Traurige Transition

Dörte Hansen erzählt in „Mittagsstunde“ brillant vom Wandel eines Dorfes und seiner Bewohner

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bosbüll, Klanxbüll, Klixbüll, Niebüll und einige mehr – diese Orte mit dem Suffix „Büll“ findet man an der nordfriesischen Küste. Neuerdings gibt es auch Brinkebüll, einen fiktiven Ort, der in konzentrierter Form nicht nur die Eigenschaften der vielen realen „Bülls“, sondern vieler Dörfer deutschland- und vielleicht sogar europaweit auf sich vereint. Dieses Dorf sei die eigentliche Hauptfigur des Romans, so Denis Scheck im Gespräch mit Dörte Hansen. Die Autorin schreibt sehr luzide über eine Zwischenzeit, die mit der Landvermessung im September 1964 begann, bevor die Flurbereinigung den Niedergang der alten agrarischen Struktur besiegelte und eine Epoche der Transition einläutete, die erst im 21. Jahrhundert allmählich zu ihrem Abschluss kommt.

Dr. Ingwer Feddersen, seines Zeichens Prähistoriker und Dozent an der Kieler Universität, nimmt ab November 2012 ein Sabbatjahr, damit er sich in seinem Heimatort Brinkebüll um seine altersschwachen Großeltern Ella und Sönke Feddersen kümmern kann. Während Sönke mit seinen diversen Gebrechen geistig hellwach geblieben ist und mit Ingwers Hilfe den Betrieb in seinem Dorfgasthof aufrechterhält, driftet Ella mehr und mehr in die Demenz ab. Ingwer fährt lediglich an einem Wochenende im Dezember nach Kiel, wo Ragnhild Dieffenbach, Mitbewohnerin seiner WG, ihren 50. Geburtstag feiert. Er trifft dabei nicht nur Claudius, seinen Mitbewohner, der ein mehrgängiges Gourmetmenü vorbereitet, sondern eine Vielzahl an weiteren Bekannten, mit denen ihn kaum etwas zu verbinden scheint. Weihnachten und Silvester verbringt Ingwer in Brinkebüll, ebenso seinen eigenen Geburtstag im April. Danach bereitet er mit seinem Großvater intensiv die Eiserne Hochzeit der Großeltern vor. Als Sönke kurz vor dem großen Ereignis stirbt, weint Ella um ihren „Krischan“, den Dorfschullehrer Christian Steensen, mit dem sie viele Jahre ein außereheliches Verhältnis hatte. Ingwer regelt alle Angelegenheiten in Brinkebüll, meldet Ella in der Pflege für Demenzpatienten an und kehrt selbst im Oktober 2013 nach Kiel zurück.

Mit dem Bericht über das „Bummel-Jahr“ (so Sönke) mit all seinen Tücken alternieren Rückblenden auf die Zeit von 1964 bis ungefähr Ende der 1980er Jahre, vor allem auf die Umstände von Ingwers Geburt. Er ist der Sohn von Marret Feddersen, Ella Feddersens Tochter, vom Kriegsheimkehrer Sönke Feddersen angenommen, obwohl sie etwas zu schnell nach der Hochzeit auf die Welt gekommen ist. Bereits als Kind ist Marret anders als alle anderen. In der Gaststube ist sie „kaum zu gebrauchen“, zuständig aber für die Kühe der kleinen Landwirtschaft ihrer Eltern und oft in der Gemarkung unterwegs, um Blumen zu sammeln. Im Alter von 17 Jahren wird sie nach einer kurzen Affäre mit einem der Landvermesser schwanger. Nachdem sie sich vom Heuboden gestürzt und vom Dach des Kälberstalls gesprungen ist, überlebt sie mit Gehirnerschütterung und zwei gebrochenen Füßen. Da sie sich nach der dramatischen Kaiserschnittgeburt kaum für ihren Sohn verantwortlich fühlt, übernehmen die Großeltern die Pflege und Erziehung des Kindes. „Marret Ünnergang“, so wie Marret nun genannt wird, läuft in klappernden Clogs durch Brinkebüll und verkündet bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten den Weltuntergang, dabei ein „Erwachet“-Heftchen, das Publikationsorgan der Zeugen Jehovas, immer unter dem Arm tragend.

Dörte Hansen lässt ihren Roman in den 1980er Jahren beginnen, zu der Zeit, als Marret besonders intensiv mit ihren Untergangsfantasien unterwegs ist. Von diesem Auftakt aus schwenkt der Text zu der in den Jahren 2012/13 angesiedelten Handlung mit Ingwer Feddersen. Welch ausgeprägte atmosphärische Dichte den gesamten Text regiert, offenbart bereits dieses Präludium. Es wirkt wie ein Paukenschlag, was die knappe Thematisierung der manövrierenden, die Schallmauer durchbrechenden Düsenjäger, nicht nur Teil des Kalten Krieges, sondern auch ein Symbol für den Untergang des alten Brinkebüll, eindringlich unterstreicht. Von diesem ersten Kapitel aus entspinnt sich die raffinierte Komposition des Romans. Die beiden Erzählstränge, auf der sie gründet, und das deutlich auszumachende chronologische Setting erwecken an keiner Stelle den Eindruck des Erzwungenen oder Mechanischen. Alle Kapitel greifen geschmeidig ineinander, so dass sich Brinkebüll mit seinen typischen Bewohnern beim Lesen äußerst plastisch entfaltet. Vor der Flurbereinigung zeigten sich der Ort und die Gemarkung rundum in natürlicher Schönheit, urbargemacht zwar, aber so, dass weder Mensch noch Flora noch Fauna verletzt wurden. Störche kamen regelmäßig, Ulmen und Rosskastanien säumten die Wege, auf den Feldern lagen Findlinge. In dieser Idylle markiert die Flurbereinigung keine Zäsur, sondern eine Ruptur. Alle störenden Bäume werden gefällt, alle Findlinge werden weggeschafft und kein Storch kehrt zurück. Am schlimmsten ist der grausame Unfalltod eines kleinen Jungen, verursacht durch einen Lastwagen, der auf der begradigten Dorfstraße mit viel zu hoher Geschwindigkeit unterwegs war. Es folgen das Sterben vieler alter Bauernhöfe und die Expansion der anderen, deren Eigentümer sich die neueste Technik leisten können. Gleichzeitig lassen sich erste Stadtgeflüchtete in der alten Mühle des Dorfes nieder. Eines ihrer Kinder heißt Karl Fidel, benannt nach Karl Marx und Fidel Castro.

Inmitten dieser Zeit des Wandels agieren die altgedienten Autoritäten des Dorfes, eine Vielzahl von typisierten und dennoch sehr individuell und sympathisch skizzierten Figuren – so etwa Pastor Ahlers, der am Rand des Friedhofs auch Haustiere begräbt, oder Lehrer Steensen, der in seiner speziellen Form der Binnendifferenzierung vier verschiedene Arten von Dummheit definiert. Zu diesen beiden gesellen sich unter anderem Dora Koopmann, gestrenge Inhaberin eines Tante-Emma-Ladens und die Bäckerfamilie Boysen, deren vierte Tochter Gönke vom Schreibaby und hyperaktiven Kleinkind zu einer wissensdurstigen, lesebesessenen („sie las, wie andere Menschen tranken“) und kritischen jungen Frau mutiert. Obwohl alle lediglich kursorisch porträtiert werden, erstrahlen sie in einer unvergleichlichen semantischen Dichte als runde Charaktere. Umso mehr gilt dies freilich für die gesamte Familie Feddersen. Ella und Sönke, anrührend in der Gebrechlichkeit ihrer letzten Jahre, taff, zielstrebig und belastbar in der Blütezeit ihres Lebens. Sie arbeiten zusammen, sind im täglichen Tun aneinander gewöhnt, schwingen aber nicht im inneren Einklang miteinander. Sönke, zweifellos die tragischste Figur des Romans, ist kriegstraumatisiert und leidet unter Migräneattacken. Er leidet zudem darunter, dass Ingwer den Gasthof nicht weiterführen wird, sondern zum Studieren in die Stadt zieht, also ausbricht, Brinkebüll den Rücken zukehrt. Im Gegensatz zu Ella, die „kein Talent zum Reden hat“, spricht Sönke sehr gerne und viel. Ella bevorzugt das Lesen und träumt dabei von ihrem Liebhaber. Marret Feddersen bleibt von Rätseln umgeben. Sie ist ein unverstandenes, besonderes Geschöpf, noch zum alten Dorf gehörend und im neuen Dorf vor dräuenden Katastrophen warnend. Marret, die Mutter, repräsentiert das alte Dorf, Ingwer, der Sohn, präfiguriert das neue, obwohl er noch vom alten geprägt ist. Bezeichnenderweise verlässt er Brinkebüll zum Studium der Alt- und Frühgeschichte. Er kommt nicht nur zwecks Ausgrabungen und archäologischer Studien regelmäßig in seinen Heimatort zurück, wo er Plattdeutsch spricht. Letztendlich entpuppt er sich als Wanderer zwischen den Welten, denn seine persistierende rurale Mentalität lässt sich kaum mit Urbanität vereinbaren. In Kiel gelingt es ihm nicht, richtig Fuß zu fassen, geschweige denn eine Familie zu gründen. Dabei kultiviert er einen Habitus des Intellektuellen, mit dem er, so wie Ragnhild und Claudius, in anderen vergangenen Zeiten feststeckt. Er ist Teilzeitlover von Ragnhild und ebenso Teilzeitkiffer mit Grasvorrat in einer Keksdose. Dass er mit seinen fast 48 Jahren noch in dieser WG lebt, wirkt genauso anachronistisch wie die Musik von Neil Young, die er heimlich hört. Der Titel Don’t let it bring you down, den er auf der Fahrt nach Brinkebüll seit 30 Jahren mitsingt, ist Programm für den Besuch. Um seine Großeltern sorgt sich Ingwer in erster Linie, weil er sich schuldig fühlt, sich vorwirft, seinen Großvater, der ihn aufgezogen hat, in „fünf Akten“ verraten zu haben, angefangen beim Besuch der Oberschule in Husum bis hin zum Verkauf von Sönkes Tenorhorn. Diese Tragödie sühnt er bis zu Sönkes Tod.

Obwohl es, so wie mehrfach im Text betont wird, nicht „um das bisschen Mensch“ gehe, entwirft Hansen überzeugende Psychogramme ihrer Figuren. Sie sind in ihrem Soziotop zu verorten und dort so lange „eingenordet“, bis eine von ihnen ausschert, um danach entweder niemals zurückzukehren, so wie offenbar Gönke Boysen, oder um sich nur halbwegs abzuseilen, so wie Ingwer Feddersen.

Wer Mittagsstunde liest, akzeptiert das Paradoxon eines heterodiegetischen Erzählers, dessen Anwesenheit man spürt, der aber niemals interveniert. Er lädt ein zu einem narrativen Spaziergang durch Brinkebüll im Wandel der Zeiten, zu einem Panorama, hinter dem er einerseits nahezu verschwindet, sich neutralisiert, andererseits aber ein berauschendes Kontinuum des Erzählens inszeniert. Den wesentlichen Part darin hat eine sprachliche Meisterschaft, die lange ihresgleichen suchen müsste, daneben ein Modus exzellenten realistischen Schreibens. Mit der häufigen Kombination von Vergleich und Personifikation jedoch oder (weitaus seltener) Vergleich und Reifikation touchiert der Text ein magisches Dazwischen. Das Land animiert sich, Personen droht hingegen die Gefahr, in das Dingliche einzugehen. So etwa „peitscht der Wind wie ein Feldherr“, weiß verklinkerte Bauernhäuser sehen aus „wie unglückliche Bräute, die keiner haben wollte“ oder der Winter legte „Schnee wie einen Mullverband auf das geschundene Land“. Im Gegensatz dazu tritt Ragnhild Dieffenbach auf, „Architektin, ein Name wie ein Altbau“. Sie gehört zum Inventar des Hauses und bleibt so verstaubt wie die Möbel, die sie nicht abwischt. In rhetorischer Hinsicht sind Asyndeta die zweite Vorliebe der Autorin. Mit den Personifikationen ragen sie aus einer ziselierten Sprache heraus, aus einem feingeschliffenen Text, der jedoch an keiner Stelle bemüht oder gar preziös erscheint. Dasselbe gilt für die Dialekteinlagen, an denen nicht-norddeutsche LeserInnen anfänglich ein bisschen zu knabbern haben dürften. Doch die Passagen sind wohldosiert, wirken nicht als Fremdkörper, sondern als quasi natürliche Ingredienz. Sehr schnell findet man sich in den Dialekt ein, der im Übrigen auch metasprachlich präsent ist, will sagen, im Roman zum Thema gemacht wird. Dialekt müsse immer original sein, so Ingwer, als er sich gegen das verniedlichte „Volkshochschulen-Plattdeutsch“ wendet, mit dem Ragnhilds Schwester ihn behelligt. Sein eigenes Plattdeutsch sei „wie eine Taschenuhr“, die „nicht mehr richtig in die Zeit“ passe, aber noch gehe.

Dörte Hansens Roman gehört zur zeitgenössischen Gattung der Anti-Idylle, zu der man beispielsweise Alina Herbings Niemand ist bei den Kälbern (2017) und Juli Zehs Unterleuten (2016) zählen kann. Gerhard und Jule sind aus Berlin in das brandenburgische Unterleuten gezogen und können in gewisser Hinsicht mit den Bewohnern der Brinkebüller Mühle verglichen werden. Die junge Christin aus Niemand ist bei den Kälbern, zwar in dem Dorf Schattin aufgewachsen, schlittert sehr unbedarft in die Landwirtschaft ihres Freundes hinein. Nach kurzer Zeit möchte sie nur noch flüchten. Eine motivische Parallele besteht hier zu Mittagsstunde insofern, als in beiden Romanen der Mähdreschertod eines Rehkitzes eine Rolle spielt, die Beteiligten in beiden Romanen psychisch damit nicht umgehen können (in Mittagsstunde ungleich heftiger) und das geschredderte Tier als böses Omen zu deuten ist. Im Vergleich zu Zeh und Herbing hat Hansen den Vorteil einer Perspektive von innen, weil sie in einem ähnlichen Dorf wie Brinkebüll aufgewachsen ist. Ihre messerscharfen Beobachtungen sind authentisch und ungekünstelt.

Über den ganzen Text legt sich die (Metaphorik der) Mittagsstunde. Ganz unmetaphorisch ist auch dieser Übergang dem Übergang zum Opfer gefallen. Als die Brinkebüller noch im Einklang mit den natürlichen Gegebenheiten ihres Landes lebten, folgten sie einem Tagesrhythmus, in dem die Mittagsstunde als quasi heilige, unantastbare Pause zwischen Vor- und Nachmittag eingehalten werden musste. Marret symbolisiert und personifiziert gleichermaßen die Mittagsstunde. In dieser taucht sie gerne einmal unter, verschwindet hinter den Bäumen und zwischen den Findlingen. Nach altem Glauben lauern in der Mittagsstunde Dämonen den Menschen auf. Gerade in dieser Zeit, so dachten die Mönche im Mittelalter, seien sie vom Geist der Acedia, des Sichgehenlassens, des Nichtstuns, der melancholischen Niedergeschlagenheit, bedroht. Ignoriert man diese dunkle Seite, so erweist sich die Mittagsstunde als spiritueller Möglichkeitsraum eines guten meditativen Übergangs zwischen der Vergangenheit und der Zukunft eines Tages. Zwischen Früh und Spät, zwischen Alt und Neu, zwischen Stadt und Land, zwischen Tragik und Komik verläuft die Demarkationslinie der Mittagsstunde. In dieser lebt Ingwer Feddersen, der von der dunklen Macht des Dazwischen bedroht wird, der unter seiner persönlichen Transition, seiner Midlife-Crisis leidet, sich aber schließlich seiner Entwicklungsaufgabe, seiner Zukunft, stellen kann.

Nicht zuletzt ist Dörte Hansens Roman selbst wie eine Mittagsstunde: Nach dem fulminanten Einstieg lässt er sich eher gemächlich an, stellt sich aber schnell insofern als „Grower“ heraus, als er an Fahrt aufnimmt und das Interesse an ihm rasant anwächst. Das mag an der Zunahme der Raffungsintensität in den analeptischen Kapiteln liegen und an der Frage nach Marrets Verbleib, deren Lösung man mit Spannung erwartet. Man kann es sich in dieser vortrefflich organisierten und erzählten Geschichte aber einfach nur gemütlich machen, sich auf ihren Beziehungsreichtum und ihre nie klischeehaften oder gar nostalgischen Identifikationsangebote einlassen. Am Ende verlässt man diesen romanesken Diskurs mit Wehmut.

Nach dem hochgelobten und preisgekrönten Debütroman Altes Land (2015) dürfte Dörte Hansen mit ihrem zweiten Roman die großen Erwartungen vieler Leser noch übertroffen haben. Mittagsstunde ist ein vortrefflicher, facettenreicher Roman, dessen Autorin mit einem Maximum an Feingefühl den Strukturwandel eines Dorfes und seiner Menschen nachzeichnet. In ihm gelangt realistisches Erzählen auf sprachlich hohem Niveau zur Perfektion. Er ist schätzungsweise das Beste, was der deutsche Buchmarkt im Jahre 2018 zu bieten hat.

Titelbild

Dörte Hansen: Mittagsstunde. Roman.
Penguin Verlag, München 2018.
319 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783328600039

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