Ins Herz der eigenen Gegenwart

Wolfram Eilenbergers „Zeit der Zauberer“ als Maßstäbe setzendes philosophisches Sachbuch

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Hätte Davos nicht tatsächlich stattgefunden, zukünftige Ideenhistoriker hätten es im Nachhinein erfinden müssen“, schreibt Wolfram Eilenberger, gewiss mit Recht, auf Seite 25 seines Buches Zeit der Zauberer – und meint damit sich selbst. Davos hat allerdings tatsächlich stattgefunden. Welche Szene der deutschen Philosophiegeschichte wäre öfter herangezogen worden, um die „geistige Lage“ der 1920er Jahre und die der Weimarer Intellektuellen zu illustrieren, als eben dieses Aufeinandertreffen von Ernst Cassirer und Martin Heidegger auf dem Zauberberg, außer vielleicht das von Settembrini und Naphta? Eilenberger also darf sich das Neuerfinden sparen und sich auf das Ausschmücken beschränken, und das gelingt ihm bravourös. Dass das Davoser Aufeinandertreffen vom März 1929, die personifizierte hanseatisch-großbürgerliche Philosophie auf der einen, die existenzialistisch-antiliberale Philosophie auf der anderen Seite, im Prolog zu Eilenbergers Buch nicht fehlen kann, versteht sich daher von selbst. Es hat auch seinen Reiz, wenn er sich Walter Benjamin, zu dieser Zeit eine akademisch-philosophische „Non-Entität“, als Korrespondenten in die Davoser Szenerie hineinimaginiert.

Dies alles steht im Prolog zu Zeit der Zauberer jedoch streng genommen erst an nachrangiger Stelle – dafür umso ausführlicher. Den eigentlichen Auftakt des Buches nimmt eine andere Disputation ein, die nämlich, durch welche Ludwig Wittgenstein, aus dem Exil als Volksschullehrer, Gärtner und Architekt im heimischen Österreich ins Herz der angelsächsischen Gelehrsamkeit zurückkehrendes Genie, in Cambridge seinen nachträglich zur Dissertationsschrift erklärten Tractatus verteidigt. Bertrand Russell und G.E. Moore sind die mit dem Prüfling sympathisierenden, aber im Grunde doch überfordernden Gutachter, die Wittgenstein den Weg zurück in die akademische Philosophie bahnen wollen. Nachdem er bereits 1918 seinen Tractatus mit der Überzeugung beendet hatte, alle Probleme des Denkens im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben, beendet er nun seine Prüfung –  so heißt es – mit den Worten: „Macht euch nichts draus, ich weiß, ihr werdet das nie verstehen.“ Bis heute müsse wohl ein jeder Doktorand der Philosophie in der Nacht vor der Prüfung von diesem Satz träumen, meint Eilenberger.

Mit Cassirer und Heidegger, Benjamin und Wittgenstein sind die vier Hauptpersonen versammelt: Zeit der Zauberer ist eines der großen Sachbücher unter den Neuerscheinungen auf dem deutschsprachigen Buchmarkt dieses Jahres. Ohne Zweifel jedenfalls ist es, inzwischen nahezu überall gerühmt – mag auch mancher Gelehrte in standesgemäßem Snobismus die Nase rümpfen – und mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet, das philosophische Sachbuch des Jahres. Wolfram Eilenberger selbst, der frühere Herausgeber des Philosophie Magazins, hat nicht zufällig Anfang dieses Jahres, parallel zum Erscheinen seines Buches, der deutschen Universitätsphilosophie ihre Neigung zur akademischen Nabelschau jenseits öffentlicher Relevanz und Beachtung unter die Nase gerieben. Einmal abgesehen davon, dass er es sich mit diesem Urteil natürlich recht bequem machen kann –  seit wann würden es die universitären Geisteswissenschaften hierzulande ihren halb draußen stehenden Kritikern denn auch schwermachen, sie für weltfremd und erschlafft zu halten? –, liegt gewiss ein Körnchen Wahrheit in dieser Kritik.

Wie dem auch sei, so ist Eilenberger doch eine beeindruckende zeit- und biografieorientierte Darstellung gelungen. Das verdient einerseits Bewunderung und dürfte wohl andererseits auch der Universitätsphilosophie nicht zum Schaden gereichen. Seine Protagonisten – Cassirer und Heidegger, Benjamin und Wittgenstein –, denen er von 1919 bis 1929 folgt, sind hier einerseits ganz sie selbst: mit ihren persönlichen und geistigen Entwicklungen, mit ihren Ehefrauen und Liebschaften, ihren Erfolgen und Karrierekrisen. Leben und Werk der vier gewissermaßen parallel oder abwechselnd zu erzählen, bildet den zwar im Grunde nicht sehr originellen, aber hier konsequent zu Ende gebrachten Kunstgriff des Buches. Alle vier werden andererseits natürlich auch repräsentativ gelesen, als Vertreter deutscher Kultur und Intellektualität, ihrer Disziplin insbesondere, in diesem einen Jahrzehnt der Weimarer Republik zwischen Weltkrieg und Wirtschaftskrise, das für die Republik nach 1945 zum ewigen Menetekel geworden ist. Diese Jahre, die Zeit genug boten für Republikgründung und Versailler Vertrag, Inflation und Bürgerkrieg, Putschversuche und Koalitionsregierungen, Goldene Zwanziger und Schwarzen Freitag, scheinen uns bald 100 Jahre später so nah wie eh und je: Was wir da über die Zeit neun, zehn Jahrzehnte vor unserer Zeit, was wir über die namhaften, repräsentativen Philosophen dieser Zeit lesen, meint es nicht eigentlich uns?

Diese stets mitschwingende Frage vermag natürlich leicht von den Einwänden abzulenken, die man gegen das Buch vorbringen könnte. Das betrifft weniger die letztlich willkürliche Auswahl von Personal und Zeitraum als die bereits erwähnte Konventionalität der Darstellung: Zeit der Zauberer lässt seine Protagonisten über weite Strecken mehr oder weniger parallel nebeneinander herlaufen und handelt sie dabei mit chronologischer Disziplin ab, ohne diese implizite Vervierfachung der nach dem Prolog des Jahres 1929 zehn Jahre zuvor einsetzenden Kapitelfolge auffällig horizontal aufzubrechen. Das ist gewiss die eingängigste Form, eine Vierpersonenphilosophiegeschichte zu erzählen, verweist aber womöglich auch auf die schlicht fehlende Verbundenheit dieser Akteure. Immerhin kreuzen sich die Wege Cassirers und Heideggers in Davos; im Übrigen aber berühren sich die Lebensläufe der vier kaum. Und natürlich ist auch nicht zu verkennen, wo die Sympathien des Autors eigentlich liegen.

Die Jahre zwischen 1919 und 1929 sind so nun auch das „große Jahrzehnt der Philosophie“. Demgegenüber muss die Gegenwart natürlich den Kürzeren ziehen, zumindest in dieser verdichteten und existenziell aufgeheizten Darstellung – wo doch jeder Leser weiß, welchen Verlauf die Geschichte der vier Protagonisten des Buches nur wenige Jahre später nehmen sollte. Oder sollte man darüber froh sein? 1929 jedenfalls ist ein mehrfaches Symboljahr: Cassirer wird, zehn Jahre nach seiner Berufung, Rektor der Universität Hamburg und tritt in Davos als Vertreter und Verteidiger der Republik dem jüngeren Heidegger entgegen, der nur wenig später als Rektor seiner Universität an der Zerstörung dieser republikanischen Ordnung nach Kräften mitwirken wird. Es ist, zehn Jahre nach Vollendung des Tractatus, das Jahr der Rückkehr Wittgensteins in die akademische Welt, in der Walter Benjamin wiederum nie recht angekommen war. Dass man diesen vieren persönlich oder philosophisch-inhaltlich in dieser doch recht willkürlich gewählten rückblickenden Perspektive gerecht zu werden vermag, kann man natürlich nicht annehmen. Dessen ungeachtet aber ist es Eilenberger mit seiner Zeit der Zauberer gelungen, Maßstäbe zu setzen für ein anspruchsvolles philosophie- und wissenschaftshistorisches Sachbuch, das bei allem Interesse für seinen Gegenstand auch das Herz der eigenen Gegenwart trifft.

Titelbild

Wolfram Eilenberger: Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 – 1929.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2018.
400 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783608947632

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch