Terror im Jerusalem des Jahres 1946

Stewart O‘Nan weiß zu viel über die „Stadt der Geheimnisse“

Von Karl-Josef MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Josef Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 22. Juli 1946 sterben im King David Hotel in Jerusalem mindestens 91 Menschen durch einen Bombenanschlag. Verantwortlich für das Attentat ist die Terrororganisation Irgun unter Leitung von Menachem Begin, der 1978 gemeinsam mit Ägyptens Präsident Muhammad Anwar as-Sadat den Friedensnobelpreis erhalten wird. Unter den Opfern des Anschlags sind 17 Juden, 48 Araber und 28 Briten. Die Irgun kämpft für einen unabhängigen jüdischen Staat – auch mit Gewalt, wie nicht nur der blutige Anschlag auf das Hotel belegt.

Dieser Terroranschlag bildet den historischen Hintergrund und Höhepunkt des Romans von Stewart O‘Nan. Der US-amerikanische Autor lässt seine Leser die damaligen Ereignisse aus der Perspektive des Taxifahrers Brand erleben. Dieser stammt aus Lettland, wo er als Jude „zuerst von den Russen, dann von den Deutschen, dann wieder von den Russen interniert“ wurde. Seine komplette Familie wurde ermordet, er selbst macht sich auf den Weg nach Palästina und wird, von der jüdischen Untergrundorganisation mit falschen Papiere ausgestattet, Taxifahrer. Der Romantitel Stadt der Geheimnisse verweist auf die klandestine Arbeitsweise des jüdischen Untergrundes im Kampf gegen die britische Mandatsmacht. Doch auch Brand, eher randständiges Mitglied der Terrororganisation, wird kaum in deren Pläne eingeweiht. Er ist ein eher kleines Rädchen im Uhrwerk der Gewalt und auf Vermutungen angewiesen, wann und wofür er zum Einsatz kommen wird.

Mehr wollen wir vom Inhalt des Romans nicht preisgeben. In seiner Danksagung nennt Stewart O‘Nan nicht nur die Quellen, denen er für die Recherchen zu seinem Roman verpflichtet ist, sondern skizziert auf etwa einer halben Seite auch kurz die Vorgeschichte des Konfliktes, „der diesen Roman in Gang setzt und den Rahmen für seine Handlung bildet“. O‘Nan erwähnt das MacDonald-Weißbuch aus dem Jahr 1939, in dem die britische Mandatsmacht die Zuwanderung jüdischer Siedler nach Palästina auf 75.000 in den kommenden fünf Jahren beschränkt. Weiter heißt es in diesem Text: „II/13/3: Nach fünf Jahren wird keine jüdische Einwanderung mehr gestattet, es sei denn, die Araber Palästinas wären hierzu bereit.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Weißbuch_von_1939) Damit relativierte Großbritannien das Versprechen der Balfour-Deklaration aus dem Jahr 1917, in welcher den Juden „die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“ zugesagt worden war. (https://de.wikipedia.org/wiki/Balfour-Deklaration) Von diesem Versprechen ist im Nachwort des Romans wie im Roman selbst nicht die Rede.

Dass O‘Nan überhaupt die im Roman geschilderten Ereignisse im Nachwort erläutern muss, verweist auf ein Dilemma, dem sich der Text nur unzureichend gewachsen zeigt. Denn kaum ein weltpolitisch bedeutsames Ereignis dürfte ähnlich komplexer Natur sein wie die Gründungsgeschichte des Staates Israel. Wohl auch deshalb beschränkt sich Stewart O‘Nan darauf, eine kurze Episode im jüdischen Kampf um einen eigenen Staat in den Blick zu nehmen. Auf gut 200 Romanseiten versucht der Autor, dem damaligen Geschehen nahe zu kommen. Eine tragische Liebesgeschichte darf dabei natürlich nicht fehlen, aber es will O‘Nan einfach nicht gelingen, den Leser in den Bann zu ziehen. Einer und wohl der wesentliche Grund für dieses Scheitern liegt in der Unfähigkeit, Atmosphäre zu erzeugen, anstatt sie nur zu benennen. „Brand befürchtete, sein überraschtes Gesicht könnte ihn verraten.“ Wenige Zeilen später heißt es: „Jetzt versuchte Brand, überrascht zu tun.“ Anstatt mit literarischen Mitteln zu arbeiten, beschränkt sich der Autor auf Mitteilungen an seine Leser. Er beschreibt nicht das Gesicht, das versucht, ein Gefühl zu verbergen, sondern nennt es einfach ein „überraschtes Gesicht“.

In der Danksagung erwähnt Stewart O‘Nan neben anderen Schriftstellern auch den im Januar dieses Jahres verstorbenen Aharon Appelfeld. Er bedankt sich für ihr „reiches Œuvre, besonders ihre Schriften, die das Jerusalem jener Zeit betreffen“. Wer das Werk von Appelfeld kennt, kann dem Lob von O‘Nan nur zustimmen. Egal welches Buch von Appelfeld man aufschlägt und zu lesen beginnt, immer beeindruckt der Autor den Leser mit seinem ganz eigenen, fast magisch zu nennenden Stil.

Dem Roman Stewart O‘Nans will dies nicht gelingen. Eine Behauptung reiht sich an die nächste, etwa wenn schwermütiges Gebell von einem einsamen Hund stammt. Dem Leser bleibt nichts anderes zu tun als hinzunehmen, dass es so ist, wie der Autor es behauptet. Ihm, dem Leser, bleibt kein Geheimnis zu entdecken, seine Phantasie wird unterfordert, weil O‘Nan ihm ja jederzeit genau (vor)sagt – oder sollten wir besser sagen: vorschreibt? – wie es sich mit den im Roman geschilderten Ereignissen verhält. Der Autor geriert sich als allwissender Erzähler, der genau weiß, wie es um die damalige Welt im Kleinen wie im Großen bestellt ist. Man merkt die Absicht und ist, wenn auch nicht verstimmt, so doch enttäuscht.

Anmerkung: „Jerusalem 1947: Der zweite Weltkrieg ist vorbei, die Staatsgründung Israels steht unmittelbar bevor.“ So beginnt der Klappentext der vorliegenden Rowohlt-Ausgabe, der gleiche Wortlaut findet sich auf der Homepage des Verlages (https://www.rowohlt.de/hardcover/stewart-o-nan-stadt-der-geheimnisse.html). Diese Zeitangabe ist definitiv falsch. Der Anschlag auf das King David Hotel ereignete sich im Jahr 1946, wie dies die Washington Times in ihrer Besprechung der 2016 in den U.S.A. erschienenen Erstausgabe korrekt schildert: „In 1946, when ‚City of Secrets‘ takes place, Palestine was a British Mandate riven with violent acts perpetrated by the Jewish underground — the pro-violence Irgun, a Zionist paramilitary organization, and the somewhat less violent Haganah.“ (https://www.washingtontimes.com/news/2016/may/26/book-review-city-of-secrets/)

Titelbild

Stewart O'Nan: Stadt der Geheimnisse. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Thomas Gunkel.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018.
222 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783498050443

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