Suche nach dem Englischen

Aspekte der Anglophilie Alfred Anderschs

Von Roberta BargelliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roberta Bargelli

1. Europäische Eindrücke: Tendenzen der Xenophilie Alfred Anderschs

Während seines langen publizistischen und literarischen Werdegangs hat Alfred Andersch stets ein Interesse für das Fremde gezeigt: Er beginnt damit, fremdländische Literatur über das Radio und in den Zeitschriften zu verbreiten, später reist er häufig in verschiedene europäische Städte, schließlich behandelt er in seinen Romanen den Reiz, den das Fremde für ihn hat.

Nach der Rückkehr aus den amerikanischen Gefangenenlagern Fort Kearny und Fort Getty plant Andersch eine Erneuerung der deutschen Literatur. Er setzt sich in dem Essay Deutsche Literatur in der Entscheidung (1947) für die Exilliteratur ein, wendet sich in Europäische Avantgarde (1958) an die europäische Jugend, treibt sie zur Suche nach Freiheit und Demokratie an und fördert fremde Autoren, um dem Provinzialismus der Diktatur zu entkommen. In dieser ersten Phase ist das Interesse an der französischen und amerikanischen Kultur groß, er setzt sich mit dem Existenzialismus von Jean Paul Sartre und Albert Camus und dem Realismus von Ernest Hemingway und Thornton Wilder (Amerikanische Anarchisten) auseinander.

In den fünfziger und sechziger Jahren wird der italienischen Kultur große Aufmerksamkeit geschenkt: In zahlreichen Artikeln macht Andersch einerseits Autoren des literarischen Neorealismus wie Elio Vittorini, Cesare Pavese und Alberto Moravia dem deutschen Publikum bekannt, andererseits aber auch die Filmproduktionen von  Regisseuren wie Antonioni und Fellini. Die Solidarität, soziale Fragen und der Mensch, der den Faschismus überlebt hat und für eine Erneuerung kämpft, sind die wichtigsten Aspekte, die die italienische Kultur zum unverzichtbaren Vorbild für die Wiedergeburt der deutschen Literatur machen.

2. Auf der Suche nach dem Englischen

Das Interesse an der englischen Sprache und Kultur ist eher gering in der deutschen Literatur Ende der fünfziger Jahre und im Laufe der sechziger Jahre und selten wird England besucht. Ausnahmen sind die Autoren Jörg Christian Fauser, der in dem Gedicht An London (1964) die englische Hauptstadt als Ort der Freiheit und Unterdrückung bezeichnet, sowie Rolf Dieter Brinkmann, dessen Hauptfigur in Keiner weiß mehr (1968) England als Zufluchtsort aus der sozialen und privaten Verantwortung wählt. Wolfgang Koeppen versteht Großbritannien als mythisches Land Im Zauberwald der roten Autobusse (1958), wo der Mensch auf Toleranz und Gleichheit trifft. Uwe Johnson, vertrieben aus einer geteilten Heimat, findet hier seinen Unterschlupf; in seinem vierbändigen Hauptwerk Jahrestage, erschienen zwischen 1970 und 1983, empfindet die Protagonistin Gesine England als eine verpasste Möglichkeit, auf die sie wegen der Mutter verzichtet hat. Wolfgang Hildesheimer wandert dorthin aus dem nationalsozialistischen Staat aus und widmet das Werk Zeiten in Cornwall (1966) den englischen Landschaften, die ihn beeindruckt haben. In Der Triton mit dem Sonnenschirm (1969) zeigt auch Arno Schmidt Interesse an der angelsächsischen Literatur, hauptsächlich an den Werken James Joyces.

Erster Anlass zur Beschäftigung mit der englischen Welt für Andersch ist seine berufliche Tätigkeit beim Radio. Er unterstützt die Verbreitung des Features, einer Gattung, die in den Programmen der BBC während des Krieges aufkommt. In den theoretischen Essays arbeitet er die kennzeichnenden Merkmale durch den Vergleich mit anderen Hörformen heraus, der Reportage und dem Hörspiel (Versuch über das Feature), und bewegt auch seine Kollegen dazu, das Feature in geeigneten Sendungen zu testen, wie im Mitternachtsstudio beim Hessischen Rundfunk oder in den Talks und Features beim Nordwestdeutschen Rundfunk. Er selbst nutzt die stilistische Vielfältigkeit und die innovativen erzählerischen Mӧglichkeiten dieser Gattung, um seine Forschungen über die englische Kultur und Landschaft zu treiben.

Die ersten Features, Wind und englisches Eichenholz (1953) und Vergebliche Brautschau (1963) weisen noch einen engen Bezug zum Hörspiel auf, weil sie eine reine Erzählform haben, die sich auf die fiktive Geschichte beschränkt. In den anderen zwei Texten, Bedlam oder das stille Tollhaus (1969) und Der Pfarrer ohne Klavier (1965), experimentiert er bereits mit neuen Formen und Techniken, die den neuen Medien entstammen. Bedlam ist eine Mischform, ein Beispiel für das Ineinandergreifen von Dokumentartexten – wie die Ausschnitte aus der Nachforschung von David Piper London –, Werbe- und auktorialen Texten, alles begleitet von den Originaltönen. Der Pfarrer ohne Klavier ist dagegen eine Textmontage aus Interviews, die meistenteils der Studie von Axel Atkinson The Big City or the New Mayhew entnommen sind. Diese werden zusammen mit Anderschs Ansprachen und den Dialogen zwischen Atkinson und seinem Meister, Henry Mayhew (Autor von London Labour and the London Poor), von Schauspielern gesprochen. Die Pianomusik ist hier nur Begleitung des Szenen- und Figurenwechsels, während die Stimme einen kommunikativen Zweck hat.

Was den Inhalt betrifft, sind die Features Vergebliche Brautschau und Wind und englisches Eichenholz abstrakte Bilder Englands, die einer traditionellen Schilderung dieses Landes in der deutschen Reiseliteratur gleichen. Die Hauptfigur Christoph sucht in England das Exotische, dessen Verkörperung die junge und reizende Cynthia ist, ihm gefallen aber auch die Genauigkeit und Kreativität der Tochter seines englischen Kollegen. In Wind und englisches Eichenholz verwendet Andersch einen anderen Topos, nӓmlich die Isolierung Englands vom Rest des Kontinents, und aktualisiert ihn, indem er das Offensichtliche dieser anachronistischen Lage auch vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und der letzten europäischen Kooperationsabkommen zeigt.

Die anderen Texte sind dagegen durch einen subjektiven Vergleich des Autors mit der authentischen Reiselandschaft gekennzeichnet. In Bedlam oder das stille Tollhaus bietet Andersch ein vielfältiges Bild Londons an, das aus der Perspektive dreier Reisender dargestellt wird: Der Tourist besucht die Ortschaften, die die englische Handwerkstradition beibehalten, wie die auf Tweed und Pfeifen spezialisierten Lӓden, oder die Mew-Hӓuser des 18. Jahrhunderts; der Architekturstudent interessiert sich für die baukünstlerischen Entwicklungen der Stadt London und das Hippie-Paar sucht Treffpunkte für die jungen Generationen auf und unterliegt der Faszination der jüngsten Mode. In Pfarrer ohne Klavier sind soziale Aspekte vorherrschend: Aus der Studie Atkinsons wählt der Autor einige Londoner Interviews, um die Lage der neuen Armen, der Vertreter der middle class, in Nachkriegsengland hervorzuheben.

Auf die Dokumentation folgt die Reflektion in den Essays, die erst im Radio und später in Zeitschriften veröffentlicht wurden. Eine neue Sendung wird dafür erdacht: das Spätprogramm beim Süddeutschen Rundfunk. Damit setzt sich das Radio-Essay als eine neue Gattung durch. In den drei Reiseessays, Londoner Notizen (1965), Tafel für ein Haus in der Dean Street (1960) und Go as you please (1970), findet sich die neue Kategorie des Reisenden, der eine kritische und klare Meinung hat und die autenthische Landschaft sucht, um einen Vergleich zu Grenzen und Möglichkeiten für die Entwicklung des neuen Deutschlands anzubieten.

Bemerkenswert ist auch das Verhältnis zwischen den Reiseessays und den anderen Werken: Der Autor sammelt und analysiert Themen, die später in den Essays untersucht und abschließend in den Erzählungen und Romanen fiktiv bearbeitet werden. Die Kontinuität in seiner literarischen Produktion wird in dem Nachschreiben sichtbar: In den Essays nutzt der Autor Ausschnitte aus den Features, die erweitert oder reduziert werden, um weiter über schon behandelte Themen nachzudenken.

In dem Essay Auf der Suche nach dem englischen Roman (1968) wird England als literarisches Vorbild verstanden. Nach Anderschs Meinung soll der englische psychologische Roman als vorbildlich in Deutschland gelten, weil er die Kernmerkmale der Erzählung trotz der neuesten Experimente des nouveau romans beibehält, einer literarischen Tendenz, die in den fünfziger und sechziger Jahren in Deutschland großen Erfolg hat. Im englischen Roman wird die Innenwelt der Figuren ausführlich beleuchtet; die Handlung und die Beschreibung der historischen und sozialen Umgebung sind noch da, und der Autor spiegelt sich im Plot und den stilistischen Tendenzen wider. Der französische Meister der neuen Bewegung, Alain Robbe-Grillet, proklamiert dagegen mechanisch-materialistische Vorstellungen vom Vorrang des Seins der Dinge über das Bewusstsein des Menschen.

Andersch vertritt einen kritischen Realismus, der auf Realitätsnähe und konkrete Darstellung von Orten und Figuren basiert. Er sieht dieses Prinzip in den Werken Giorgio Bassanis voll verwirklicht, dem er den Essay Giorgio Bassani oder vom Sinn des Erzählens (1969) widmet. In den in Ferrara spielenden Geschichten zielt der Autor auf die Demaskierung der Einwohner ab, die auf die erfolgreiche Integration der Juden in ihre Stadt stolz sind. Er hebt die auch in dieser Stadt entwickelte Rassenlehre hervor, indem er die Überlebenden in seinen Erzählungen (Storie Ferraresi, Il Giardino dei Finzi-Contini, L’Airone) sprechen lässt: die Deportierten in den Gefangenenlagern und die Diffamierten.

In Tochter (1970) soll die Autobiographie die Lebenserfahrungen und historischen Ereignisse nachholen, die das kritische Bewusstsein des Autors, Fehler und zukünftige Entwicklungen erkennen lassen. Wenger ist ein schweizerischer anglophiler Arzt, der wie Andersch selbst seine Tochter für einen Sprachkurs nach England begleitet. Wӓhrend seines Aufenthalts dort bemerkt er eine radikale Wandlung der städtischen Landschaft, die zum Scheitern seines Englandbilds führt: Überall sieht er Verfall und Verlassenheit, wie im College seiner Tochter oder am Oxforder Bahnhof, und spürt auch die fortschreitende Modernisierung in den Rolltreppen, der U-Bahn oder in der neuen Mode der jungen Menschen in der Carnaby Street.

3. Die Anglophilie im Roman Efraim: Identität und Sprache

Ein komplexeres Englandbild entwickelt sich im Roman Efraim, der im Jahr 1967 erschien. Am Ende ihres Aufenthaltes in England und durch die Rückkehr nach Deutschland erkennt die Hauptfigur ihre unsichere kulturelle Identität und entscheidet sich für den schriftstellerischen Beruf, nachdem sie lange Zeit als Journalist tӓtig war.

In der Geschichte des deutsch-jüdischen Exilanten Georg Efraim macht Andersch den Leser auf ein in der Nachkriegszeit sehr aktuelles Thema aufmerksam, die Remigration. Schwierig, manchmal unmöglich, ist eben der Wiedereintritt jener Deutschen, die wӓhrend der Diktatur ins Ausland geflüchtet sind, in die geteilte Heimat. Das Exil ist eine Form der Identitätsaufhebung, deren Ergebnisse das Zurücklassen der Heimat, die Aufgabe der eigenen Wohnung, des Besitztums und der Muttersprache und die Entfernung aus der Familie sind. Verluste, die man schwer nachholen kann.

Obwohl Andersch keine direkte Erfahrung des Exils hat, da er nach der Gefangenschaft im Jahr 1933 in Dachau und dem Aufenthalt als Häftling in den USA in den letzten Jahren des Krieges nicht emigriert, setzt er sich mit der Emigration durch die Radioarbeit auseinander. Beim Norddeutschen Rundfunk trifft er viele deutsche Exilanten und manche Remigrierte: den Direktor des BBC German Services in London, Hugh Carlton Green, den Leiter des Süddeutschen Rundfunks, Fritz Eberhard, und die deutschen Exilschriftsteller, in Schweden Nelly Sachs und in der Schweiz Heinz Liepmann.

Nach mehr als zwanzig Jahren in London sucht Anderschs Protagonist Georg Efraim in der Heimatstadt Berlin nach Spuren seiner jüdischen Gemeinde in Charlottenburg, doch vergebens, weil viele Sammlungsorte in den Bombardierungen ganz zerstört und nie wiederaufgebaut worden sind. Außerdem ist die Erinnerung an seine Eltern fast ausgelöscht worden: Es gibt weder ein Grab noch ein Gefallenendenkmal, an denen er stehen könnte, um die Trauer über den Tod der Eltern aufzuarbeiten, während die Wohnung der Verstorbenen jetzt in der Nachkriegszeit einer jungen deutschen Familie gehört.

Er besitzt keinen jüdischen Glauben: Das Judentum ist ihm eine aufgezwungene Pflicht, zu der er sich nach dem Tod seiner Eltern bekennt, um sich notfalls auf die Herkunft oder die Sitten seines Volkes berufen zu können, ohne sich aber damit zu identifizieren. Vorbild dafür ist Jean Améry in seinem autobiographischen Bericht Jenseits von Schuld und Sühne (1966), der sich zu seinem Judentum bekennt, nachdem er es wegen der Rassenpolitik und noch nach seinem Exil verleugnet hat. Er ändert seine Meinung, nicht um Ursachen oder Schuldige für den Holocaust zu suchen, sondern um auf die menschliche Würde zu pochen, die ihm genommen wurde. Was die Parallele ermöglicht, ist die Faustschlag-Szene: Efraim schlägt einen deutschen Jungen, der den Ausdruck „bis zur Vergasung“ benutzt. Verletzend empfindet Efraim den Rassenhass und die Respektlosigkeit dem Holocaust gegenüber. Jean Améry widersetzt sich auf dieselbe Weise dem Kerkermeister.

Die Wahl der Opferperspektive ist für einen nichtjüdischen deutschen Autor neu im literarischen Kontext Deutschlands, weil vor Andersch kein deutscher Autor das Selbstbewusstsein jüdischer Menschen zum Hauptthema in seinem Werk gemacht hat. Die Jahre, in denen dieser Roman erscheint, sind eine Epoche großer Veränderungen: Nach zwanzigjähriger Verdrängung setzt man sich in Deutschland mit dem Holocaust auseinander. Die ersten Zeugnisse der Überlebenden sind seit dem Kriegsende verӧffentlicht worden, wie In den Wohnungen des Todes von Nelly Sachs (1947), Se questo è un uomo von Primo Levi (1947), Jenseits von Schuld und Sühne von Jean Améry (1966), aber erst am Anfang der sechziger Jahre werden die Schuldigen der Shoah verurteilt: Eichmann 1961 in Jerusalem, die Henker im Lager Auschwitz in Frankfurt und die Verantwortlichen der Aktion Reinhard von Treblinka, Sobibor und Belzec zwischen 1963 und 1965.

Die lange Identitätsaufhebung behindert auch die Wiedererlangung der deutschen Staatsbürgerschaft, weil die alten Voraussetzungen nach langer Zeit der Abwesenheit nicht mehr gegeben sind. Deutschland besteht aus zwei Teilstaaten, der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, die sich beide auf verschiedene wirtschaftliche, soziale und kulturelle Werte berufen, und zwei gegensätzliche Systeme widerspiegeln. Verkörperung dieser Spaltung ist die Figur Anna, eine junge Schauspielerin, die Efraim in Berlin kennenlernt. Ihre Zugehörigkeit zu Ostdeutschland zeigt sich in der Sprache, die sich durch Wendungen wie „wir da drüben“ und „die hier im Westen“ auszeichnet, und auch in der sozialen Haltung: Als Schauspielerin lehnt sie eine Rolle in einem westlichen Dramastück ab.

Bei der Rückkehr in die deutsche Hauptstadt schwindet die Illusion einer vollkommenen englischen Integration. Andersch zeigt die verschiedenen Entwicklungsphasen Efraims in Bezug zu den fremden Menschen und dem fremden Land in den zwanzig Jahren des Exils. Am Anfang seines Aufenthaltes in England fühlt sich Efraim unbehaglich und neugierig. Nachts wandert er durch London, um die neuen Ortschaften kennenzulernen. Dann strebt er nach der Überwindung seiner Entfremdung durch das Hochschulstudium, die Ehe mit der Photografin aus dem Potteries-Gebiet, Meg, den unbefangenen sprachlichen Gebrauch und die Arbeit bei einer englischen Zeitschrift. Zwei Wochen in Berlin genügen aber, um Efraims Überzeugung, was seine englische Integration angeht, ins Wanken zu bringen: Er bedient sich für den autobiographischen Bericht der deutschen Sprache und nimmt die englische Version seines Namens, George Efraim, nicht mehr an. Efraim beschließt, dem Journalismus den Rücken zu kehren, um sich der Literatur zu widmen, er zieht nach Rom, um in der italienischen Hauptstadt eine Ich-Unterbrechung zu vollziehen, weil die Stadt ein Niemandsland ist, in dem man nicht zur Integration gezwungen ist. Er kehrt nie nach England zurück.

Andersch untersucht das Thema der Migration weiter durch den Vergleich Efraims mit zwei anderen Typen von Exilanten: dem remigrierten Sandberg, der aus England nach Deutschland zurückkehrt, weil er davon überzeugt ist, dass seine Heimat noch einen Journalisten wie ihn braucht, und dem Flüchtling John, der sich in Rom voll integriert fühlt und kein Interesse an einer Rückkehr hat.

Die Sprache Efraims ist das deutlichste Zeichen seiner chronischen Fremdheit. Der Emigrant leidet an einem doppelten Stottern, weil er sich in seiner Wahlsprache nicht spontan auszudrücken versteht und auch kein echtes Deutsch mehr spricht. Jean Amérys Meinung nach verursacht die lange Abwesenheit vom Land der Muttersprache ein Schrumpfen der Möglichkeiten sich auszudrücken. Man bedient sich eben eines veralteten Vokabulars, das die historischen und kulturellen Entwicklungen der Nation nicht mehr widerspiegelt.

Efraim beobachtet diese Entfremdung bei den Emigranten, die er auf Reisen kennenlernt, Baron Collaudi und John. Während der erste ein konservatives Deutsch spricht, das fern von jeder aktuellen deutschen Sprache ist, enthüllt die Aussprache des Journalisten eine enge Beziehung zur Nazi-Zeit.

Die Entfernung hindert Efraim am Gebrauch der deutschen Sprache. In den Zeitschriften, die er liest, findet er neue Begriffe, die die sozialen, ökonomischen und kulturellen Entwicklungen schildern, die sich in Deutschland während seiner Abwesenheit vollzogen haben. Ein Beispiel dafür ist der „Europagedanke“, ein Begriff, der sich in den fünfziger Jahren durchsetzt, um die erhoffte Gemeinschaft zwischen den europäischen Ländern nach dem ersten internationalen Übereinkommen in Worte zu fassen, oder die „Berlinhilfe“, womit die ökonomischen Hilfestellungen für den Wiederaufbau der Stadt Berlin gemeint sind. Efraim beobachtet die stilistischen Erneuerungen, wie zum Beispiel die Substantivierung in den Zeitungstiteln, und ist sehr aufmerksam den Entwicklungen der Umgangssprache gegenüber. Er notiert die idiomatischen Formen, die er mithilfe des Wörterbuchs versteht und sofort in seinen Berichten benutzt, wie „am Drücker“ oder „in den Griff bekommen“.

In der gesprochenen Sprache sucht er nach Zeichen für die Verrohung des deutschen Volkes: Er bemerkt, wie die Verwendung des Wortes „Jude“ ein Hinweis zum Verhältnis der Deutschen zum Holocaust ist. Die meisten Deutschen zeigen Verlegenheit und suchen nach Ausflüchten, wenn sie das Wort Jude aussprechen, da sie unter dem Gewicht ihrer Verantwortung leiden. Er wertet auch manche Ausdrucksweisen der deutschen Jugend, wie „bis zur Vergasung“, als vӧllige Herabwürdigung des Holocausts bei den jüngeren Generationen, verursacht durch das Unvermögen der Eltern, Vergangenheitsbewältigung zu betreiben.

Efraim überlegt auch, wie der Holocaust und der Krieg die Sprache ihrer ästhetischen Funktion beraubt haben, die keine Metaphern mehr benutzen kann. Eine Idee, die an die Philosophie Adornos (Kulturkritik und Gesellschaft) erinnert. Das Verderben der deutschen Sprache wird im Roman mehrmals durch die eindrucksvolle Wendung „die Sprache hat den bösen Blick bekommen“ ausgedrückt. Infolgedessen spricht Efraim von Auschwitz und Hitler direkt, ohne seine Gedanken verschlüsseln zu wollen.

Andersch verweist auf Efraims mangelhaften Kenntnisse der englischen Sprache, die ein Hinweis auf seine unvollkommene Einbürgerung ist. Efraim bedient sich der fremden Sprache für die alltägliche Kommunikation, teilt aber die Weltanschauung der englischen Muttersprachler nicht. Das wird durch die Episode dargestellt, in der Efraim das Kreuzworträtsel in der Times nicht lösen kann, aber auch durch die Wahl des Deutschen für den personellen Bericht.

In den deutschen Nachrichten wie in Efraims Gesprächen sind die englischen Wörter zahlreich. Viele englische Ausdrücke sollen den Orten und Figuren der Fiktion Lokalkolorit verleihen (wie die häufigen Lokalnamen, Zeitschriften, Plakate und Reklamen). Was Keir zur Verkörperung Englands macht, sind die an der Universität Cambridge studierten Fächer, Classical Tripos, und die Erfahrung beim Political Intelligence Department of Foreign Office. Efraims Frau, Meg, spricht den Dialekt des Potteries-Gebiets und benutzt Ausdrücke wie slip und slop, die typisch für die Arbeiterklasse sind.

Gegen die Verarmung der deutschen Sprache, die in der Nachkriegszeit als bloßes Kommunikationsmittel dient, braucht Efraim englische Begriffe als Beispiele von Flexibilität und Eleganz. Durch das Wort fairness kann er die mehreren Qualitäten des Programms seines Kollegen in den Vordergrund rücken: die Hochachtung der Engländer vor den belagerten deutschen Soldaten während des Krieges (Gerechtigkeit), die typische Objektivität des Journalismus in der Darstellung der untersuchten Ereignisse (Unparteilichkeit) und die abgewogene Haltung Keirs, der die Schuld seiner Tochter gegenüber durch die journalistische Aktivität auszugleichen versucht (Angemessenheit). Auch der Ausdruck story erscheint auf Grund seiner semantischen Vielfältigkeit: Er bezeichnet den Plot eines Filmes, die Wechselfälle von Anna Krystek und die Zeugenaussage von Mutter Ludmilla. Die Wendung a decent life ist dagegen ein englisches Bedürfnislehnwort, das einen spezifischen sozialen Kontext hervorhebt: ein vom Mittelstand bewohntes Quartier, in dem man ein ‘ehrbares’ bürgerliches Leben führen kann, das in Deutschland nicht existiert.

Die Amerikanismen unterscheiden sich von den Britizismen, indem sie danach streben, die ‘Amerikamanie’ in Nachkriegsdeutschland aufzuzeigen, die die schwankende deutsche nationale Identität bedroht. Als Folge der Annäherung Deutschlands an die USA, die sich durch den Eintritt in die Nato, die Beteiligung am Kampf gegen den Kommunismus und die Verbreitung der Jazzmusik und der amerikanischen Literatur zeigt, setzen sich mit Beginn der fünfziger Jahre viele Besatzerwörter in der deutschen Sprache durch. Es handelt sich um Lexeme, die typische Tätigkeiten, Werte und Sitten der amerikanischen Kultur bezeichnen und in der deutschen Sprache übermäßig verwendet werden.

Efraim wählt die charakteristischsten Lehnwörter, um verschiedene Formen der Angleichung zu zeigen. Zum Beispiel ist das Wort job semantisch angepasst, indem es das kurze berufliche Gewerbe kennzeichnet, das nur zum Verdienen ohne Aufstiegsabsicht ausgeübt wird und sich vom deutschen Begriff ‘Beruf’ unterscheidet, der eine dauerhafte Arbeit benennt, mit der man sich identifiziert. Ein anderes Beispiel für dasselbe Phӓnomen ist das Wort „feuern“, das neben der Bedeutung „heizen“ den anderen Gehalt „entlassen“ durch Lehnschöpfung aus der englischen Sprache, to fire, annimmt.

Er verweist außerdem auf die vollkommene Angleichung der Fremdwörter in den Mischkomposita, wie sound-Scholastiker, um eine spezifische Klangfarbe, die von Rock oder Jazz, zu bezeichnen. Eine andere in den Besatzungsjahren sehr oft verwendete Kompositumform, die aus der amerikanischen Sprache entlehnt worden ist, besteht in der Benutzung von Akronymen, bei Parteien (CDU-; SPD-), Nationen (US-; DDR-) oder Nachrichtenagenturen, wie bei dem Neologismus AP-Büro, mit dem Efraim die amerikanische Agentur in New York, die Associated Press, bezeichnet.

4. Innovation und Tradition im Roman Efraim

Was die Form betrifft, ist Efraim Anderschs überzeugter Kampf gegen die sogenannte ‘Krise des Romans’. In den 50er und 60er Jahren emanzipiert sich der Roman von der Tradition, indem er auf den beschreibenden Realismus, die Subjektivität des Erzählers, der sich jetzt nur mit ästhetischen Gedanken beschäftigt, verzichtet. Die Figuren als fragmentarische Personen, die mechanische und instinktive Beziehungen zueinander pflegen, akzeptieren ihr Schicksal passiv und existieren nicht mehr als Individuen, sondern in der Kollektivität.

In diesem Roman spielt der Erzähler noch eine bedeutende Rolle, indem er den Leser führt und die Bedeutung der Figuren erläutert. Durch die Erfahrungen des Protagonisten enthüllt er dem Publikum die chaotische Existenz des heutigen Menschen, der nicht mehr dazu fähig ist, die Ereignisse seiner Welt zu verstehen oder zu beherrschen, wie es der Holocaust beweist, dessen Zeit und Opfer vӧllig unvorhersehbar und unerklärlich gewesen sind.

Dem Leser wird der komplexe Reifeprozess des fiktiven Autors offenbar, vom distanzierten, in der dritten Person sprechenden Reporter, zum betroffenen Romanschriftsteller, der in der ersten Person private Ereignisse darstellt. Dieser Reifeprozess entspricht dem Vertrag mit dem Verlag: Efraim fängt an, die Bedürfnisse des Publikums zu berücksichtigen, das durch die Stimme des Verlegers und des Herausgebers spricht. Infolgedessen kommen Erzählzeiten, -orte und -weise den Lesererwartungen entgegen: Die beschreibenden Abschnitte dienen dazu, das Publikum besser über Figuren und Handlungsorte zu informieren.

Andersch realisiert sein literarisches Ideal in diesem Roman, indem er bedeutsame historische Fakten darstellt, wie den Holocaust, den Kalten Krieg oder die Remigration, die das Publikum dazu anregen, sich geschichtliche Ereignisse und Zeitzeugnisse bewusst vor Augen zu halten, um die Realität kritisch betrachten zu lernen. Dabei hilft auch die verfremdende Perspektive des Protagonisten, der sich, wo immer er ist, als Außenseiter bezeichnet, wodurch er für Neuerungen sehr empfänglich und in der Beobachtung vorurteilsfrei ist.

Der psychologische englische Roman gilt Andersch als Muster, weil er wesentliche Merkmale der erzӓhlenden Prosa behält, die die Literatur der ‘Krise’ aufgegeben hat. Er ist gerade durch einen realistischen Stil gekennzeichnet, der nach der Abbildung der Vielfältigkeit der menschlichen Beziehungen, des Innenlebens und der Widerspiegelung der Lebenserfahrung des Autors strebt. Unter den zahlreichen Vertretern der englischen Literatur wählt Andersch in diesem Roman zwei Autoren, Virginia Woolf und Henry James, deren Bücher A Writer’s Diary (1953) und English Hours (1905) Efraim in der Londoner Buchhandlung Dillon kauft. Beide haben eine ästhetische Theorie und Praxis ausgearbeitet, die dem Roman-Ideal Anderschs sehr nahekommt.

Eine Hommage an den amerikanisch-britischen Autor ist in Anderschs Roman der Hinweis auf die Landschaften der Essay-Sammlung English Hours: Efraim bewegt sich in denselben Londoner Parks und Stadtteilen zwischen Notting Hill und White Hall, die in dem Text von James beschrieben sind. Das Motiv der zwei untrennbaren Freunde dieses Romans ist James zu verdanken: In den Notebooks erzӓhlt er die Geschichte von zwei befreundeten Kollegen mit großem Altersunterschied, einer davon mit militärischer Erfahrung. Der Protagonist von Anderschs Roman ist auch ein Heimatloser, eine Figur, die man in vielen internationalen Romanen von James findet.

In den essayistischen Schriften und den Romanen Woolfs verwirklicht sich die ‘humane’ Erzählweise, von der Andersch in seinen Essays oft schreibt. In Modern Fiction (1925) verbündet sich die englische Schriftstellerin mit James im Kampf gegen die Autoren des Beginns des Jahrhunderts, deren Werke auf den sozialen Kontext beschrӓnkt sind. Sie glaubt, dass Literatur jene Augenblicke des zufälligen Alltagslebens darstellen soll, die das menschliche Bewusstsein vorantreiben können, auf dass die Menschen nach dem Sinn ihres Lebens suchen.

Im Text The Character in Fiction (1924) klagt Woolf über das Interesse ihrer Kollegen am Ort, in dem sich die Figuren bewegen, und das mangelnde Interesse an den Figuren selbst. Sie betrachtet deswegen ihre Werke als ausgezeichnet bebaute, aber ganz unbemannte Häuser. In diesen Texten nimmt der Autor eine Außenperspektive ein, die ihm nicht erlaubt, die Innenwelt der Figuren zu betreten. Als innovatives Schreibmuster schätzt sie dagegen De Quinceys Biographie, in der sie die perfekte Zusammenkunft von Ereignissen und Handlung, Außen- und Innenwelt sieht. Vorrangig ist für die Offenbarung der echten Identität der Hauptfigur die Darstellung der sogenannten moments of being, Augenblicke, die durch große gefühlsmäßige Beziehungen des Individuums charakterisiert sind: jene Erfahrungen, die einzelne, scheinbar unlogische Assoziationen hervorbringen.

Andersch wählt auch deswegen den wesentlichsten Zeitraum im Leben Efraims, den Berliner Aufenthalt, weil er eben während dieser zwei Wochen in der deutschen Hauptstadt seine Erinnerungen hervorholt und seine jüdische Abstammung akzeptiert, um seine radikale Nichtzugehörigkeit zu erkennen und sich schließlich für Rom als Niemandsland zu entscheiden.

Literatur

Primӓrliteratur

Andersch A., Norden Süden rechts und links. Von Reisen und Büchern 1951-1971, Diogenes, Zürich 1972.

Andersch A., Alfred Andersch Gesammelte Werke in zehn Bänden, D. Lamping (hrsg. von), Diogenes, Zürich 2004.

Andersch A., Ein Pappkarton wird geöffnet, in „Hier und Heute. Wochenschrift“, I (1951), S. 16-18.

Andersch A., Wind und englisches Eichenholz. Gespräche und Erinnerungen in Dover, in Hessischer Rundfunk (30. August 1953), Manuskript aus dem Andersch-Archiv, Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Johannes Gutenberg Universität Mainz.

Andersch A., Versuch über das Feature. Anlässlich einer neuen Arbeit Ernst Schnabels, in „Rundfunk und Fernsehen“, I, 1 (1953), S. 94-112.

Andersch A., Radio-Essay. Leitartikel (1955), in „Funkkurier. Informationen des Süddeutschen Rundfunks für Presse, Kritiker und Rundfunkfreunde“, XXXII, (1955), S. 2.

Andersch A., Das Kino der Autoren, in „Merkur“, XIV, 4 (1961), S. 332-348.

Andersch A., Über den Gebrauch zweier Wörter in einem Roman. Gedicht in vier Teilen (1963), in I. Heidelberger-Leonard,V. Wehdeking (hrsg. von), Alfred Andersch. Perspektiven zu Leben und Werk, Westdeutscher Verlag, Opladen 1994, S. 226-228.

Andersch A., Vergebliche Brautschau. Bilder aus dem Leben eines Playboys, in Südwestrundfunk (1963), Manuskript aus dem Andersch-Archiv, Instituten für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft Johannes Gutenberg Universität Mainz.

Andersch A., Der Pfarrer ohne Klavier und andere arme Leute in London, in Abendstudio beim Hessischen Rundfunk (18. Februar 1965), Manuskript aus dem  Andersch-Archiv, Instituten für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft Johannes Gutenberg Universität Mainz.

Andersch A., On the short List (1968), in „Times Literary Supplement“, 12. September 1968, S. 981-982.

Andersch A., Bedlam oder das stille Tollhaus. Aufzeichnungen in London, in Südwestrundfunk (29. Oktober 1969), Manuskript aus dem Andersch-Archiv, Instituten für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft Johannes Gutenberg Universität Mainz.

Andersch A., Mein Lesebuch oder Lehrbuch der Beschreibungen (1978), Fischer, Frankfurt a.M. 1978.

Sekundӓrliteratur

Aizawa K., Zwischen der ‘Nachkriegsliteraturʼ und dem ‘Tod der Literaturʼ. Die Schwierigkeiten zu erzählen, am Beispiel von Alfred Andersch, in R. Schnell und B. Ebert (hrsg. von), Sprachproblematik und ästhetische Produktivität in der literarischen Moderne, Iudicium, München 1994, S. 109-110.

Bargelli R., Die deutsche Nachkriegsliteratur und der italienische Neorealismus. Alfred Anderschs Reisebericht Aus einem römischen Winter, in R.G. Czapla, A. Fattori (hrsg von), Die verewigte Stadt. Rom in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, Peter Lang, Bern/Berlin 2008, S. 153-162. 

Battafarano I.M., Eilert M., Von Linden und roter Sonne. Deutsche Italien-Literatur im 20. Jahrhundert, Peter Lang, Bern 2000.

Heidelberger-Leonard I., Alfred Andersch: Die ästhetische Position als politisches Gewissen. Zu den Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Wirklichkeit in den Romanen, Peter Lang, Frankfurt a.M./Bern/New York 1986.

Jendricke B., Alfred Andersch, Rowohlt, Hamburg 1988.

Lamping D., Die Darstellung von Juden in der west-deutschen Nachkriegsliteratur. Das Beispiel Alfred Anderschs, in „Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft“, VI, (1997), S. 233-4.

Reinhardt S., Alfred Andersch. Eine Biographie, Diogenes, Zürich 1996.

Schütz E., Alfred Andersch, Beck, München 1980.

Wehdeking V., Alfred Anderschs Leben und Werk aus der Sicht der neunziger Jahre: eine Problemskizze, in I. Heidelberger-Leonard, V. Wehdeking (hrsg. von), Alfred Andersch. Perspektiven zu Leben und Werk, Westdeutscher Verlag, Opladen 1994, S. 13-31.

Wittmann L., Alfred Andersch, Kohlhammer, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1971.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz