Briefe und Fragen

Monika Marons "Pawels Briefe"

Von Eike BrunhöberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eike Brunhöber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Zeigt niemals dem Kinde, daß es Haß, Neid und Rache gibt. Sie soll ein wertvoller Mensch werden." So schrieb Pawel Iglarz in einem seiner letzten Briefe im Juli 1942 aus dem Ghetto Belchatow in Polen an seine Tochter Hella nach Berlin. Gerne hätte er seine damals einjährige Enkeltochter Monika Iglarz, spätere Maron, kennengelernt. Doch im August 1942 wurde er ermordet, ob in den Belchatower Wäldern erschossen oder im Vernichtungslager Kulmhof vergast, blieb ungeklärt.

Wie kann ein Mensch einen solchen Satz schreiben, wenn er in die menschenunwürdigen Verhältnisse des Ghettos eingesperrt ist und das Nahen des eigenen Todes von Tag zu Tag immer mehr zur Gewißheit wird? Wenn er drei Monate zuvor von seiner Familie und der schwerkranken Frau getrennt wird und von ihrem Sterben machtlos in der Ferne erfährt? Derartige Fragen sind es, die Monika Maron bei der Durchsicht der letzten Briefe und Dokumente ihres Großvaters beschäftigen und sie veranlassen, eine Familiengeschichte zu verfassen, die das Leben dreier Generationen in Zeiten der Weltwirtschaftskrise, des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkrieges, der Gründung der DDR, des Mauerbaus und -falls und des Beginns einer neuen "Berliner Republik" beschreibt und reflektiert.

Als Zeitzeugnisse und Quellen dienen ihr alte Briefe, Dokumente und Fotos sowie die Erzählungen ihrer Mutter Hella. Mit Mutter und Sohn besucht sie Herkunfts- und Wohnorte der Iglarzschen Familie sowie das Gelände des damaligen Belchatower Ghettos. So erzählt sie die Geschichte des Schneiders Pawel Iglarz, der mit seiner Frau Josefa 1907 von Lodz nach Berlin übersiedelt, um in der Großstadt sein Glück zu suchen. Erster Weltkrieg und die Wirtschaftskrisen der instabilen Weimarer Republik verhindern auf Dauer den Aufbau einer gesicherten Existenz: die drei Kinder Paul, Marta und Hella wachsen im Berliner Arbeiterviertel Neukölln in Armut auf. Trotzdem vermittelt der einfühlsame Pawel ihnen ein positives Lebensgefühl. Pawel tritt in die Kommunistische Partei ein und für Tochter Hella wird das kommunistische Neuköllner Milieu identitätsprägend. 1939 wird Pawel wegen seiner polnisch-jüdischen Abstammung vertrieben. Seine Frau Josefa geht, obwohl sie nach den Nürnberger Gesetzen "arischer" Abstammung ist, mit ihm nach Polen. Der Aufbau einer bescheidenen Existenz der Eltern in Pawels Heimatort Kurow scheitert, da Pawel im April 1942 ins Ghetto Belchatow eingewiesen wird. Die inzwischen schwerkranke Josefa bleibt zurück. Der darauffolgende Briefwechsel zwischen Pawel und seinen Kindern in Berlin erzählt von erbärmlichen und menschenunwürdigen Zuständen im Ghetto, von Pawels Sehnsucht nach seiner Familie, verzweifelten Ausreiseversuchen und seiner sich schnell verfestigenden und realistischen Einschätzung seiner Lage als hoffnungslos.

Josefa stirbt, ohne ihren Mann noch einmal gesehen zu haben. Pawel fällt im August 1942 der Menschenvernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten zum Opfer. Seine Kinder können nichts für ihre Eltern tun und halten sich in Berlin mit dem Sold eines Frontsoldaten, Monikas Vater Walter, mühsam über Wasser. Nach Kriegsende lernt Monikas Mutter Hella den kommunistischen Politiker Karl Maron kennen. Er gehört zu den Parteifunktionären, die Hella, ihre Schwester Marta und ihre Freundinnen als Sekretärinnen einstellen. Die Frauen ziehen aus dem im amerikanischen Sektor Berlins liegenden Neukölln in den sowjetisch kontrollierten Ost-Teil der Stadt. Hella heiratet Karl Maron, den späteren Innenminister der DDR. Die überzeugte Kommunistin macht Karriere als stellvertretende Leiterin der Pressestelle des Ostberliner Magistrats sowie als Journalistin. Von politischen Verfolgungen und Repressalien gegen Andersdenkende, von den gewaltsamen Niederschlagungen des Aufstands vom 17. Juni 1953 und des Prager Frühlings will sie auch Jahrzehnte später nichts wissen.

Monika wächst in der DDR auf. Sie arbeitet als Redakteurin bei der "Wochenpost". Nach und nach beginnt sie, die gelernten sozialistischen und kommunistischen Positionen, die sie schon im Rahmen der mütterlichen Erziehung empfangen und deshalb als selbstverständlich hingenommen hatte, zu hinterfragen. In der DDR-Politik und im Alltagsleben vermag sie nur Stalinismus zu erkennen; sie wendet sich vom Marxismus und Leninismus immer mehr ab. 1976 kündigt sie bei der "Wochenpost" und arbeitet fortan als freie Schriftstellerin. 1981 erscheint im Westen ihr Buch "Flugasche", ein regimekritischer Roman über eine Ostberliner Journalistin. Die Protagonistin hat Maron nach ihrer Großmutter Josefa benannt. In Tagträumen erscheint der Romanfigur, der wegen allzu kritischer Berichterstattung berufliche Repressalien drohen, ein Junge, den sie Pawel nennt und der ihr Visionen von Freiheit und Unabhängigkeit vermittelt. 1988 siedelt Monika Maron in den Westen über. Solange sie vom tatsächlichen Hergang der Familiengeschichte berichtet, bleibt ihre Sprache eher nüchtern und sachlich. Eleganter, poetischer wird ihre Ausdrucksweise, wenn sie die Fakten zu reflektieren und interpretieren versucht und wenn sie ihre Gespräche und Diskussionen mit Hella über die bewegte Vergangenheit wiedergibt. Marons Sprache zieht den Leser besonders dann in Bann, wenn es der Autorin nach anfänglichen Längen in der Darbietung gelingt zu verdeutlichen, wie sehr das tägliche Leben der drei Generationen der Familie Iglarz von den politischen und gesellschaftlichen Begleitumständen geprägt war. Auf diese Weise wird klar, welche Schicksale die zeitgeschichtlichen Geschehnisse zeitigten und welche unmittelbaren Auswirkungen sie auf das tägliche Leben der Menschen hatten. Dabei wird sich Maron vieler Fragen bewußt, die sie bis heute nicht beantworten kann: Warum hatte Hella die Existenz der Briefe Pawels und ihren ergreifenden Inhalt vergessen und warum hat sie überwiegend positive Erinnerungen an ihre Neuköllner Zeit? - War ein Überleben angesichts der immensen Belastungen nur möglich, indem eine Art psychischer Verdrängungsprozeß stattfand, der unerträgliche Belastungen und Erinnerungen abmilderte oder eliminierte? Und warum streifte der bis dahin bekennende Kommunist und mit den Iglarz' befreundete Nachbarssohn auf einmal die braune SA-Uniform über - wollte er diesmal einfach nur auf der Gewinnerseite stehen?

Monika Maron verschont auch ihre Mutter nicht mit kritischen Fragen: Warum verschlossen Menschen wie Hella vor dem stalinistischen Unrecht die Augen, warum wurden sie "von Widerstandskämpfern zu Machthabern"? Warum sind ihr erst gegen Ende der DDR Bedenken gekommen, ob jener Staat denn wirklich das darstellte, wofür sie immer meinte, sich engagiert zu haben? - War der Einfluß ihrer Neuköllner Kindheits- und Jugendjahre, in denen man sich im Arbeitermilieu zusammenschloß, um gemeinsam für den Sozialismus zu kämpfen, so groß, daß es ihr zu DDR-Zeiten nie in den Sinn kam, sich zu fragen, ob die Unterdrückten von damals nicht die Unterdrücker der Gegenwart geworden waren?

So wird Monika Marons Familiengeschichte zu einer subtilen Auseinandersetzung mit der Lebenswirklichkeit zu Zeiten bewegter und dunkler deutscher Geschichte. Auf eindrucksvolle Weise versucht sie herauszuarbeiten, warum diese Epoche so sehr von Opportunisten und von "Überzeugungstätern", die die wahre Tragweite ihres Handelns und Nichthandelns nicht überblickten, geprägt wurde. Dabei beleuchtet und differenziert sie einfühlsam das Denken, Handeln und Fühlen von Einzelpersonen, die unter dem direkten Einfluß ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Begleitumstände standen und maßt sich bei der Reflexion des Lebens, das unter Nationalsozialismus und SED-Diktatur geführt wurde, keine end- und allgemeingültigen Wahrheiten an.

Titelbild

Monika Maron: Pawels Briefe.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
205 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3100488091

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