Denk-Körper im Dialog

Jean-Luc Nancy und Alain Badiou im Gespräch über deutschsprachige Philosophie und ihren Einfluss auf das französische Denken

Von Jo BalleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jo Balle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die deutschsprachige Philosophie wurde im europäischen Ausland nach Ende des Zweiten Weltkriegs auf ambivalente Weise rezipiert. Während sie in der angelsächsischen Welt gelegentlich mit dem polemischen Begriff einer „armchair philosophy“ bedacht wurde, beginnt in Frankreich eine äußerst fruchtbare, systematische Auseinandersetzung. Dabei steht zunächst das Trikolon der sogenannten „trois H“ – also Georg Wilhelm Hegel, Edmund Husserl, Martin Heidegger –, des Weiteren aber auch Immanuel Kant, Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Theodor W. Adorno und Hans-Georg Gadamer im Zentrum des Interesses. Namhafte französische Philosophen verdanken diesen Denkern substantielle Anregungen für ihre eigenen Überlegungen. Das gilt, um nur einige der prominenteren Namen zu nennen, für Jean-Paul Sartre, der den Einfluss der Phänomenologie auf sein philosophisches Werk stets betonte, ebenso wie für Jean-Francois Lyotard, Michel Foucault, Michel Henry, Jacques Derrida, Gilles Deleuze und andere. Dasselbe gilt für die Philosophen Jean-Luc Nancy und Alain Badiou selbst, die in ihrem Gespräch unter dem Titel Deutsche Philosophie die Originalität des deutsch-französischen Diskurses in beeindruckender Weise demonstrieren.

Beide Philosophen betonen den nachhaltigen Einfluss der deutschsprachigen Philosophie auf das französische Denken des 20. Jahrhunderts. Gleichwohl aber zeigt sich auch das Spezifikum der französischen Philosophie: ihre außerordentliche Kreativität und Originalität im Prozess der Auseinandersetzung. Selten hat man es mit einer bloßen Übernahme zuvor entwickelter Lehrmeinungen zu tun. So setzt sich etwa der junge Derrida in seiner Abhandlung Die Stimme und das Phänomen in scharfsinniger und zugleich fantasievoller Weise mit Husserls Logischen Untersuchungen auseinander. Dass er damit auch einen perfekten wissenschaftlichen Traktat vorlegte, sei hier ausdrücklich betont. Dasselbe gilt für Maurice Merleau-Ponty oder Michel Henry, die ihrerseits die Grundideen der deutschen Phänomenologen aufgreifen, diese jedoch in so erfrischender Weise weiterentwickeln, dass man keineswegs von einer Adaption sprechen sollte, sondern im Gegenteil von der genuinen Anverwandlung philosophischer Gedanken.

Man könnte einwenden, dass diese Form der Auseinandersetzung, die ihrerseits neue Erkenntnisse generiert, typisch für die Philosophie insgesamt sei. Doch auch wenn dem zuzustimmen ist, sollte man darauf hinweisen, dass dies nur selten in dieser Originalität, Breite und innerhalb einer vergleichbar kurzen Zeitspanne erfolgt ist. Man könnte geradezu von einer goldenen Zeit der Philosophie im Paris der Nachkriegsjahre sprechen – vergleichbar mit der Epoche des Deutschen Idealismus in Jena und Berlin. Die Bezeichnungen, die man in der Philosophiegeschichte hierfür findet, sind indessen disparater Natur: Da ist einerseits von Existentialismus die Rede, andererseits von Poststrukturalismus oder Postmoderne. In jedem Fall handelt es sich um eine außergewöhnlich produktive Epoche, der die Gesprächspartner Nancy und Badiou in einem weiten Sinne zugehören.

Drei systematische Problemfelder prägen in diesen Jahren die philosophische Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Frankreich: Subjektbegriff, Sprache, Rationalität. Namentlich im Werk Heideggers finden sich erste Anklänge der im 20. Jahrhundert und für die französische Philosophie so zentralen These der Überwindung des Subjektes. Zunächst stellte sich diese Idee als Provokation gegen die universitären Lehrsysteme dar. Heidegger betrachtete sich als philosophischen Revolutionär und so wurde er in den 1930er Jahren auch wahrgenommen. 

Mit dem Gedanken einer Subjektüberschreitung verband sich zunächst, etwa im Umfeld des literarischen Expressionismus, auch der Name Nietzsche. Heidegger hat dessen Einfluss auf sein Denken nie bestritten. Im Gegenteil betonte er dessen Bedeutung ausdrücklich. Die Temporalisierung des Sinns von Sein bei Heidegger indessen und seine Neuinterpretation der menschlichen Existenz als ein In-der-Welt-sein statt eines transzendentalen Subjektes kennzeichnen genuine Neu-Ansätze seines Werkes und sind Ausgangspunkte einer Debatte, die bis in unsere Tage reicht. Heidegger schien die althergebrachte Philosophie, die sich im Spagat zwischen Subjekt und Objekt systematisierte – indem er sowohl Hegel‘sche als auch Husserl‘sche Überlegungen radikalisierte – auf ein neues Fundament zu stellen. Dass er hier in vielfacher Weise von der Tradition seit Platon und Aristoteles inspiriert war, verhehlte er selbst nie. In Frankreich wiederum war dieser Denkweg nicht nur für die Phänomenologen Sartre und Merleau-Ponty, sondern ebenso für Derrida, Deleuze, Henry und andere richtungsweisend.

Dass sich das Individuum, Heidegger zufolge, immer schon außer-sich befindet, um in einer praktisch „zuhandenen“ Welt Orientierung zu finden, dieser dynamische Gedanke lässt die scholastische Subjekt-Objekt-Trennung hinter sich. Mehr noch, dass der Mensch als „Dasein“ ein nicht-begriffliches Vor-Verstehen in Form einer existentialen Stimmungsabhängigkeit besitzt, das in praktischer Hinsicht als Sinn-Erfassen innerhalb eines Weltzusammenhanges gedacht wird – dies musste auf die ersten Leser von Sein und Zeit wie philosophischer Sprengstoff wirken. Noch viele Jahre später sind die Einflüsse dieser Revolution etwa auf Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung nicht zu übersehen. Gleichwohl sind hier auch Anleihen an Hegels dialektische Dynamisierung des Seinsbegriffs zu erkennen: Die Transzendenz des Daseins zeigt sich zumal in ihrer temporalen Ekstasis, was dazu führt, auch liebgewordene Lehrmeinungen über die Natur der Erkenntnis einer Revision zu unterziehen. Eine Herausforderung, der sich die französische Philosophie der Nachkriegszeit in unermüdlicher Weise annahm; man denke etwa an die Werke Deleuzes.

Das zweite Problemfeld, das Nancy und Badiou hervorheben, betrifft die Bedeutung der Sprache für die deutsche Philosophie. Beide betonen, in welch enger verwandtschaftlicher Beziehung Sprache und Gedanken im deutschsprachigen Philosophieren stehen. An Heidegger schließt sich bekanntermaßen Gadamers Hermeneutik an, der ihrerseits die Sprache nicht nur als bloßes Mittel, sondern als Dimension des historischen Sinn-Verstehens auffasste. Die Auseinandersetzung zwischen Gadamers hermeneutischem Ansatz und Derridas Dekonstruktion bildet bis heute eine historische Wegmarke der deutsch-französischen Philosophiegeschichte. Man möchte indessen, über das Gespräch hinausgehend, ergänzen, dass auch die phänomenologisch-analytische Denktradition von Bernard Bolzano über Husserl und Gottlob Frege bis Ludwig Wittgenstein die sprachliche Analyse als neues „fundamentum inconcussum“ der Analyse von Bewusstseinsinhalten und Aussagenwahrheiten betrachtete.

Auch der dritte Aspekt befruchtete das französische Philosophieren, zumeist jedoch in kritischer Hinsicht. Hier sind an die rationalitätstheoretischen Überlegungen der zweiten Generation der kritischen Theorie zu erinnern – an prominenter Stelle sei hier der Name Jürgen Habermas erwähnt, der bei Nancy und Badiou nicht vorkommt. Die Frage nach Wesen und Status des Vernunftbegriffes war eine stetige Quelle der Auseinandersetzung zwischen der französischen und der deutschen Philosophie, wobei man, in einem Wort gesagt, die Kritik am tradierten Rationalitätsbegriff, die sich von Nietzsche oder Heidegger her denken lässt, auf französischer Seite gegen die Diskursrationalität eines Habermas oder  Karl-Otto Apel in Stellung brachte. Hier wäre an Foucault zu erinnern, der – inspiriert von Nietzsche und Heidegger – im Vernunftbegriff ebenfalls eine Selbstermächtigung des Subjektes erkannte. Foucault zeigt in seinen detailreichen Analysen zum Wahnsinn oder zur Strafkultur in den westlichen Gesellschaften, inwiefern Rationalität ein Instrument der Gewalt ist, und nur selten in substantieller Weise als Prozess der Selbstaufklärung in Erscheinung trat. Stattdessen erwies sich die instrumentelle Rationalität zumeist als Dienerin herrschaftlicher Ideologien.

Jan Völker, der den Band herausgegeben und übersetzt hat, erörtert in seinem klugen Nachwort das Wesen des philosophischen Gespräches. Völker dekonstruiert im besten Sinne den Begriff eines spezifisch philosophischen Dialoges, um das hierdurch erwirkte Paradoxon zwar nicht aufzulösen, jedoch auf eine neue Ebene zu führen. Völker zufolge aktualisiere der philosophische Dialog einen „Denkkörper“, der zugleich die Aufforderung beinhaltet, das Gedachte in einer kreativen Weise neu zu denken.

Der Dialog zwischen Nancy und Badiou ist ein Glücksfall philosophischer Publikationen der vergangenen Jahre, da die beiden eine bemerkenswerte Kostprobe ihres philosophischen Temperamentes und ihrer spekulativen Fantasie demonstrieren – beides Tugenden, die in der universitären Philosophie wenig Wertschätzung erfahren. Insbesondere begeistert die Lebendigkeit ihres Gespräches, weshalb die Leserin den Eindruck gewinnt, als höre sie den Philosophen direkt beim Sprechen zu, sodass, in Abwandlung Heinrich von Kleists, behauptet werden kann, dass sich hier die Gedanken beim Reden in einer äußerst produktiven Weise entwickeln. Eine Denk-Freude, die sich beim Lesen überträgt, da sie den Horizont erweitert – sofern dieser Begriff aus dem Umfeld der Hermeneutik gestattet ist.

Titelbild

Alain Badiou / Jean-Luc Nancy: Deutsche Philosophie. Ein Dialog.
Herausgegeben, aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Jan Völker.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017.
111 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783957573506

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