Eine Leiche im Kofferraum und die Hoffnung auf Glück

In „Ein unvergänglicher Sommer“ erzählt Isabel Allende von der Verbindung dreier Schicksale

Von Claudia BambergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Bamberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was passiert, wenn drei Menschen unterschiedlicher Herkunft, mit unterschiedlichen Schicksalen, bislang gar nicht oder nur oberflächlich miteinander bekannt, durch Zufall in eine Situation geraten, die sie für immer aneinander bindet? In eine Situation, die alle drei unschuldig in eine Kriminalgeschichte verwickelt, sodass sie gezwungen sind, zum Kern ihrer Existenz vorzudringen und ihr Leben grundlegend zu verändern? In ihrem neuen Roman Ein unvergänglicher Sommer erzählt Isabel Allende von drei Menschen, denen das Schicksal gleich mehrere tiefe Wunden zugefügt hat, die aber schließlich dennoch nicht in Resignation, Verzweiflung oder Depression enden. Die Autorin hat die Charaktere Lucía, Richard und Evelyn – eine chilenische Journalistin, einen amerikanischen Universitätsprofessor, beide über 60, und ein junges guatemaltekisches Hausmädchen – in den Mittelpunkt gestellt, um deren Biografien im Verlauf des Romans zu entrollen. Dabei zeigt sich schnell, dass es trotz unterschiedlicher Herkunft viele Schnittpunkte gibt: Schwere Traumata, Verlust, Schmerz, Krankheit und körperliche Versehrtheit sowie Flucht haben alle drei Lebenswege entscheidend geprägt.

Zunächst aber geht es darum, eine Leiche, die sich im Kofferraum des Autos von Evelyns Arbeitgeber befindet, verschwinden zu lassen. An einem stürmischen Winterabend in Brooklyn hat Evelyn unerlaubterweise – und zunächst ohne das Wissen um seine mörderische Fracht – das Auto ihres Dienstherrn Frank Leroy genommen, um für dessen kranken Sohn Windeln zu kaufen. Im Schneetreiben fährt Richard, der gerade eine seiner Katzen in die Tierklinik gefahren hat und kurz unaufmerksam ist, auf den von Evelyn gesteuerten Wagen auf, sodass der Kofferraumdeckel beschädigt wird. Da das Auto nun kaputt ist und eine Leiche birgt, ist es für Evelyn, die sich ohne Papiere im Land aufhält und zudem Angst vor ihrem brutalen Dienstherrn hat, unmöglich, zu den Leroys zurückzukehren. Und da Richard ihr seine Visitenkarte gegeben hat, klingelt sie kurz nach dem Unfall völlig aufgelöst an seiner Wohnungstür, und Richard, von dem verängstigten Mädchen überfordert, holt Lucía, seine Kollegin und Wohnungsnachbarin, zu Hilfe, um die Situation schnell und unkompliziert zu regeln. Als die beiden von der Leiche im Kofferraum erfahren, gilt es jedoch, einen Plan zu schmieden, der die drei unbehelligt und die Leiche auf möglichst unauffällige Weise verschwinden lässt. Während Richard zunächst in Panik gerät und am liebsten sofort zur Polizei gehen möchte, um den Fall ordnungsgemäß und korrekt abzuschließen, kann ihn Lucía überzeugen, die Sache anders zu lösen, um Evelyn nicht in Schwierigkeiten zu bringen.

Der allein lebende Universitätsprofessor Richard lehrt an der New York University und hat sich mit seinen vier Katzen in seiner Souterrain-Wohnung eingeigelt, immer einem strengen Tagesablauf folgend, der ihn über alle Abläufe seines Lebens die totale Kontrolle behalten lassen soll. Zu viel hat er in seinem Leben verkehrt gemacht, zu viel schwere Schuld auf sich geladen – so sein Urteil über sich selbst –, als dass er sich noch irgendeine Freude, irgendeine Unregelmäßigkeit erlauben dürfe. Die gleichfalls alleinstehende Lucía hingegen, die er als Gastdozentin an die Universität geholt hat, ist wagemutig, spontan und abenteuerfreudig – und zudem interessiert an dem so zurückgezogenen, neurotischen Wohnungsnachbarn, der niemanden an sich heranlassen will. So gelingt es ihr schließlich, ihn zu überzeugen, bei ihrem Plan mitzumachen und die Leiche auf „unkonventionelle“ Weise verschwinden zu lassen. Dabei vermag sie es, Richard aus der Reserve zu locken, sodass dieser langsam Einblicke in sein verbarrikadiertes Inneres und seine Gefühlswelt gibt. Auf der abenteuerlichen Autofahrt in eine einsame Waldgegend im Norden New Yorks, wo sie das Auto der Leroys mitsamt der Leiche in einem See versenken wollen, gelangen alle drei an ihre psychischen und emotionalen Grenzen und dringen schließlich nicht nur zu ihrem eigenen, sondern auch dem Inneren der anderen durch, was ihr Leben von Grund auf verändern wird.

Die Rückblenden in die einzelnen Biografien, die jeweils chronologisch, aber immer abwechselnd erzählt werden, sind das eigentlich Spannende und Interessante an dem Roman. Sie zeigen, wie aus den drei Figuren das geworden ist, was sie jetzt sind, wie sich ihre Handlungsmotive aus ihrer Geschichte erklären lassen und wie sich ihre Schicksale schließlich miteinander verweben können. Schonungslos wird dabei von den Verlusten, von innerer und äußerer Flucht sowie schmerzhaften, ja brutalen Erfahrungen erzählt, die das normale Maß an Enttäuschung weit überschreiten, die sie aber dennoch mit Hoffnung – wenn auch, wie bei Richard, tief vergraben – weiterleben lassen.

Die heimliche Hauptfigur, die alle Empathie der Leser*innen gewinnt und ihr Interesse auf sich zieht, ist letztlich die junge Evelyn. Mit ihr hat die Autorin eine besondere Figur geschaffen, deren Tiefe ihr ohne eine außergewöhnliche psychologischer Einfühlungskraft nicht so glaubhaft gelungen wäre. Durch ihre Eigenart als stummes, unschuldig-verletztes und ewig-kindliches Wesen hebt sich Evelyn von den anderen beiden ab und erscheint dabei als die eigentliche Figur der Hoffnung. Vor allem mit ihr zeigt die Autorin, dass immer – trotz allem – ein Hoffnungsschimmer, eine Chance auf ein unschuldiges Glück überleben kann. Das gelingt mit der Darstellung von Evelyns Schicksal besser als mit der Liebesgeschichte, die sich im Verlauf des Romans zwischen Richard und Lucía entwickelt und der trotz der abenteuerlichen Umstände, in denen sie entsteht, doch etwas eher Konventionelles anhaftet – nicht zuletzt darum, weil auch das Gefühlsleben dieser beiden Figuren über eine gewisse erwartbare Konventionalität nicht hinausgeht.

Mit zwei Brüdern bei der Großmutter in einem armen Dorf in Guatemala aufgewachsen, musste Evelyn früh Gewalt, Todesangst und schweren Verlust erfahren – beide Geschwister hat sie an eine brutale Bande verloren, die auch sie vergewaltigt hat –, nicht zuletzt auf ihrer Flucht nach Nordamerika, wohin sie ihrer nach Chicago ausgewanderten Mutter folgte. Durch die grausamen Erfahrungen traumatisiert, ist sie verstummt – wenn sie spricht, gelingt es ihr meist nur stotternd. Bei den Leroys, ihren Arbeitgebern, die sie trotz fehlender Papiere als Hausmädchen einstellen, freundet sie sich mit dem behinderten Sohn des Ehepaars an, den sie zugleich betreut. Dabei genießt sie das volle Vertrauen seiner alkoholkranken Mutter, die regelmäßig von ihrem Mann misshandelt wird.

Evelyn, die fast etwas Mignonhaftes hat, bleibt bis zum Schluss rein und lebensmutig, sie ist nicht zerbrochen an ihrem harten Schicksal und den gewaltsamen Erfahrungen. Vielmehr gelingt es ihr, sich an jede neue Situation anzupassen, dabei aber nichts von ihrer Authentizität und Reinheit preiszugeben. Vielleicht ist ihre Stummheit der Schlüssel zu ihrem Lebensgeheimnis: Wenn die Sprache verletzt, lügt, betrügt und kompromittiert, steht Evelyns Stummheit vielleicht über den Umstand hinaus, dass es ihr angesichts der erfahrenen Grausamkeiten die Sprache verschlagen hat, für die menschliche Unantastbarkeit, die letztlich auch unsagbar bleibt und der immer „ein unvergänglicher Sommer“, eine nie versiegende Hoffnung und die Möglichkeit zu einem besseren Leben innewohnt. Sie ist damit auch ein Spiegel für Richards Resignation, für sein Schuldigwerden und seinen neurotischen Lebensrückzug.

Allendes Roman ist mit Tempo geschrieben, spannend, eingängig, aber nie seicht, mit einigen überraschenden Wendungen, und – trotz des ernsten Themas – immer unterhaltend. Der Stoff könnte gerade in diesen Tagen aktueller nicht sein: Die Autorin erzählt schnörkellos und mit großer Überzeugungskraft von der brutalen Realität von Flucht und Vertreibung – die immer auch eine politische Realität ist. Da die meisten von Allendes Büchern verfilmt wurden, darf man sich auch auf diesen Kinobesuch freuen.

Titelbild

Isabel Allende: Ein unvergänglicher Sommer. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Svenja Becker.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
350 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428306

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