibstoff Alkohol sich verflüchtigte und die Eintönigkeit des Alltags nach ihm griff, verfiel Gustav meist in die Rolle des Haustyrannen und des pedantischen Spießers.“ Mutter Hermine „fing den Wahnsinn des Vaters auf“ und hielt den von den Lindenbergs betriebenen Installationsgroßhandel und die Familie zusammen. Als Udo zum Rockstar aufgestiegen war, widmete er den beiden jeweils eine Langspielplatte.

„Ihr seid kein Erich“, bekamen Udo und seine Zwillingsschwestern Erika und Inge während ihrer Schulzeit von ihren Lehrern immer wieder zu hören, denn ihr Bruder Erich war ein vorbildlicher Einser-Musterschüler. Obwohl oder gerade weil der egomanische Selbstdarsteller Udo und der zurückhaltende Erich so unterschiedliche Charaktere waren, verband sie ein Leben lang eine enge Beziehung. Sie endete im September 2006, als der Maler abstrakter Bilder verstarb. Der Schock drückte Udo zu Boden und gab ihm gleichzeitig den Anstoß, über das Lied Stark wie Zwei ins Leben zurückzufinden. In dieser Situation kam er erneut zu der Erkenntnis, dass er den „Suff abstellen“ muss, um „ein großes Ding“ zu machen. Es ist ein Wunder, dass und wie er es immer wieder geschafft hat, sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen, wenn man bedenkt, dass es Rock-Konzerte gab, bei denen er „auf dem Weg zur Bühne gestützt werden“ musste und Probleme hatte, die Texte auf dem Teleprompter zu lesen, oder wenn man sich in Erinnerung ruft, dass er einmal mit 4,7 Promille Alkohol im Blut in die Klinik eingeliefert wurde, dann erscheint das unglaublich. In dem Song Mein Body und ich beschreibt Udo im Jahr 2016 mit viel Selbstironie, was er seinem Körper „schon alles angetan“ hat:

Ich hab geraucht so wie ein Schlot / und gesoffen wie ein Loch / ich hab dich superhart geschunden / doch du lebst immer noch //  Bin ein Feiervogel, der durch das Leben rennt / wie ne Kerze, die von beiden Seiten brennt / ich war für dich kein guter, kein guter Bodyguard / doch was uns nicht killt, das macht uns extra-hart / Ich hab alles eingeschmissen, was mir in die Finger kam / auch die chemischen Keulen törnten sehr gut an / (Ey, du mein armer Körper, wie hast du das bloß hingekriegt / kein Gift und kein Exzess hat dich besiegt).

Häufig brachten Udo seine alkoholischen Zusammenbrüche zu der Erkenntnis: „Trinken ist ein Fulltime-Job, da kommste nebenbei zu nix“, was ihn zu der richtigen Schlussfolgerung führte: „Die großen Dinge gehen nur nüchtern“. Dennoch gab es immer wieder Rückfälle und neue Abstürze, verursacht durch die Lady Whisky. Und es gab immer wieder ein Come-Back. Es ist eine Sensation, dass es Udo im Alter von 70 Jahren mit seinem 34. Album gelingt, auf den Platz 1 der Charts zu klettern. Er besitzt die Fähigkeit, als alterslose Kunstfigur eine Generationen umfassende Fangemeinde in seinen Bann zu schlagen.

Interessant sind die Einblicke hinter die Kulissen, die Hüetlins Buch gewährt, zum Beispiel in die Abläufe bei den CD-Produktionen und Aufnahmen in den Ton-Studios. Lesenswert ist der Bericht darüber, wie die Dröhnland Revue unter der Regie von Peter Zadek zustande kam. Besonders aufschlussreich und amüsant sind auch Udos Begegnungen mit Politikern. Die Foppereien mit dem damaligen DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, den er als „Oberindianer“ tituliert und eine Lederjacke schenkt und im Gegenzug mit einer Schalmei beehrt wird, werden nicht nur wegen des witzigen Songs Sonderzug nach Pankow in Erinnerung bleiben. Immer wieder hat Udo mit seinen Songs aktuelle Themen und Probleme aufgegriffen. Er hat sich oft in die Politik eingemischt, zum Beispiel im Jahr 1980, als er zu den Erstunterzeichnern des Krefelder Appells gegen die Stationierung von Atomraketen gehörte, oder in der Gegenwart, wenn er mitmacht bei der Initiative „Rock gegen Rechts“. Aber auch Vorgänge aus Udos Leben, die eher beiläufig erzählt werden, tragen zu seinem Persönlichkeitsbild bei, beispielsweise dass er als Wehrdienstleistender bei der Bundeswehr als Simulant auftrat, „um vorzeitig als bekloppt entlassen zu werden. Gestört, aber frei und topfit.“

Man könnte gegen das Buch einwenden, dass es zu dick aufträgt. Ein Superlativ jagt den nächsten. Der „Flashkopp“ Udo ist überall und auf allen Gebieten und in allen Belangen der Größte. Ab seinem Start bei „Onkel Pö“ ist er ein „Superprofi und Superkumpel“. Er macht „Supermusik“ und schreibt „Supertexte“. Selbst mit den Bankern nimmt er es auf, als diese sein Geld verzockt, sein Depot leer geräumt und sich „an seiner Verarmung bereichert“ haben und fordert erfolgreich, dass sie ihm „3 Millionen Euro zurück auf (sein) Konto zaubern.“

Andererseits werden auch Udos Zusammenbrüche und fulminanten Niederlagen nicht verschwiegen. Selbst diejenigen, die Udo Lindenberg distanziert gegenüberstehen, müssen zugeben, dass er die deutsche Rockmusik mit aufgebaut und nachhaltig geprägt hat. Er ist in der Tat ein Gipfelstürmer mit einer bewundernswerten Kreativität. Als Maler und Karikaturist hat er sich ebenfalls einen Namen gemacht (auch die Illustrationen zu dem „Udo-Buch“ stammen aus seiner Hand). Hüetlin bezeichnet ihn zu Recht als „die große epische Figur des deutschen Pop“, die „half, eine Gegenkultur zu formen, die das Land bis heute geprägt und verändert hat, zum Besseren.“ Wenn man sich an die Zeit erinnert, als die ZDF-Hitparade und die gesamte Unterhaltungsbranche von dem „streng konservativen Egomanen namens Dieter Thomas Heck“ beherrscht wurde, dann kann man Udos Verdienste tatsächlich nur in den höchsten Tönen preisen. Es war in der Tat ein hartes Stück Arbeit, den „Kitsch der Schlagerdeppen“ zu bekämpfen und in Deutschland die deutschsprachige Rockmusik zu etablieren.

Hüetlin erzählt Udos Erlebnisse, indem er dessen Ausdrucksweise imitiert. Bei der Betrachtung von Udos Liedtexten gerät der Autor geradezu ins Schwärmen:

Mit seinen Texten über Seefahrer und Astronauten, die Sehnsucht nach Freiheit, Aufbruch und Abenteuer, über die fahrenden Leute beim Zirkus und auf den Jahrmärkten, über die Narren, die Unangepassten, die Schrägen und Gescheiterten steht Udo Lindenberg nicht zuletzt ganz in der Tradition der deutschen Romantik eines Joseph von Eichendorf oder E.T.A. Hoffmann und gibt ihr einen neuen, zeitgenössischen Sound. Auch er führt den alten Kampf gegen die Entzauberung der Welt, gegen die Eintönigkeit des Arbeitstrotts, die Langeweile des Spießerlebens und des Nützlichkeitsdenkens. Und auch er stellt dagegen eine Welt der Fantasie, der Märchen und der Magie – so wie Hermann Hesse, der Dichter, den Udo verehrt. Und wie in der Romantik steht der Zauber der Musik über allen anderen Formen der Kunst, sei es in Form von Volksliedern, die die Romantiker gesammelt haben, oder in der Form des romantischen Kunstlieds von Franz Schubert oder Robert Schumann.

Da hat der Autor mit seiner Lobeshymne und den Vergleichen dick aufgetragen, denn unterzieht man Udos Texte einer kritischen Analyse, kommt man zu dem Ergebnis, dass sie sicherlich keinen Literatur-Preis abräumen werden. Doch wenn man sich auf sie einlässt, gehen sie zuweilen doch „ganz tief rein“. Die griffig-cool formulierten Zeilen kommen an und prägen sich ein.

Udo hat unverkennbar einen eigenen Stil gefunden – und man muss bedenken, dass seine Texte ihre Spreng- und Wirkungskraft erst im Zusammenhang mit der Musik entfalten. Jedenfalls müssen selbst diejenigen, die sich nicht zu Udos Fans zählen, zugeben: Er ist eine lebende Legende. Er gehört wie die Rolling Stones zu den 28ern. Das sind diejenigen, die bis ins Alter die Jeansgröße 28 tragen und mit flachem Bauch bei voller Lautstärke auf der Bühne stehen.

Die Biografie regt dazu an, dass man sich Udos Songs (wieder einmal) anhört. Und sie beweist, dass Udo sein Ding gemacht und (Rock-)Geschichte geschrieben hat. Die Lektüre des Buchs kann allen empfohlen werden – na ja, vielleicht sollte man engagierte Feministinnen ausnehmen, weil Udos Frauenbild und die Berichte von den orgiastischen Partys mit hemmungslosen Groupies sie zu sehr in Rage bringen könnten. Aber ganz gleich, durch welche (Sonnen-)Brille man sich Udos Biografie anschaut, das Ergebnis steht fest: Man muss vor seiner Lebensleistung den Hut ziehen.

Titelbild

Thomas Hüetlin: Udo. Udo Lindenberg mit Thomas Hüetlin.
Mit Illustrationen von Udo Lindenberg.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018.
349 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783462050776

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