Viel Parodie und wenig Verkehrung

Ein Sammelband befasst sich mit spielerischer Verfremdung und spöttischer Verzerrung in Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit

Von Matthias SehrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Sehr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Untersuchung der literarischen Parodie ist eine herausfordernde Angelegenheit. Die Forschung konnte sich bislang nicht auf eine einheitliche Begriffsbestimmung einigen; ohnehin gilt sie als anspruchsvolles intertextuelles Verfahren, welches Rezipient und Autor gleichermaßen vor Herausforderungen stellt. Derzeit erlebt der Parodiebegriff eine Konjunktur, vielleicht gerade, weil er so schwer zu fassen ist. Im Idealfall ist das Verfahren eher als „upcycling“ statt als „recycling“ eines Textes oder Stoffes aufzufassen, wie es Plotke und Seeber bezeichnen, die mit dieser These ihren Sammelband eröffnen.

Die Herausgeber werfen in ihrer Einleitung zunächst einige Fragen auf, wie wir als Rezipienten auf Texte reagieren (können), die Parodien sind oder es sein wollen. Antworten auf diese Fragen sind dabei jedoch weniger in den Beiträgen des Bandes zu finden, sondern vielmehr in weiterführender Literatur. Nach einer historischen Darstellung des Parodiebegriffs werden die Beiträge des Bandes kurz umrissen, gefolgt von einem Kapitel zum intertextuell basierten Lachen. In diesem Abschnitt wird das Lächerliche beziehungsweise das Komische als zentral für die Parodie herausgearbeitet, was jedoch im Großteil des Bandes nicht weiter thematisiert wird. Auch dass sich die Einleitung so ausgiebig mit der Parodie beschäftigt, lässt den Leser etwas ratlos zurück; verspricht der Buchtitel doch auch etwas über Verkehrung zu erfahren. Diese wird jedoch weder definiert noch in Beziehung zur Parodie gesetzt.

Ziel dieses Bandes soll es sein, einzelne Schlaglichter auf Texte der Vormoderne zu werfen. Daher geben die Herausgeber lediglich eine Basisdefinition des Parodiebegriffs und wollen diesen auch nicht abschließend definieren. Im Fokus sollen Differenzen und Gemeinsamkeiten verschiedener Parodiemodelle und -vorstellungen in der untersuchten Literatur stehen.

Im ersten Beitrag untersucht Nikolaus Henkel verschiedene Verständigungsgemeinschaften im Lateinischen und in der Volkssprache. Seinen Beitrag eröffnet er mit mehreren parodistischen Beispielen aus der Gegenwart, um anschließend die Definition des Parodiebegriffs zu thematisieren. Zwar will er keine weitere Definition der Parodie geben, legt jedoch bereits wenige Seiten später eine solche vor. Demnach ist die Parodie auf der einen Seite ein literarisches Verfahren mit Distanzmarkierung. Auf der anderen Seite ist sie auch ein kultureller Akt, der von verschiedenen Gruppen einer Gesellschaft vollzogen wird. Gegenstand der Untersuchung ist die Mariensequenz „Verbum nomum et suave“, der Sangspruch L 28,1 Walthers von der Vogelweide und das Tagelied „Ein kneht, der lac verborgen“ von Steinmar. Dabei weist der Autor nach, dass die Parodien der lateinischen Texte eine intellektuelle Angelegenheit für bestimmte exklusive Gruppen waren. Für die volkssprachlichen Texte gelten andere Ausgangsbedingungen, da diese im Gegensatz zu liturgisch gebrauchten Texten nicht kulturell tradiert waren. Henkel resümiert, dass die Parodie kulturelles Wissen über die Bezugspunkte des parodistischen Textes sowie intellektuelle Leistung zur Deutung verlangt.

Carmen Cardelle de Hartmann widmet sich im zweiten Beitrag einer „parodistischen Nachbarschaft“ im Codex Buranus (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4660). Zunächst erläutert sie den für ihre Arbeit gewählten Parodiebegriff, für den sie neben Martha Bayless (1996) und Paul Lehmann (1922/23) auch Gérard Genette (1982) sowie Linda Hutcheon (2002) heranzieht. Es folgt eine detaillierte Beschreibung des Codex Buranus sowie dessen Ordnung. Im anschließenden Kapitel wird die Frage diskutiert, inwiefern der Codex Buranus für eine konsekutive lesende Rezeption konzipiert wurde. Cardelle de Hartmann kommt dabei zu dem Schluss, dass die Lektüre die primäre Rezeptionsform war, jedoch auch der Vortrag und das Singen einzelner Teile nicht auszuschließen sind. Das dritte Kapitel des Beitrags widmet sich der im Titel angekündigten parodistischen Nachbarschaft zweier Gedichte. Diese werden ausführlich mit zahlreichen Forschungsbelegen analysiert sowie ihre Position im Codex Buranus erläutert. Cardelle de Hartmann stellt endlich fest, dass die Analogie beider Gedichte so schwach ist, dass diese auch nur zufällig entstanden sein könnte. Im Zusammenhang des Codex Buranus seien die Gedichte jedoch parodistisch zu sehen.

War die Parodie in diesem Band zuvor meist als Phänomen bezeichnet worden, welches einen Prätext verlangt, wird hier deutlich, dass es diesen eben nicht unbedingt benötigt, sondern ein Co-Text ebenso ein Bezugspunkt sein kann. Auch die Rolle eines Redaktors, der bewusst in die Textorganisation eingreift, wird in von Cardelle de Hartmann hier betont.

Seraina Plotke gibt zu Beginn des dritten Beitrags eine inhaltliche und formale Zusammenfassung der Geschichte des „Helmbrecht“ Wernhers des Gärtners. Die Polydimensionalität dieser Geschichte macht Plotke daran fest, dass auf den Ebenen der histoire und discours verschiedene Textmodelle imitiert werden. So wird auf der histoire-Ebene die Doppelwegstruktur des Artusromans imitiert. Für die Ebene des discours sieht die Autorin volkssprachige didaktische Literatur als Vorlage. Weiterhin werden zahlreiche weitere stilistische Bezüge und Prätexte deutlich gemacht sowie die Bedeutung der Polydimensionalität für die Plotstruktur herausgearbeitet. Mit Bezug auf Genette und insbesondere Theodor Verweyen wird deutlich, wie im „Helmbrecht“ durch Nachahmung mit gleichzeitiger Abweichung eine Verkehrung entsteht.

Der vierte und fünfte Beitrag von Stefan Seeber und Eva von Contzen widmen sich Vorreden in volkssprachigen beziehungsweise englischsprachigen Übersetzungen. Seeber stellt die Übersetzungsgeschichte von Heliodors „Aithiopika“ kurz dar, um zur Besonderheit der deutschen Übersetzung von Johannes Zschorn zu gelangen. Diese Besonderheit ist nach Seeber in der Vorrede zu finden. Nach Bemerkungen zum Parodiebegriff zeigt er die formale und inhaltliche Parodie in der Vorrede der Aithiopika-Übertragung auf. So ist die Form zwar einem Widmungsbrief nachempfunden, jedoch inhaltlich nicht wie ansonsten üblich an Gönner, sondern an die Vetter Zschorns gerichtet. Auch in anderen Werken Zschorns weicht er von der üblichen Praxis ab, was sich als Parallele zu Jörg Wickram erweist. Mit Verweisen auf weitere Autoren macht Seeber deutlich, dass diese Art der Parodie weit verbreitet ist.

Von Contzen erläutert im letzten Beitrag des Sammelbandes zunächst die Schwierigkeiten, die Rezipienten im Umgang mit parodistischen Texten aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit haben. Nach ein paar Absätzen zum Parodiebegriff grenzt sie den Untersuchungsbereich auf Übersetzungen von Widmungsreden antiker, lateinischer und griechischer Texte zwischen 1550 und 1650 ein. Sie konstatiert, dass sich Parodien weniger in den Vorreden von Epen, Historiographien und philosophischen Texten finden lassen. Vielmehr sind parodistische Vorreden in Liebes- oder Abenteuerromanen zu finden, die nicht die Erhabenheit epischer Texte erreichen müssen. Deren Vorreden zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie vorbeugend ihre Ungeschliffenheit betonen und besonders auf das Vergnügen beim Rezipieren hinweisen.

Für Leser ist der Band insbesondere ein Gewinn, wenn sie etwas zu einem der in den Beiträgen untersuchten Texte erfahren möchten. Zu beachten ist dabei jedoch, dass die Ergebnisse immer im Licht der genutzten Parodiedefinition zu sehen sind. Ein Überblick über die Entwicklung der Parodie oder ihres Begriffs im Mittelalter und der Frühen Neuzeit ist nicht zu erwarten, wird aber auch nicht angestrebt. Der Vergleich einzelner Beiträge ist durch die unterschiedlichen Parodieverständnisse der Autoren kaum möglich.

Problematisch für den Band ist sein umfangreicher Titel, der eine Vielzahl an Inhalten intendiert. Bereits in der Einleitung wird klar, dass der Fokus auf die Parodie gelegt wird. Dies wird zusätzlich dadurch deutlich, dass laut Einleitung vor allem verschiedene Konzepte der Parodie dargestellt werden sollen. Die Thematiken der Verkehrung, Verfremdung und Verzerrung werden lediglich am Rande der Beiträge behandelt. Auch werden durch eine Art Fazit in der Einleitung bereits wesentliche Erkenntnisse vorweggenommen.

Eine Schlussbemerkung würde den Sammelband abrunden, um die in der Einleitung erwähnten Gemeinsamkeiten und Differenzen verschiedener Parodiemodelle zusammenzufassen. Zusätzlich bleibt dem Leser der Anlass dieses Sammelbandes verborgen, sodass nicht klar ist, ob die Beiträge im Rahmen einer Tagung vorgestellt wurden.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Seraina Plotke / Stefan Seeber (Hg.): Parodie und Verkehrung. Formen und Funktionen spielerischer Verfremdung und spöttischer Verzerrung in Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.
Encomia Deutsch, Band 3.
V&R unipress, Göttingen 2016.
131 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783847106647

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